«Ein Menschenversuchungsversuch»
Über die Pariser Weltpremiere des Projekts DAU von Ilya Khrzhanovsky
Thomas Oberender
Wie bringt man ein Werk heraus, das im Moment seiner Veröffentlichung aus 13 Kinofilmen besteht, die aber zugleich nur eine Facette eines Gesamtwerks darstellen, das mit der Kreation einer künstlerischen Gated Community an Stadtrand von Charkow verbunden war, mit der Entwicklung eines Internetportals und einer ganz eigenen Publikations- und Merchandisingreihe? Das Charkower Projekt war ein Sozialexperiment ganz eigener Art, des Abfallprodukt an die 700 Stunden Film waren. Dieser Film zeigt das Leben von Wissenschaftlern, ihre Experimente in einem geheimen Institut in der Sowjetunion zwischen 1938 und 1968, also drei Jahrzehnte akribisch nachgebildeter Geschichte, die vom großen Terror in den Weltkrieg und das Tauwetter führen. Aber man sieht nicht nur das Leben der Wissenschaftler, sondern auch das von Straßenkehrern, Köchinnen, Künstlerinnen, weltberühmten Mathematikern und Nobelpreisträgern.
In Charkow entstand eine Art Testgesellschaft, irgendwo im Limbo zwischen sozialer Wirklichkeit und ästhetischer Fiktion machten bis zu 400 «Bewohner» gleichzeitig diese Zeitreise in einer kleinen Filmstadt, in deren Kulissen der Alltag innerhalb eines wissenschaftlichen «Instituts» simuliert wurde, wie es jenem entspricht, an dem einst der russische Physiker Lew Landau gewirkt hat, der einzige sowjetische Nobelpreisträger, dessen Leben der russische Regisseur Ilya Khrzhanovsky zunächst nach einem Drehbuch von Vladimir Sorokin verfilmen wollten. Die Filmarbeiten wurden jedoch bald schon frei improvisiert entlang der von den Bewohnern und dem Regisseur herbeigeführten Situationen innerhalb dieses imposanten Sets von der Größe zweier Fußballfelder. Gedreht wurde mit einer einzigen 36-mm-Kamera, ohne Wiederholung einzelner Takes, alles wie es sich ergab.
So entwickelte sich zwischen 2005 und 2007 am Filmset eine Art freier Community für bezahlte Einwohner*Innen – Arbeiter, Forscher, Künstler, Schamanen – und dieser Hintergrund ist insofern bedeutsam für die Weltpremiere dieses Werks in Paris, weil auch hier nicht einfach eine Serie von Filmen gezeigt werden sollte, sondern wiederum ein Stück Welt entstehen sollte, das man nicht wie ein Kino oder Theater betritt, sondern als ein anderes Land. Daher wurden für DAU in Paris keine Tickets verkauft, sondern für die Besucher und Besucherinnen VISA erteit.
Ähnlich wie hinter der Mauer des Drehorts eine parallele Realität entstanden war – mit eigenen Regeln, mit einer eigenen, für die jeweilige Sowjetepoche typischen Sprache, eigenen Zeitungen, Radioprogrammen und einem eigenen Wissenschaftsbetrieb - sollte dies auch in Paris passieren. Und in Teilen ist dies in Paris im Theatre de la Ville und Theatre Chatelet auch gelungen, denn sie war nicht nur eine Weltpremiere der Filme, sondern ein Erlebnisprojekt zwischen sowjetischer Zeitreise, 24 Stunden Berghain und U-Haft. Obwohl der Zugang am Eröffnungstag zunächst nur Freunden der Künstler erlaubt war, und auch an den Folgetagen weite Teile der Gebäude für Gäste gesperrt blieben, obwohl die Ursprungsidee, die Gäste anhand ihrer im Visa-Verfahren getätigten Angaben mit einem extra dafür programmierten App durch die Gebäude zu leiten, nicht funktionierte, war doch von Tag zu Tag mehr vom geplanten Programm zu erleben: Konzerte, die DAU-Filme, Vorträge von internationalen Wissenschaftlern, schamanistische Sessions, Künstlerbeiträge von Brian Eno, Theodor Currentzis oder Sasha Walz fanden statt und man bewegte sich als Gast letztlich durchgehend in einem künstlerischen Environment, das in eine dunkle Atmosphäre getaucht schien, fremd wie ein sektenartiges Regime, das von Wachleuten umstellt die angenehmsten Dinge tat.
