«Mein geschenktes Leben.»
Wie man sich vom Albtraum der Geschichte befreit.
Laudatio auf Tankred Dorst
(…) 1947 kommt der Einundzwanzigjährige zurück nach Deutschland, «ohne Abitur, ohne Geld oder Beziehungen». Er hat sich eine Zeitlang herumgetrieben, wusste nicht, was er anfangen soll und hatte das Gefühl, «dass ich das ganze weitere Leben, das doch, wenn ich es von heute her sehe, erst angefangen hatte, in Kellern verbringen würde. Es war ja alles kaputt.» In der Gegend von Dortmund war er von einem übervollen Zug gesprungen, suchte das Haus seiner Tante, zwei Zimmer bewohnte sie noch, alle anderen Zimmer und Flure waren mit Flüchtlingen belegt. Er bezog «ein notdürftig eingerichtetes Kämmerchen unterm Dach. Da, wo früher Koffer und kaputte Möbel gelagert waren, da oben verbrachte ich eine konturlose Zeit, hörte das Pausengeschrei der Schulkinder von gegenüber, hörte die mächtige katholische Glocke läuten und das Klappern der Milchkannen von der Molkerei nebenan.
Da begann ich mein geschenktes Leben, fühlte mich fremd, konnte mit mir nichts anfangen, trieb mich herum, ging in die Ostzone nach Thüringen und wieder zurück, ohne eine Vorstellung von Zukunft. In den Trümmern von Wuppertal suchte ich bei einem Freund Obdach, den ich aus der amerikanischen Gefangenschaft kannte: Wir waren beide gierige Leser, süchtig danach, etwas über die Welt zu erfahren, die uns nicht liebte.» (Noch einmal Öderland, S. 72) Er trieb sich herum als Schmuggler und Schwarzmarkthändler, und als die Zeiten langsam besser wurden, holte er sein Abitur nach und begann in Bamberg ein Studium der Germanistik und Philosophie. Da er von etwas leben musste und sich als junger Mann nützlich machen wollte, übernahm er eine veraltete Seifenfabrik in Wuppertal aus dem Familienbesitz, allerdings nur, um sie kurz darauf zu schließen. Er besucht bis Mitte der fünfziger Jahre die Universität in München, «fertig studiert habe ich nicht. Ich blieb in meinem kahlen Zimmer, deckte mich mit dem Teppich zu und hatte keine Vorstellung davon, wie ich mein Leben weiterbringen sollte.» (Der Autor stellt sich vor, S. 52)
In seiner Büchner-Preis-Dankesrede zitiert er den Dichter mit dem Satz: ««Manche Menschen sind unglücklich, unheilbar, bloß weil sie sind.» Büchner kennt ihre Melancholie, sie hat ihn selbst mitten im revolutionären Aufbruch befallen.» (Phantasie über ein verloren gegangenes Theaterstück von Georg Büchner, S. 67). Inmitten des anbrechenden Wirtschaftswunders lag Tankred Dorst wie ein Oberlinder Oblomow auf seiner Bettstatt, zog den Teppich unters Kinn, war besten Willens und zugleich doch unfähig, am praktischen Aufschwung mit zu tun. Und in dieser Lage, auf der Matratze unterm Dach liegend, empfing er, wie Jon Fosse es einmal nannte, das Geschenk der Traurigkeit, das auch eines der Fremdheit ist, etwas, das ihn zum wirklichen Autor werden ließ: Draußen hörte er die mächtige, katholische Glocke, das Klappern der Milchkannen, und planlos, zum praktischen Handeln außerstande, empfand er die hinweislose Offenheit seiner Lage plötzlich als das Geschenk einer endlich zu ihm dringenden, in ihren Farben, Klängen und Atmosphären zu ihm dringenden Gegenwart. Vielleicht geschah dies, gerade weil ihm die Zukunft und auch die Vergangenheit so vollkommen abhanden gekommen waren. Unvermittelt sah er seinen Platz im Gewimmel, das von draußen nun zu ihm drang, zu einem, der überlebt hat, vorm Nichts stand, oder besser mitten drin lag, liegen blieb auf seiner Matratze, und auf einmal doch inmitten der Welt. In dieser notdürftig eingerichteten Kammer empfing er den Blick, der sein Sehen mit seinem Dasein kurzschloss. Von da an war er nicht mehr Strandgut auf den Wellen der Weltgeschichte, der junge Mann, den es an die Westfront, Arbeitslager und Trümmerwüsten verschlug, sondern einer, der sein «geschenktes Leben» annahm, keinem Traum hinterher lief, sondern sich in seiner Lage begriff und auf die Welt schauen konnte, wie sie ist, als wären ihm Schleier von den Augen gefallen. Irgendeine besondere Dickköpfigkeit, Trägheit oder Trostlosigkeit sorgte dafür, dass die Welt zu ihm kam.
