«Heimat ist nicht immer die Antwort».
Was haben Migranten und Ostdeutsche gemeinsam?
THOMAS OBERENDER Frau Foroutan, eigentlich müsste man davon ausgehen, dass integrative Prozesse mit der Zeit immer erfolgreicher verlaufen. Es gab verschiedene Generationen von Einwander*innen in der Bundesrepublik: Den Anfang machten in der Zeit des Wirtschaftswunders die sogenannten Gastarbeiter, deren Nachkommen in der zweiten Generation versucht haben sich zu integrieren und die in der dritten Generation nun eher unsichtbar und zum ‚normalen‘ Mitbürger*in werden. Trotzdem beobachten Sie eine Entwicklung, die dazu führt, dass man sich ausgerechnet in der dritten Generation wieder stärker als Fremde oder Fremder fühlt. Ich frage das auch mit Seitenblick auf die Geschichte der Ostdeutschen: Wie kommt es, dass eine Gesell- schaft, die für sich in Anspruch nimmt, integrativ, demokratisch, liberal zu sein, diese Ausgeschlossenheitsgefühle produziert?
NAIKA FOROUTAN In erster Linie, weil diese Gesellschaft nicht integrativ, offen und tolerant ist, jedenfalls nicht in dem Maße, wie sie glaubt es zu sein. Das betrifft nicht nur die Haltung gegenüber migrantischen Personen, sondern generell den Umgang mit marginalisierten Gruppen. Es gibt eine große Diskre- panz zwischen dem, was wir glauben normativ zu erreichen (oder schon erreicht haben) und der empirischen Realität. Das löst große Spannungen und Gereiztheit aus, die schlagen sich auch in den Diskussionen und Debatten nieder. Die Menschen glauben weiterhin daran, dass sie in einer gleichberechtigten, auf Artikel 3 beruhenden und nach Gleichheit strebenden Gesellschaft leben, aber gleichzeitig bekommen sie jeden Tag Zahlen auf den Tisch, die ihnen sagen, dass diese Gleichheit noch nicht vollzogen ist. Das betrifft nicht nur Fragen der Migration, das zeigt sich auch in Fragen der Geschlechtergerechtigkeit oder in Fragen von Schicht und Klasse und natürlich in dem Thema, das wir hier debattieren, in der Angleichung der Lebensverhältnisse von Ost und West.
Wenn man die empirische Tatsache erkennt – also die Diskrepanz zwi- schen Norm und Realität – dann hat man zwei Möglichkeiten zu rea- gieren: Man kann versuchen, Ressourcen aufzubauen, um die Realität der Norm anzupassen, oder man senkt die Norm ab, um die kognitive Dissonanz aufzulösen. Seit geraumer Zeit haben wir es eher mit einer kollektiven Normabsenkung zu tun. Trotzdem erzählen wir auch weiterhin die Geschichte eines offenen, Menschenrechte achtenden, toleranten, demokratischen Landes. Es liegt auf der Hand, das hier gerade etwas nicht stimmt.
THOMAS OBERENDER Könnten Sie uns Beispiele geben für diesen Normabbau?
NAIKA FOROUTAN Nehmen wir doch einfach den Artikel 3 des Grund- gesetzes – da steht, dass die Rechte der Frauen den Rechten der Män- ner gleichgestellt sind, dass kein Mensch aufgrund seiner Herkunft, seiner Ethnizität, Religion etc. benachteiligt werden darf. Die gleichen Rechte sind ein Grundsatz unserer Demokratie. Man wird oft damit konfrontiert, dass diese ganzen Pluralitätsdebatten postmoderner, kosmopolitischer, neumodischer Kram seien. Aber wenn wir in das Grundgesetz schauen, ist dieser Artikel, der die Pluralität unserer Gesellschaft sichert, dort bereits 1949 niedergeschrieben worden. Auch der erste Artikel des Grundgesetzes über die Unantastbarkeit
der Menschenwürde ist klar auf Respekt vor dem Anderen ausgelegt. Wir haben ungefähr 17 Millionen Ostdeutsche, wenn wir geographisch zählen. Zählen wir biographisch, kommen wir schon auf 20 Millionen. Aber nur drei Prozent dieser Menschen befinden sich in Elitenpositio- nen. Da stimmt etwas mit dem Gleichheitsgrundsatz nicht. Wir haben eine Vorstellung von gerechter Aufteilung, haben aber eine Gruppe, die deutlich weniger Vermögen hat als die andere, die entsprechend weni- ger vererben können wird, die stärker von Armutsquoten betroffen und auf Sozialtransfers angewiesen ist usw. Wir können empirisch nach- weisen, dass es einen gewaltigen Unterschied gibt, und dass diese Gleichheitslinie, von der wir glauben, dass sie uns antreibt, tagtäglich ihren Widerspruch in der Lebensrealität der Menschen findet. Wir sehen auch, dass derzeit dagegen aufbegehrt wird – nicht nur von ostdeutscher Seite, sondern auch von vielen anderen nicht-dominan- ten Gruppen. Das ist es nämlich, was wir im Moment erleben und was so leicht abgetan wird unter dem Begriff der identitätspolitischen Spaltung der Gesellschaft. Eigentlich geht es um die Aushandlung von Anerkennung und von Teilhabe, unabhängig von Identität, aber auf der Grundlage des Versprechens der Gleichheit.
THOMAS OBERENDER Thomas Krüger, haben Sie eine Erklärung dafür, warum sich von den heute Achtzehn- bis Neunundzwanzigjährigen, die nach dem Ende der DDR in Ostdeutschland geboren wurden,
70 Prozent als benachteiligt und Bürger zweiter Klasse gegenüber in Westdeutschland Geborenen empfinden? Wie kommt es zu solchen Gefühlen in einer Generation, die nicht mehr in der DDR geboren, son- dern im wiedervereinten Deutschland sozialisiert wurde?
THOMAS KRÜGER Man kann nicht verleugnen, dass Ostdeutsche in den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft – ob in der Justiz, im Hochschulbereich, in der Kultur – nach wie vor unterrepräsentiert sind. Junge Menschen spüren irgendwie, dass ihnen das gleiche Schicksal blüht, um es zugespitzt zu sagen. Wenn man mit jungen Leuten heute spricht, findet man allerdings selten ein ausgeprägtes Bewusstsein dafür. Viele sagen eher, «mich betrifft das so nicht mehr, ich bin schon ein Ost-West-Hybrid». Aber das könnte möglicherweise ein neolibe- raler Trick sein, die Machtverhältnisse aufrecht zu erhalten und den jungen Leuten zu suggerieren, reiht euch ein, es ist schon alles gut so, wie es ist, euer Unbehagen ist unbegründet.
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