In Charkow lebten die Menschen über Wochen und Monate in den akkuraten Replika historischer Kleidung, folgten wieder den sowjetischen Essgewohnheiten, hielten sich an die vorgestrigen Sprechweise oder gewöhnten sich an die Anwesenheit eines eigenen Geheimdienstes – all dies führte dazu, dass heutige Menschen unter den intellektuellen, emotionalen und sozialen Reglements von damals plötzlich Dinge taten, die ihr aktuelles, spontanes, von niemand vorgeschriebenes Verhalten waren. Niemand musste etwas nachspielen, gefilmt wurde nur ab und an, wenn die zwischenmenschlichen oder narrativen Zusammenhänge zwischen den Bewohnern «reif» waren. Wochenlang lebten und arbeiteten die Beteiligten hingegen unbeobachtet von der Kamera weiter. Was sich an den «wenigen» – immerhin 187 – Drehtagen zeigte, bringt am besten der Titel einer Essayfolge von Dmitry Kaledin zum Ausdruck, die in den in Paris erstmals veröffentlichten DAU-Builletons erscheint: History teaches that it teaches us nothing.
Das Team um Khrszhanovsky schuf und zerstörte in den fast drei Jahre währenden Dreharbeiten ein System künstlich erhaltener Sowjet-Normalität, die von Sicherheitsleuten mit einer Firewall aus Kontrollen und Check ins umgeben wurde, dank derer alle Menschen im Inneren des Set die vorgeschriebenen Kostüme und das obligatorische Sowjetessen zu sich nahmen. Mit den Basisstoffen des Lebens nahmen sie aber auch Rollen an, lebten im Wissen um versteckte Mikrofone der Stalinzeit, die sie am Set und in den Umkleideräumen abhörten. So entstand eine merkwürdige Spannung aus der Freiheit, dass hier natürlich alles nur «Theater» war, da aber nach Khrzhanovskis Willen dieses «Theater» innerhalb des Sets überall war, und das Script nicht mehr der zu sprechende Dialog ist, sondern Raum und Atmosphäre wurde, verwandelte sich alles, was an diesem Ort geschah, zugleich der Rohstoff des Films.
Von dieser Radikalität war die Präsentation in ihrer Umsetzung in Paris weit entfernt. Aber intendiert war etwas ähnliches, eben nur in umgekehrter Form – jetzt scriptet das Werk die Umgebungswelt der Theater, vom Keller bis zum Dach und Khrzhanovsky wollte sogar eine Brücke bauen lassen, die beide Häuser über den zwischen ihnen Häusern liegenden Platz verbindet, damit die Besucher während ihres DAU-Aufenthaltes niemals mit der Außenwelt in Berührung kommen, niemals «raus» kommen, sondern immer im Imago des Projektraums bleiben.
So wurde, und das ist aus meiner Sicht das Neue an diesem Filmprojekt, an diesem Ort in Charkow alles Material. Und ähnlich geplant war es für die Weltpremiere in Paris. Improvisiert wurde die Texte in der Geschichte des experimentellen Films schon lange vor Khrzhanovskis DAU-Projekt, auch das Thema Überwachung ist ein seit über fünfzig Jahren in der Filmgeschichte immer wiederkehrendes Thema. Paul Bartels Film «The secret cinema» von 1968 stiftete mit seiner Geschichte einer Krankenschwester, deren Leben von ihr unbemerkt pausenlos mitgefilmt und durch die ihr nahestehendsten Menschen inszeniert wird, um schließlich in einem Kino gezeigt zu werden, nicht nur den Urplot aller surveillance-Filme, sondern «Secret Cinema» wurde auch zum Titel eines neuen, immersiven Genres, in dem die Besucher heute in das «origniale» Set großer Blockbuster eintreten können, um hier die Geschichte «von innen» zu erleben. Khrszhanovsky aber hat das Story-Prinzip zum Drehprinzip gemacht: Sein Filmset des «Institut» in Charkow war ein Secret Cinema für jene Laien, Wissenschaftler, Priester, Wachmänner und wenigen Schauspielerinnen, die in ihm quasi in das Script eines Films, der dort erst entstehen sollte, eintraten und so zu seinem Rohstoff wurden.