Das klingt ein wenig nach Erlösung, nach dem Anbrechen guter Tage, obwohl doch das bisher Gesagte das Gegenteil gezeigt hat: Die Geschichte eines jungen Mannes, der seine Heimat verlor, sein Kapital, seine Verbindungen, einsam war bis zum Verstummen. Und der bemerkte, wie sein Mitstudent, der im Krieg ein Bein verloren hatte, sich irgendwann genierte, in die Uni zu gehen, weil die Einbeinigen allmählich aus den Hörsälen verschwunden waren. Er war wie dieser Student süchtig darauf, etwas über die Welt zu erfahren, die ihm gezeigt hatte, dass sie ihn nicht liebt. Aber eben das wurde sein «geschenktes Leben» – die Empfindung der Fremdheit war keine allein der Heimat gegenüber, sondern betraf überhaupt den eigenen Platz in der Welt und öffnete ihm die Augen: er hatte überlebt, keine Pläne, Zeit und sah die Dinge plötzlich, wie sie sind. Das Schreiben wurde sein Weg, sich vom Albtraum der Geschichte zu befreien und mit der Freiheit zu recht zu kommen, die auch ein ungeheueres Freigelassensein bedeutete, ein unabänderliches Alleinsein inmitten einer Welt, die ihn weder braucht noch liebt.
Nun gibt es zwei große Bettlägerige in der Geschichte der Literatur, mindestens zwei, deren Beispiel sich hier anzuführen lohnt: Der eine war ein hoch begabter und zugleich mittelloser Jurastudent, der in einer Art Bretterverhau dahinvegetierte, bis zur Raserei gedemütigt durch seine Armut und die ihn umgebende Niedertracht der Verhältnisse in Petersburg um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Er hieß Raskolnikow und war der Urheber einer fixen Idee, der zufolge einige auserwählte Menschen sich über das Material der Geschichte, also die folgsamen Ameisen der Gesellschaft, erheben dürfen, ja, erheben müssen, um die Verhältnisse ihrer Einsicht gemäß, und zum Wohl der Allgemeinheit, zu verändern. Woran man diese Auserwählten erkennt? Ihnen sind Verbrechen erlaubt, da sie ihr eigenes Recht setzen. Dass er zu diesen Auserwählten zählt, kann sich der Jurastudent Raskolnikow nur beweisen, indem er sich also über das Gesetz stellt und zum Verbrecher wird. Um seine Idee zu beweisen, erschlägt er eine, von ihm als «Laus» bezeichnete, Pfandleiherin und ihre Schwester mit der Axt und es gelingt ihm, durch zahllose Zufälle begünstigt, ein perfektes Verbrechen. Doch bald schon erweist sich, dass er der eigenen Idee seelisch nicht gewachsen ist. Am Ende des Romans begleitet eine russische Heilige ihn nach seinem Geständnis in die Verbannung und ist bei ihm, wenn er als verurteilter Mörder in einem sibirischen Arbeitslager auf einen Fluss schaut, und zum ersten mal fühlt, dass er einen Menschen liebt, dieses Mädchen, und plötzlich das Leben an die Stelle der Dialektik tritt, und «in seinem Kopf nun etwas völlig anderes» entstehen wollte. Mit ungefähr dieser Erfahrung, die das Ende von Raskolnikows Weg markiert, beginnt Tankred Dorst zu schreiben.
