«Leben auf Probe»
Wie die Bühne zur Welt wird
von Thomas Oberender
Theater als Phänomen
Zu Beginn dieses Buches stand das Schauen und Staunen, was da eigentlich im Inneren des Theaters passiert. Wie eine Aufführung entsteht und womit sie die Beteiligten in Berührung bringt, nicht nur im technischen Sinne, sondern auch im Hinblick auf ihre Lebenserfahrungen, ihre Haltung zu den Texten und ihrer Gesellschaft, war die Ausgangsfrage. Wie vollziehen sich Proben, was beschäftigt Schauspieler und Regisseure und worin besteht die Eigentümlichkeit des Theaters als Institution – diesen Fragen wird in Beschreibungen nachgegangen, die unmittelbar in den Theateralltag eintauchen, von der Leseprobe bis zur Kritik, und Beobachtungen mitteilen, wie sie nur im Innenraum des Theaters und seiner Gewerke gewonnen werden können. Sie sind die Frucht vieler Monate und Jahre im Probendunkel und zugleich der sehr subjektive Spiegel meiner Lebenszeit am Theater.
In der Probe werden unsere Vorstellungen von der Welt, wie sie in Texten notiert sind oder in Konzepten erarbeitet wurden, zu den Vorstellungen, die das Theater allabendlich gibt. In der Probe wird alles zur Probehandlung – was immer geschieht, ist revidierbar und wird reflektiert und in eine erinnerbare Form gebracht, die den Abläufen der späteren Aufführung zugrunde liegt. Was sich auf den Proben vom Leben zeigt und begreifen lässt, und dass dies der comedie humaine jedes Lebens so nahe kommt, war ein anhaltendes Faszinosum, das allen nachfolgenden Texten zugrunde liegt. Letztlich bin ich dem Theater als Autor und Dramaturg über viele Jahre treu geblieben, weil dieses Leben auf Probe mir zur eigentlichen Lebensschule wurde. Und noch immer faszinieren mich Proben mehr als Aufführungen. Denn in den Dunkelkammern des Theaters entwickelt sich jenes Leben, das die Aufführungen später zeigen. Diese Entwicklung führt vom latenten Bild der Welt, wie es im dramatischen Texte überliefert ist, zur Präsenz einer Aufführung, die vor den Augen der Zuschauer stattfindet, und doch nie ganz hier und nie wirklich im reinen Jetzt spielt. Sie beruht auf der Vergegenwärtigung von Handlungen und Gestalten, die per se nicht gegenwärtig sind. Seit hundert Jahren kehrt Platonow zurück und seit zweihundert Jahren Maria Stuart. Hamlets Vater geistert seit vierhundert Jahren über die Bühne und seit zweitausend Jahren vollendet sich für König Ödipus sein Schicksal. Und so verwandeln sich unsere Theater seither in Orte wie Theben, Helsingör, in ein Schloss zu Fotheringhay oder ein Landgut in der russischen Provinz, denn was im Theater Gegenwart wird, beruht auf der Vergangenheit der Texte, die Fleisch werden im Spiel.
Im Zentrum des ersten Kapitels steht daher die besondere Rolle und Eigenart der dramatischen Literatur selbst. Sie schafft die Grundlagen dafür, dass die Bühne zur Welt werden kann. Dank der literarischen Überlieferung wird das Leben durch Proben in einer Weise geprüft und gestaltet, wie dies nur in diesem Sonderraum der Welt geschehen kann. Dies verleiht allem, was hier erscheint, eine besondere Qualität und Potenz. Und jedes Leuchten, das von der Bühne ausgeht, beruht auf einem Akt der Verbrennung des Textes in der Aufführung, durch den er seinen Wesenszustand wechselt, sich dematerialisiert und übergeht in das Verhalten einer Gruppe von Menschen. Zwar wird das Leben jedes Menschen permanent auf die Probe gestellt, wenn wechselnde Herausforderungen die Rolle, die er täglich spielt, immer wieder in Frage stellen, doch folgt das soziale Leben insgesamt einer Dramaturgie, die meist im Verborgenen bleibt. Nur im Theater ist das anders. Und zwar dank der dramatischen Texte.