Als ob das nicht reicht, verwandelt der Regisseur nun auch die Präsentation des Films wieder in eine secret cinema-artige Situation, indem die Filme nicht zu erleben sind, ohne das die Besucherinnen und Besucher eine Welt betreten, in der die Filme zu eine Art Werkzeug werden, deren ambivalente Attraktionen im Inneren des Theatre de la Ville oder Chatelet nie nur zu konsumieren sind, sondern immer mit einer Art von «Beitrag» verbunden sind. So sollte der Weg, den man innerhalb der Gebäude nimmt, abhängig sein von den eigenen Angaben in einem Fragebogen, der zur Erlangung des VISA nötig ist. So, wie die am Set angesiedelten Künstler, Wissenschaftler und Gäste der Rohstoff eines sich durch und an ihrem Leben nährenden Films waren – geschützt nicht mehr so sehr von einer Rollenfiktion, wie dies bei den Akteuren im Theater ist, sondern lediglich durch das Phantasma eines anderen Raumes, der fernab in der Sowjetzeit lag – genauso ist es nun für die Besucherinnen des Kunstprojekts DAU vor Ort: Auch sie treten ein in das Phantasma einer anderen Welt, die nächtlich ist, sie durch Aufsichten überwacht, mit russischem Essen und sowjetischer Sinnlichkeit beschenkt und durch die Unabsehbarkeit der Ereignisse in eine untergründige Spannung versetzt.
Der Rohstoff des Films war ein soziales Leben, wie es sich, in einer Atmosphäre «kollektiver Hypnose», in diesen vorgerichteten Räumen einstellte, einer Hypnose, die sich, wie Vladimir Yermolenko es im DAU-Magazin «Prison» formulierte, durch die ästhetischen Umstände am Set einstellte; getönt durch einen ästhetischen Filter, der als Look der jeweiligen Sowjetzeit nicht nur eine Form war, sondern durch sie auch eine Mentalität wieder aufleben ließ, die sich in Charkow tief ins künstlich arrangierte Alltagsgefühl einsenkte. Bezahlt wurden die Charkower Akteure in Sowjetrubeln, für die das Team Wechselstuben einrichtete, um sie in die heutige ukrainische Währung umzutauschen, wenn man das Filmgelände verließ. Jeder «Einwohner» erhielt einen Sowjetpass, eigens geschneiderte Kleider und den entsprechenden Haarschnitt. Das Wort und den Vorgang «googlen» gab es am Set nicht, man las eigens gedruckte Zeitungen und war genauso «mittendrin», wie die Besucher im Pariser DAU-Labor, das als eine Transformationseinrichtung gedacht war – ein Ort der Begegnung und Erfahrung, die von Charkow direkt ins Chatelet führen.
Wer in diesem Set eine Weile gelebt hat, der hat, so denke ich, nicht einfach «nein» gesagt, wenn eines Tages die Kamera im Raum stand. Selbst wenn er oder sie es konnte. Jedenfalls denke ich, dass es schwer war. Sagen achtzehnjährigen Mädchen einfach «nein», wenn ein berühmter Dirigent wie Theodor Currentzis sie bittet, sich statt der Kleider seidene Nachthemden anzuziehen und ihm Puschkin-Gedichte vorzulesen? Das Filmprojekt war, so erscheint es mir, im selben Maße eine Menschenversuchungsversuch wie es ästhetisches Experiment. Man sieht Protagonistinnen und Protagonisten, die aus freien Stücken tun, was ihnen ein subtiles System aus Ermunterungen und Ängsten möglich machte, zu tun. Drei Jahre sind eine lange Zeit.
Das Institut von DAU enthielt nicht nur verschiedene Forschungslabore für technische Experimente oder Versuche an Tieren oder Menschen, es war selbst ein Labor. Es war ein Traumaspätfolgenlabor, in dem zur Sichtbarkeit kam, was die Traumwelt der Sowjetzeit zur Folge hatte: Der Traum der Souveränität des Volkes führte, so Susan Buck-Morrs in ihrem Buch «Dreamworld and Catastrophe», im Osten ganz ähnlich wie im Westen in zwei Weltkriege und revolutionären Terror; der Traum der prosperierenden Industrie führte zu Ausbeutung menschlicher Arbeit und der natürlichen Ressourcen in ungeahntem Ausmaß und der Traum einer echten Volkskultur führte, verkürzt gesagt, zur Ästhetisierung einer gewalttätigen Moderne und der Betäubung der Opfer.