Raskolnikow ist der dunkle Bruder des Dostojewski-Lesers Dorst, sein stiller Gesell im trostlosen Verhau, ihm nah in der Einsamkeit und Zurückgezogenheit, und doch auch sein Gegenteil: ein Mörder im Namen der Idee, dessen letzte Wandlung eigentlich am Anfang des «geschenkten Lebens» von Tankred Dorst stand. Für Dostojewskis ist Raskolnikow infiziert vom Nihilismus des Westens, der es zugelassen und sogar erfordert hat, dass der Mensch die Rolle des Weltenschöpfers beansprucht und sein Recht über das der Natur und Mitmenschen stellt. Und es war eine Generation entwurzelter Kriegsheimkehrer oder Kriegsvertriebener wie Tankred Dorst, Wilfried Minks oder Kurt Hübner, die vom Anspruch der Ideen auf Herrschaft über die Welt genug erlebt hatten – von Ideen, die, wie sie es erlebt haben, zum Morden führen. Es ist die Generation der Antiideologen, derer, die nie im Jargon sprachen und keine intellektuellen Angriffskriege führten. Ihnen wurde ja das Leben «geschenkt», gerade indem es ihre Pläne durchkreuzte und sie in eine hinweislose Stille entließ. «Sein übersteigt die Einsicht.», zitiert Tankred Dorst einmal Cioran, «Sein macht Angst.» Und diese Angst machte Tankred Dorst produktiv. Seine Generation vermied fortan die Ideologien und hegemonialen Antworten und schrieb über das Portal ihres Theaters: Wir sind nicht die Ärzte, wir sind der Schmerz. Sie spielte ihr Spiel ohne Absicherung beim Weltgeist der Geschichte, seinen Erklärungen und Motiven.
Diese Generation schenkte der jungen Bundesrepublik in Ulm und Bremen ihr erstes, originäres Theatererwachen, und das vor der Generation der 68er. Tief und vielfach bezeugt ist Tankred Dorsts Abneigung gegen das Ideologische, den Geltungsanspruch von Theorien bis hin zur Idee formaler Konzepte, die ihm als «das Fremdeste und sogar hassenswert» (Brief ans Fernsehen, S. 101) erscheinen. Diese Abneigung ist in seinem Schaffen bezeugt als immerwährendes Hadern mit den geschlossenen Dramaturgien von Ursache und Wirkung, der durchschaubaren Folgerichtigkeit und Motivation. Dagegen setzte Tankred Dorst die prekäre Form der offenen, und in sich doch schlüssigen Dichtung, und erfand für sich eine «Dramaturgie des zerbrochenen Spiegels», die durchaus zu geschlossenen Werken und Welten führte, aber eben fern ab der, Abgründe und inneren Himmel abschnürenden, Wahrscheinlichkeitsrechnungen des psychologischen Dramas oder der lehrhaften Parabeln und Modelle. Im Gegensatz hierzu ist Tankred Dorst ein Anti-Raskolnikow, ein Ideenauflöser, Geschichtensammler und Daseinsbezeugender geworden. Weise bettlägerig von Beginn an.
Und deshalb beschäftigte ihn Raskonikows Beil wie kaum einen anderen zeitgenössischen Dramatiker. Mehrfach taucht es auf in seinen Stücken und Reden. In den Notizen zu Wandas Geschichte erinnert er an ein merkwürdiges Tolstoi-Zitat: «Widerstehe nicht dem Bösen.» Es ist, als ob sich Dorsts Dramatik dieses Böse ausfindig macht, aber ohne es erklären zu können. So beschäftigt ihn das blutige Hausmeisterbeil in seiner Max Frisch-Preisrede, in der Tankred Dorst in einem fiktiven Gespräch mit Max Frisch der Frage nachgeht, was sie beide an Graf Öderland so fasziniert – dem Helden des gleichnamigem Stückes von Max frisch, in dem ein Staatsanwalt mit der Axt wahllos mordend seinen Weg in die Freiheit sucht. «Du kamst damals,» nach dem Krieg, so Tankred Dorst zu Max Frisch, «in das Land der Schuldigen, und sicher hat dich dabei auch die Frage beschäftigt, wo das Ungeheuerliche, dessen sich die Bewohner schuldig gemacht hatten, denn eigentlich niste. Die Frage nach dem Bösen also. (…) Mir scheint, das Öderländische im Menschen ist mit einer Dramaturgie, die der Aufklärung dienen will, nicht zu beschreiben. (…) Ich habe immer wieder versucht, damit zu Rande zu kommen, versuche es noch.» (Noch einmal Öderland, S. 78) Das «unerklärt Böse» wird sein «Lebensthema.» Dass es sich nicht restlos ins Gesellschaftliche oder Psychologische auflösen lässt, teilt dieses Phänomen mit jener anderen Kraft, die Menschen in jenen großen Abenteuer aufbrechen lässt, die zur Entdeckung neuer Kontinente führen oder zu Revolutionen. Auch woher diese Kraft stammt, die über die Gier nach Macht oder Geld, über bloße Neugier oder Missionierungsabsichten hinausgeht, bleibt unerklärt wie das Böse. Ihr reinster Ausdruck sind vielleicht die Werke der Kunst. Und so zieht auch die Begegnung mit großen, enigmatischen Künstlern, Bildern und Kompositionen eine stete Spur durch das Werk des Dichters - als Kehrseite des Bösen, bisweilen, wie im Falle von D’Annunzio oder Knut Hamsun, mit ihm unlösbar verbunden.
