CHAMÄLEON: Im vergangenen März haben Sie mit dem Stück Nebula von Compagnie du Chaos erstmals ein zeitgenössisches Zirkusstück im Haus der Berliner Festspiele präsentiert und Ihre neue Programmschiene «Circus» eröffnet. Im Mai ist der zeitgenössische Zirkus zum ersten Mal im Rahmenprogramm des Theatertreffens erschienen. Was reizt Sie an diesem Genre?
Thomas Oberender: Theater handelt sehr oft vom Scheitern und der Circus vermittelt eine Erfahrung von Gelingen. Zeitgenössischer Circus basiert auf diesem Spiel mit der Gefahr, dem Risiko und physischer Realität, von Akrobatik und Magie, aber zugleich wird er eine eigene oftmals sehr poetische Kunstform, die alle übrigen Künste absorbiert, das Tote lebendig macht und die lebenden Körper oft als Instrumente von ganz unwahrscheinlichen Leistungen und Grenzüberschreitungen zeigt. Circus ist immer gut, wenn er irgendwo auch Circus bleibt und jene eigene Form von Anarchie und Stolz entwickelt, die dem Circus innewohnt - ausgehend von seiner Eigenart und Herkunft vom Rande der Gesellschaft. Darin liegt seine Stärke und die Möglichkeit der freien, unbeschwerten Betrachtung der Kunst und Gesellschaft.
Wann und wie sind Sie diesem Genre zum ersten Mal begegnet?
Das war in den 90er Jahren bei Gastspielen französischer Kompanien im Tacheles und später in dem absolut magischen Theater von James Thiérrée.
Was war das schönste oder bewegendste Zirkusstück, das Sie je gesehen haben?
La DévORée von der Compagnie Rasposo: Keine akrobatischen, perfekten Körper sondern menschliche, sterbliche, kämpfende Körper. Düster und verführerisch, morbide und voller Lebenslust zugleich. Die Künstler nehmen einige typische Circustraditionen und erkennbare Nummern, transformieren sie auf eine ganz eigene und vertiefende Weise, überschreiten die Grenzen zwischen Spaß und Ekel, dem Guten und dem Bösen, dem Gefährlichen und dem Vertrauten, dem Toten und dem Lebendigen – Circus ist bei ihnen äußerst theatralisch und sie spielen auf unglaublich leichte Weise mit existentiellen Themen.
Wie kann der zeitgenössische Zirkus eine Reihe wie das Theatertreffen bereichern?
Zeitgenössischer Circus hat sich in der Richtung einer interdisziplinären Kunstform entwickelt, in der Artisten Dinge zeigen und Situation kreieren, die traditionelle Schauspieler so nicht herstellen können und die in ihrer Direktheit und der unmittelbar auf Tuchfühlung mit dem Publikum gehenden Form im Saal oft sehr mitreißend wirkt.
All diese Elemente bereichern das Festival, machen es lebendig und zeigen, dass wir inspirieren möchten und eine ungewöhnliche Form von Überblick über das ganze Spektrum der darstellenden Künste unserer Zeit beim Theatertreffen präsentieren.
Sie haben sich in den vergangenen Monaten mehrmals zum Thema Zirkus geäußert, haben einen sehr interessanten Essay in Theater der Zeit veröffentlich und die Reihe «Circus» eröffnet. Was für ein Feedback haben Sie auf diese Erweiterung Ihres Programms bisher bekommen und was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Das Feedback aus der Theaterwelt erscheint mir durchweg positiv, neugierig und aufgeschlossen. In meiner Begegnung mit verschiedenen Akteuren des zeitgenössischen Circus habe ich gemerkt, wie sensibel das Feld auf Stimmen von außen reagiert und dass es absolut keinen Grund gibt, den traditionellen Circus als altmodisch zu betrachten. Er ist, wie auch die Artistik in Varietés und auf Revuebühnen, eine mitreißende Kunstform. Der zeitgenössische Circus ist eine Spielart der zirzensischen Künste und ich wünsche mir, dass er im deutschsprachigen Raum mehr politische Unterstützung, Aufmerksamkeit durch die Kulturkritik und wissenschaftliche Institutionen erfährt. Das mit zu befördern wäre ein schöner Nebeneffekt unseres bescheidenen Engagements.
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