Der zweite Teil des Buches schildert das eigentliche Leben auf Probe, in dessen Zentrum die Arbeit der Schauspieler steht. In verschiedenen Momentaufnahmen und Reflexionen des Probenalltags umkreist es jene Vorgänge, die sich mit der Erfindung einer Figur oder der Kreation jener Unwirklichkeit verbinden, durch die sich auf der Bühne zeigt, wie etwas wirklich ist. So werden bereits in diesen Portraits der Probenarbeit einige Eigenarten der spielerischen Welt sichtbar, deren Schilderung den Schwerpunkt im darauf folgenden Kapitel bildet. Es ist den Konturen einer Welt gewidmet, die vom Widerstreit zwischen Ereignis und Wiederholbarkeit bestimmt ist, von Anwesenheit und gleichzeitiger Ferne, sich prostituierender Darbietung und keuscher Unberührbarkeit. Die in dieser Welt erscheinenden Konflikte können von horizontaler oder vertikaler Natur sein, Grabenkämpfe oder Aufstände gegen die Verstrickung in Schuld und die eigene Sterblichkeit. Doch die Bühne hat eine eigene Qualität von Raum und Zeit, von Sozialität und der Transformation des Materiellen hervorgebracht, durch die sie diese Konflikte überhaupt erst zeigen kann. Wie sie herausdestilliert, organisiert und glaubwürdig gemacht werden, das verantworten heute im Theater vor allem die Regisseure, deren Arbeit das vierte Kapitel gewidmet ist. Regisseure beschwören jenen Geist, der, ähnlich wie Hamlets Vater, ein Wissen in die Welt bringt, durch das sich das Drama in Gang setzt. Sie vergeistigen das profane Leben im wahrsten Sinne, obgleich sie zunächst sehr bodenständig vor allem für Genauigkeit sorgen, dem Spiel einen Rahmen abstecken und die Übersicht gewährleisten. Und obwohl ich innerhalb dieses Buches immer wieder leichtfertig von ‚dem’ Theater spreche, ohne zum Beispiel die Arbeitsprozesse freier Kompanien zu berücksichtigen, beziehen sich meine Schilderungen und Gedanken lediglich auf eine Spielart des im deutschsprachigen Raum üblichen Stadttheaters. Daher steht am Schluss ein Kapitel über verschiedene mit ihm verbundene soziale und gesellschaftliche Aspekte, die größtenteils auf meinen subjektiven Eindrücken vom Leben innerhalb dieser Institution beruhen.
Insgesamt ergeben die fünf Abschnitte eine bruchstückhafte Phänomenologie der Theaterarbeit, die den Leser auf die andere Seite des roten Vorhangs führt. Die besondere Form von Gegenwart, die das Theater kennzeichnet und hervorbringt, und die weit mehr bedeutet als nur die pure Zeitgenossenschaft, ist das eigentliche Leitmotiv dieses Buches. Seine Helden aber sind die Schauspieler. Denn den Schauspielern verdankt sich in meinem Leben vieles und in diesen Kapiteln alles. Im Blick auf sie nehmen die Texte eine Außenperspektive ein, und sind doch von einer Inwendigkeit geprägt, die Distanz kaum zulässt. Denn das Wesen jeder Probe besteht in ihrem faszinierenden Versuch der Fleischwerdung einer Figur. Die eigene, fest gegründete Persönlichkeit des Schauspielers bildet dafür die Basis, von der aus er einen Stoff gestaltet und eine Figur in Welt bringt, für die er Verantwortung übernimmt. Dieser Vorgang stand weit mehr im Zentrum meines Interesses als die viel beachtete Pseudoerotik des Schauspielerberufs und anekdotische Welt der Theaterleute, die meist inzestuös und provinziell wirkt. Wer ein Stück schreibt, weiß: Die Schauspieler werden versuchen, den gesamten Text zu erleben. Jeder Satz wird von ihnen geprüft und erst durch sie, ihre Stimme und Geste, stimmig werden oder eben nicht. Dieser Prüfung wird kein Romancier ausgesetzt, kein Lyriker. Denn Schauspiele sind Spiele mit und um die Macht zwischen Schauspielern. Doch die Gewalt des Theaters tötet nicht und ihre Grundstruktur bleibt das Spiel. Diesem Wunder der Inkarnation kann sich ein Nichtschauspieler wie ich jedoch nur mit einem zarten Fremdeln nähern, das letztlich Ausdruck einer liason dangereus bleibt.
