«Die Kunst des Gelingens»
Was für eine institutionalisierte Förderung des Neuen Zirkus spricht.
Von Thomas Oberender
Zirkus, der alte wie der neue, ist für mich eine Kunstform des Gelingens. Das ist insofern bemerkenswert, da er der Gefahr so eng verbunden ist. Ein Großteil der Energie und Erfahrungsintensität, die von ihm ausgeht, rührt aus dem Risiko des Scheiterns, das die Artisten vor den Augen der sie Betrachtenden umgibt bei ihrem schwierigen Tun, das immer so leicht getan wirkt, mit einem Lächeln über dem Abgrund der Angst oder des Ungewissen. Zirkus macht das Unmögliche möglich, er feiert die Mühelosigkeit angesichts des ganz Schweren. Er verleiht den Dingen Leben und behandelt die lebenden Körper wie Dinge, die sich von ihrer Funktion befreien und etwas ganz Anderes werden.
In jedem Augenblick der Zirkuskunst steckt so viel Zeit - das wieder und wieder tun des Gleichen, bis es gelingt. Deshalb setzen die artistischen Augenblicke auch so viel mehr Zeit frei als andere Künste - ein pures Staunen, das um sich herum Ruhe und Verwunderung schafft. Wie geht das? Die vielleicht essentiellste Frage des menschlichen Lebens ist im Zirkus grundlegend: Wie geht das - ganz praktisch und technisch, weil alles, vor allem die eigene Unversehrtheit, davon abhängt.
Das Gelingen ist im Zirkus fast immer ein Sieg über die Wahrscheinlichkeit. Es ist unwahrscheinlich für jeden, der diese kleinen, präzisen Tätigkeiten des Artisten nie geübt hat, sie, ohne Schaden zu nehmen, ausführen zu können. Der Artist oder die Artistin hat die Unwahrscheinlichkeit zur Regel gemacht - allein das macht Staunen. Etwas Urkindliches wirkt in diesem Vorgang, denn irgendwann wurde alles zum ersten Mal gemeistert: Radfahren, einen Ball werfen oder schießen, alles, was unseren Körper mit einer Technik verbindet, die unabhängig von ihm existiert und von ihm inkorporiert wird. Und von der Freude und Unverschämtheit, die von diesem Lernen und Gelingen-Lassen ausgeht, entsteht etwas Ansteckendes: Diese Gabe der Artisten, die Dinge weiter zu treiben, als sie im Leben sonst so geschehen, sich und uns zu überraschen und lachen zu lassen.
Es gibt todtraurige Clowns, und doch ist eine Zirkustragödie als Genre schwer denkbar. Scheitern wirkt in der Welt der Artistik als eigenes Verschulden oder Tücke des Objekts und erinnert oft an die unfreiwillige Komik des Lebens, gelegentlich an Momente seiner Absurdität, aber nicht im klassischen Sinne an das Schicksal. Die Bühne des Zirkus teilt mit der antiken Arena aber noch das Rund der Orchestra, auch wenn sie im modernen Zirkus des 18. Jahrhunderts aus der Fliehkraft und Kreisbahn der Pferdenummern entstand und von einem Publikum umgeben war, das rundum sitzt, jeder gleichauf mit jedem anderen, ohne Loge, ohne Klassenschranken, worin etwas von seinem Überleben auf der Straße und den Märkten des Mittelalters weiterlebt.
Zirkus ist bis heute eine interkulturelle und vollkommen zugangsoffene Kunst - sie ereignet sich an Orten, vor denen niemand Angst haben muss, an denen sich jeder «sicher» im Sinne eines diversen Publikums fühlen kann. Es gibt niemand, der das Stück nicht kennt, auf Fragen keine Antwort weiß, sich nicht orientieren kann und die Riten nicht kennt. Zirkus ist inklusive und freundlich.