Als der WDR dem Autor 1977 droht, ihm die Realisierung seines Films Klaras Mutter zu entziehen, beharrt er darauf, dass nur er in der Lage ist, «die Geschichte einer kleinen Stadt im Thüringer Wald» zu erzählen – «von bösen Leuten, die anderen Böses tun und denen man Böses antut, die Geschichte von falschen Erkenntnissen. Klaras Mutter war eine Erinnerung an dunkle Dörfer, an das arme böse Leben in diesen schmucklosen Häusern.» (Brief ans Fernsehen, S. 104) Es ist Tankred Dorsts siebenter Sinn für das arme, böse Leben, wie es sich in schmucklosen Häusern verbirgt, der seinen Figuren und Geschichten eine Art regionaler Mitgift stiftet, auch wenn sie nicht unmittelbar im Thüringer Wald beheimatet sind. Nur von dort kommend, so scheint mir, konnte dieser sture, sensible und eigensinnige Autor dieses Aroma überall in der Welt aufnehmen, und sich derart für die schroffen, weltfremden Welterkenner erwärmen, seine kautzigen, alles auf den Kopf stellenden Mitmachverweigerer, die lieber zugrunde gehen an ihrem eigenen Jammer und Größenwahn, aber doch im Glanz ihrer querschädeligen Revolte ohne Partei und Pardon. So einer ist auch Herr Korbes, vielleicht die größte Erfindung des Autors Dorst – ein negativer Merlin. Er kann nur aus Franken kommen. Er ist böse, jähzornig, blind und uneinsichtig, egozentrisch wie ein Kind, ein großer Schmerzensmann, einer, an dem die Welt zerbricht. Er tobt und versündigt sich gegen sein Dorf und seine Familie. Und doch wählt seine Tochter am Ende das Leben an seiner Seite. Sie «hat sich für das hässliche Leben entschieden. Sie bleibt bei ihrem Vater, böse wie er. Die Tünche ist weg. Sie ist im Hass auf den Vater, der sie gequält hat, zu sich selbst gekommen.» (Zur Entstehung von Korbes, S. 128) Diese enigmatisch böse, durchgehend destruktive Figur ist in der deutschen Dramengeschichte für mich beispiellos. Selbst Schillers Kanaille Franz ist im Vergleich zu diesem Korbes nur ein durchmotiviertes und zusammengebasteltes Bösewichtwürstchen. Allenfalls bei Nestroy ließen sich ähnlich asoziale, archaische und anarchische Brüder und Schwestern von Dorsts Korbes finden. Und natürlich im Werk des Dichters selbst.