Wie bei jeder gefährlichen Liebschaft entziehen sich auch künstlerische Vorgänge in ihrem elementaren Bereich dem begrifflichen Zugriff. Und obgleich die Theaterwelt über ein reiches Arsenal an handwerklichen Begriffen und Regeln verfügt, von denen einige in diesem Buch beschrieben werden, beruht ihre schöpferische Arbeit eher auf einem bildlichen Denken und spielerischen Vorgängen. Für deren Gelingen und ihre Ausstrahlung sind wahrscheinlich am ehesten Kategorien wie Geschmack, Intelligenz und Verantwortungsbewusstsein ausschlaggebend. Die hier versammelten Texte betrachten das Theater als Phänomen und versuchen, es zum Sprechen zu bringen. Es ist zugegeben ein merkwürdiges Phänomen, das im Grunde nichts von Dauer hervorbringt, obwohl jede seiner Schöpfungen danach strebt, allen bisherigen Hervorbringungen die Krone aufzusetzen. Dabei misstraut die Welt der Spieler allem allzu Dauerhaften und Ehrenvollen. Und doch ist jede Erfindung einer Figur genauso wie jede Eroberung auf dem Feld der Liebe von der Annahme bewegt, etwas Letztgültiges zu wagen und für kurze Zeit auch von der Empfindung getragen, es tatsächlich zu erringen.
Leseprobe. Die Reise jedes Textes. «Text!» Die Hüterin. Sprache als Figur. Zwei Gruppen von
Dramatikern. Analyse der Störungen. Die rückwärtige Welt. Am Tropf der Worte.
Die Komödie des Lebens.
Aller Beginn am Theater ist freundlich. Nur hier. Mit viel Überwindung. Der Eine wie der Andere (I). Nicht zu inszenieren. Zwei Naturen. In der Mitte. Das alte Kind. Gefühl, Erfahrung und Erinnerung. Eine andere Welt. Nie untereinander. Spiel haben. Der Eine wie der Andere (II). Lebensklug. Körpermenschen. Virtuosen und Gemütsschauspieler. Die Solistin. Jugend und Alter. Der Verweigerer. Figuren. An unsichtbaren Fäden. Eine gelöstere Form von Gegenwart. Wie Technokraten. Oben und unten. Darstellen ist ihre Arbeit. Geliebt und gefürchtet. Ausgerechnet sie. Eigentlich wie immer im Leben.
Kinder und Tiere. Theater des Tages / Theater der Nacht. Der Blick in den Saal. Wesenswechsel. Entropie. Horizontale und Vertikale. Jenseits der Lager. Auf der Schwelle. Vom Pilger zum Priester.
Davor und mittendrin. Das glaube ich dir nicht. Tempomat. Angebot und Nachfrage. Schau ins Publikum. Warum das alles? Auf dem Weg. Langeweile und Verzweiflung. Keine Abkürzung. Das Plastische. «Dank! Dank! Dank!» Geisterbeschwörer. Das Profane. Nie nackter. Die poetische Stimmung. Vom Platz genommen. Kritik. Die Einsamkeit der Kartografen.
Die zirkuläre Welt. Eine Frage der Disposition. Wer wen. Besetzung und Besessenheit. Leider nicht hier. Theaterrepublik. Die Kunst der Kritik. Kulturhaus oder Museum? Die fleißige Genießerin. Der Jäger. Auf eigene Rechnung.
«Der Schauspielerberuf bedeutet ja, dass Sie nie ein Leben lang eine Rolle spielen können, Sie sind zur Entwicklung verdammt. Sie haben das Problem ihrer eigenen Lebenszeit. Sie werden älter - sie wechseln die Rollenfächer, hat man das früher genannt: Sie werden vom jugendlichen Held zum Vater zum Greis. Eigentlich kann sich niemand ausruhen im Theater, selbst im Stadium der Unkündbarkeit ist ein Schauspieler damit konfrontiert, dass er sich selber verändert, dass er älter wird, und dass dieses Älterwerden andere Rollen mit sich bringt aber auch eine andere Perspektive auf die Rollen. Aber auch um den Schauspieler herum verändert sich natürlich die Welt, wenn er seit 20 Jahren am gleichen Theater spielt, ist es eine Art von trauriger Berufsexistenz, wenn keine Entwicklung der künstlerischen Positionen mehr stattfindet, der Weiterentwicklung der eigenen Sprache. Gute Schauspieler suchen den Bruch in ihrer Karriere, um eine andere Facette ihrer Arbeit entfalten zu können, um es wieder ernster zu meinen mit dem, was sie da tun auf der Bühne.»
Thomas Oberender, Theater leben, BR, Gespräch mit Sven Ricklefs, 15.9.2015
«Regisseur: Gott im Taschenformat.»
Von Norbert Mayer, Die Presse, Wien, 26.7. 2009
Was ist die zentrale Aufgabe eines Schauspieldirektors? Er beobachtet das Theater. Das hat jedenfalls Thomas Oberender von den Salzburger Festspielen gemacht und ein schlankes Buch über sein Biotop geschrieben: «Leben auf Probe» ist eine Liebeserklärung an die Schauspieler und eine Verteidigung der Regie, wobei sich der Mann in der Einleitung als Außenseiter eröffnet, der dem Theater sehr nahe steht. Über dessen «Gewalt, die nicht tötet», schreibt er: «Diesem Wunder der Inkarnation kann sich ein Nichtschauspieler wie ich jedoch nur mit einem zarten Fremdeln nähern, das letztlich Ausdruck einer Liaison dangereuse bleibt.»