Für Wsewolod Meyerhold war der Artist das Ideal seiner Biomechanischen Methode - Risiko und Körperbeherrschung sollten einen neuen Typus von Schauspieler prägen, für den Majakowski, von dem Clown Vitaly Lazarenko geprägt, eine neue, für die Arena bestimmte Form von Literatur schuf. Hundert Jahre nach der - von Meyerhold inszenierten Zirkuspremiere der Wettbewerbe eines universellen Kampfes von 1920 - ist wieder ein Neuer Zirkus entstanden, der die artistische Arbeit mit anderen Künsten verbindet und aus dem klassischen Zirkuszelt in neue Räume aufbricht - in den Stadtraum oder die Portalbühnen der Sprechtheater.
Noch immer ist der Neue Zirkus nicht so sehr neu in der Welt des Zirkus, denn in der Welt der etablierten, hohen Künste und all ihrer seit gut 150 Jahren institutionalisierten Produktionsstrukturen - von den Schulen über die politische Repräsentation bis zu den Spielstätten und Produktionsförderungen. Irgendwie geht man noch immer davon aus, dass sich der Zirkus, wie er es seit Jahrhunderten tut, selber hilft. Dabei könnte er doch uns helfen: Schließlich ist die Fusion der künstlerischen Sprachen, die Deregulierung des literarischen Kanon und ein anderes Verständnis von Ensemblearbeit längst die Begleiterscheinung einer vom digitalen Kulturwandel tiefgreifend veränderten «Hochkultur».
Der neue kulturelle Schatz, den diese durch Digitalisierung und Globalisierung veränderte Welt hervorbringt, ist von den Erfindungen neuer Erzählweisen, Figuren und hybrider Welten, wie sie Spiele, soziale Netzwerke und Influenzer prägen, mindestens so beeinflusst wie von den Figuren Shakespeares, des Studiokinos oder epischer Serien und Phantasywelten. Und ein wichtiger Nebeneffekt dieser von Digitalität und Echtzeit geprägten Kultur ist ein neues, widerständiges Interesse an allem, was zunächst an die Werte von Communities und die Glaubwürdigkeit von unverkäuflichen Qualitäten wie Aura oder dem freien Gelingen von Versen, Tricks und Sounds gebunden ist.
Wenn ich vor diesem Hintergrund vom großen Potenzial des Neuen Zirkus überzeugt bin, so bin ich gleichzeitig sicher, dass er erst am Anfang eines weiten Weges steht - zu einer eigenen Sprache, die ihn durch den akademischen Diskurs, ähnlich wie lange Zeit zuvor die Performancekunst und der Tanz, in die öffentliche Kritik einführt und hinüberleitet in die Foren der politischen Repräsentanz. Es muss in Zukunft Lehrstühle für Zirkuskünstler an Schauspielschulen geben und sie müssen in den Jurys für Fördergelder und Residenzen präsent sein, genauso wie die Fachreferate in den Kulturbehörden entsprechende Experten brauchen.
Der Neue Zirkus hat die gleiche Entwicklung vor sich, die auch die freie Theaterszene genommen hat - von kleinen Produktionen irgendwann zu großen Formen zu gelangen, die heute, das Beispiel Rimini Protokoll zeigt es, oft sogar etablierte Theaterhäuser an die Grenzen ihrer finanziellen und infrastrukturellen Kapazitäten führen. Zirkus ist keine Kleinkunst, auch wenn er im Kleinen oft sehr große Kunst zeigt.
Gerade die kulturpolitische Haltung, wie sie sich in Deutschland als föderale und das Experiment belohnende und sogar fordernde Struktur zeigt, kommt diesem Aufwachsen des Neuen Zirkus in andere Wahrnehmungs- und Produktionsformen in einer Weise entgegen, die weltweit vielleicht einzigartig ist. Nirgends werden zeitbasierte Künste so generös und institutionell gesichert produziert wie hierzulande. Warum nicht auch die Kunst der Stunde, der Neue Zirkus?
in: Zirkus heute, Köln, Juli 2019
Bundesverband Zeitgenössischer Zirkus e.V.