Als er an Merlin schrieb, hatte er die Idee, «ein Museum des Bösen einzurichten, in dem ich alles sammeln und dokumentieren wollte, was Menschen im Lauf der Jahrtausende an allen Orten der Welt einander Böses angetan haben; und dazu, vielleicht in anderes Museum, in dem die guten Taten gesammelt würden. (Das würde wohl kleiner ausfallen.) Aber da wäre nun doch zu fragen: gibt es «das Böse» überhaupt, und wie ist es, wenn ich mich nicht ideologisch einschränken will, zu erkennen, zu beschreiben?» (Zur Entstehung von Korbes, S. 122) «In Geschichten.», könnte die Antwort lauten und so muss sie lauten, wenn man das Werk von Tankred Dorst überblickt. Seine erklärten Vorbilder sind epische Figuren- und Geschichtensammler wie Anton Tschechow, Gerhard Hauptmann oder Leopardi. Auch bei ihnen könnten Figuren wie Mordred aus Merlin oder Fernando Krapp erscheinen, aber Tankred Dorst geht bei der Verkörperung des Böse als sozialer Realität einen Schritt weiter: Es ist nicht das Grauenhafte oder Monströse, das ihn am Bösen fasziniert, sondern ein Moment von gesellschaftlicher Renitenz, das eigentümlicher Weise genau dadurch entsteht, dass diese Figuren die Gesellschaft als Gegenüber gar nicht erst annehmen – vielmehr leben sie in einer Art eigenen Kontinent mit einem altmodischen, schrulligen Trotz, und wirken dabei wahrhaftiger und vitaler als die aufgeklärten Verhältnissen.
Am deutlichsten gelang dies vielleicht in der Geschichte von Herrn Paul, jener Schreckensfigur aus der eigenen Familiengeschichte, ein Mann, der «nicht arbeitet, sich nicht einlässt, keine Verantwortung für irgendetwas übernimmt, nichts tun will, wie ein Riesenbaby sozusagen ausscheidet aus den Kämpfen und Problemen der Welt und damit auch noch eine gewisse Philosophie verbindet. Aber es ist,» so Tankred Dorst, noch «ein tiefer sitzender Schrecke,» der sich mit dieser Figur verbindet: «Der Mensch möchte, ganz allgemein gesprochen, nicht schuldig sein. Man möchte nicht schuldig sein. Man möchte eigentlich gar nicht geboren sein. Man möchte an den Schrecken der Welt nicht teilnehmen. Und vor allem nicht schuldig sein. Aber das geht nicht. Mit seiner Geburt fällt man in eine Schreckenswelt hinein und nimmt auch daran teil und hat seinen Teil an Schuld.» (Das Gewicht der Welt, S. 200) Man möchte nicht an die Westfront geschickt werden. Nach vier Wochen Krieg und über drei Jahren Gefangenschaft schließlich zum Onkel zurückkehren, der bloß vom Apfelschälen aufblickt und westfälisch-lakonisch sagt: Da bist du ja wieder.
Und das führt nun zu jenem zweiten, berühmten und erleuchteten Bettlägerigen der Literaturgeschichte, obwohl er eigentlich nicht einmal ein eigenes Bett hatte. Sein Lager befand sich hinter einem hohen, grünen Wandschirm in der Kanzlei eines Notars für Grundbesitzübertragungen an der New Yorker Wallstreet. Dieser Notar bemerkte irgendwann, dass der farblos ordentliche, Mitleid erregend anständige und rettungslos verlassene Kopist, den er ein paar Wochen zuvor angestellt hat, seine Kanzlei nicht nur während der Arbeitszeit lieber nicht verlassen möchte, sondern selbst dann nicht, als der Notar, vom passiven Widerstand dieses irgendwann seine Arbeit für immer einstellenden Angestellten enerviert, ihn entlässt. I would prefer not to lautet die berühmt gewordene Formel des Kopisten Bartleby, mit der er sich, ohne weitere Erklärung, allen Aufforderungen entzieht. Durch den Kanzleiwechsel des Notars längst obdachlos geworden, entgegnete er auf die Angebote seines früheren Arbeitgebers, ihm eine Stelle als Verkäufer, Schankkellner, oder Gesellschafter zu verschaffen, lediglich: «Nein, ich möchte lieber keine Veränderung vornehmen, aber ich bin nicht wählerisch.» Dies könnte, mit Verlaub, auch die Formel Tankred Dorsts sein, der nach einem kurzen Versuch, sich im Wirtschaftswunder durch die Übernahme der familieneigenen Seifenfabrik nützlich zu machen, lieber mehr oder weniger kampflos die Segel strich, keinen Kredit aufnahm, sondern in seinem kalten Zimmer den Teppich übers Kinn zog, durchs offene Fenster die katholischen Glocken läuten hörte, mit sich haderte, und fortan lebenslang keine Bewerbung schrieb, nur seine Texte. (…)