Solch ein Zugang weckt Empathie beim Kritiker, zugleich aber sollte man differenzieren: Vielleicht hat Oberender den Theaterdirektor nur gespielt, um als Schriftsteller die Welt der Bühne sozusagen inkognito enthüllen zu können. Das ist ihm gelungen. Denn diese fünf Essays, die um Literatur, Proben, Regisseure, das Stadttheater, vor allem aber um die Schauspieler kreisen, lassen tief blicken. Es ist ein kluges Buch mit erlesener Sprache, die in ihrer Eigenheit an Peter Handke oder Botho Strauß geschult zu sein scheint. Allerdings wird der Ton gelegentlich so hoch, dass man in Oberenders Minnelied einen unverbesserlichen Romantiker zu erkennen glaubt.
Dem Schriftsteller Daniel Kehlmann, der am Samstag seine Eröffnungsrede in Salzburg dazu nutzte, in kalter Abrechnung mit dem «Regietheater» die Verwundungen einer zarten Seele preiszugeben, wäre dieses Handbuch des Praktikers zu empfehlen. Es geht Oberender nicht um den künstlichen Konflikt zwischen werktreuem und egomanischem Theater, sondern um die Differenzierung zwischen gutem und schlechtem Theater. Dafür hat der 1966 in Jena geborene Ostdeutsche breites Wissen gesammelt. Geschult an Bert Brecht, Heiner Müller und deren Epigonen, schrieb er seine Dissertation über Strauß. Auch arbeitete er als Dramaturg in Bochum und Zürich, ehe er 2007 von Intendant Jürgen Flimm nach Salzburg geholt wurde – eine Zeit voller Dramatik.
Oberenders Buch ist jedoch keine Abrechnung mit dem System geworden, für das er noch die Saisonen 2010 und 2011 gestalten wird, sondern ein Suchspiel für die vielen Menschen, denen er in seinem Beruf begegnet ist. Er enthüllt den Alltag. Wer kennt ihn nicht, den alternden Schauspieler, den das Gedächtnis verlässt? Verzweifelt ruft er der Souffleuse zu: «Sprichst du mal den ganzen Satz? Ich muss doch wissen, wie es weitergeht, nicht immer diese Häppchen, bitte!»
Solche Indiskretion ist für die Betroffenen leicht zu entschlüsseln, selbst wenn sich Oberender mit Namen zurückhält. Wahrscheinlich aber werden sich bei vielen Stellen mehrere Menschen gemeint fühlen, denn zumeist schlüpft der Autor in die Rolle des Bewunderers.
Er verehrt die kalten Virtuosen, die mit dem Publikum spielen, aber auch die Gemütsschauspieler, für die die Bühne zum Leben wird. Er achtet die Bühnenbildner («Hier ist keine Nebensache nebensächlich, nichts Weggeworfenes zufällig an seinem Platz, alles erzählt…») und begibt sich immer wieder in philosophische Diskurse, die nur etwas abgegriffen sind, wenn sie sich politisch färben: «Kunst kann engagiert sein, aber niemals Täter werden, niemals Macht.» Tatsächlich? Das klingt wie eine zynische Anspielung auf das Motto der heurigen Festspiele: «Das Spiel der Mächtigen».
Kompetent ist Oberenders zeitgemäße Analyse der Regiearbeit, die heute ungleich aufwendiger sei als in den Zeiten der Wanderbühnen. Einen Schöpfungsakt vollziehe der Regisseur, der «alles zum Material erklärt, das erst durch ihn Gestalt erhält». Er sei ein «Gott im Taschenformat, der Demiurg, der Allbestimmer und Nutznießer vielfältigster Zuarbeiten», durch den Weltanschauung sichtbar werde. Warum gibt es diese gesteigerte Bedeutung des Regisseurs? Für Oberender ist es nicht mehr möglich, ein reines Drama zu schreiben: «Wir leben im Zeitalter der Stücke, Projekte, Revuen, Performances und szenischen Installationen.» Nach dieser Logik könnte man «Leben auf Probe» glatt auch als eine Serie von Mikrodramen aufführen. Stoff genug gäbe das Buch her.
(«Die Presse», Print-Ausgabe, 27.07.2009)