Für Khrzhanovsky bilden sich die damit verbundenen Traumata nicht nur in den Seelen der Nachgeborenen ab, sondern z.B. auch in deren Physiognomien. Sein Team suchte für die Massenszenen der DAU-Kinofilme unter Tausenden von Ukrainern jene Gesichter und Körpersprache, die für den Regisseur noch heute vom Terror der dreißiger Jahre und Nachkriegszeit gezeichnet sind. Das Wirkliche, schrieb Robert Bresson in seinen Notizen zum Kinematographen, ist nicht dramatisch. Das Drama wird aus einem gewissen Ablauf nichtdramatischer Elemente hervorgehen. Daher ließ Khrzhanovsky die hunderten von Setbewohnern über Wochen und Monate, bisweilen über Jahre zusammenleben, um zwischen ihnen jenes «Wirkliche» zu schaffen, aus dem das Dramatische hervortreten kann. Wenn ein Schauspieler auf der Brücke eines echten Schiffes, das von einem echten Sturm gebeutelt wird, die Angst vor dem Schiffbruch vortäuscht, glauben wir weder an den Schauspieler noch an das Schiff noch an den Sturm. Khrzhanovsky drehte daher konsequent mit Laien, bzw. Menschen, die in ihrem Beruf professionell in seinem Film weiterlebten.
So baute Khrzhanovsky sein Institut in Charkow systematisch zu einem sozialen Reaktor aus, in dem die Traumata, Utopien, das Grenzwertige und Phantastische einer anderen, östlichen Moderne, die parallel und in Augenhöhe zur westlichen verlief, noch einmal im wörtlichen Sinne durchgearbeitet wurden. Wie immer man die Pariser Premiere von DAU, ihren Größenwahn und ihr Scheitern am Eröffnungstag beurteilen mag, stellte sich doch bei der Besichtigung des Theatre de la Ville die Ahnung eines Werks ein, das wie die künstlichen Ruinen der Romantik den Glanz einer Ambition fühlbar macht.
Ins DAU-Reich in Paris reist man wie nach Nordkorea, gelockt vom Anderssein des Regimes und im selben Moment verstört von seiner drohenden Gewalt. Niemand weiß, was einen im Inneren des Gebäudes erwartet – seine hohen Fassadenfenster wurden von den Künstlern mit Spiegelfolie überzogen, so dass es aus der Ferne wirkte, als führten die Füllungen der Bögen ins Freie. Tatsächlich aber wartet hinter den Fassaden eine sorgsam vom Rest der Welt abgedichtete Welt, vielleicht eine Läuterungsburg, vielleicht aber auch etwas anderes. Das Procedere des Check in wirkt im Theatre de la Ville verschüchternd. Einmal drin wird jeder Gast von Aufsichten mit Headset dirigiert, jeder Gast geht allein und jeder anders. Man entdeckt DAU also vor Ort ein wenig wie den Brüsseler Justizpalast, von dem gesagt wird, dass es niemanden gibt, der all seine Zimmer gesehen hat.
Durch diese Zugangsformen entsteht eine Realitätskonstruktion, die – zumindest der Theorie nach - auf meinen Angaben auf Liebes- und Beziehungsfragen des Visaverfahrens beruht. Auf sie wurde das Programm, im Doppelsinn des Wortes, abgestimmt. Am verunglückten Premierentag gab es zwar kein Device, aber doch stand immer jemand da, der mich ansprach, mitnahm, an einen Ort führte oder mir verschlossene Zimmer öffnen konnte und ich denke, dass dieser Eindruck, wahrgenommen und betreut zu werden, nicht nur mir als ehemaligem Beteiligten an diesem Projekt vermittelt wurde, sondern jedem Gast.
Ich sah eine Probe mit Theodor Currentzis und neben mir saß Brian Eno, der drei Tage später mit Currentzis und seinem Orchester ein gemeinsames Werk aufführen wird. Ich erlebe, wie Currentzis mit einer Flötenspielerin an einer winzigen Passage eines Stücks von Tschaikowski arbeitet – er singt ihr wieder und wieder vor, wie sie die Noten betonen soll, sie wiederholt die Passage und nach einigen langen Minuten läßt Currentzis das Orchester dann mit seinem großen Klang in die feine Stimmung hineinspielen. Die letzten vier Tage auf diesen Proben hätten sein Wirken als Musiker verändert, flüstert Brian Eno. Geht es nicht eine Nummer kleiner, frage ich mich. Aber es ist das, was man allenthalben aus dem Umfeld von Currentzis und Khrzhanovsky hört: Stets ist die Rede von Verwandlung, von grundbrechender Erfahrung. Beides sind Künstler, die sich Produktionswelten geschaffen haben, in denen sie vollkommen andere Regeln etablieren, die zu einer Erfahrung von Arbeit führen, die vollkommen Leben wird. Visionär und autoritär sind beide, Verführer und dem eigenen Verständnis nach Boss einer Struktur, in der sie absoluten Gehorsam fordern, aber eben auch vieles zu Tage fördern, das als kostbar erlebt wird.
Was der Eishammer in Sorokins Roman «Eis» ist, mit dem die verkrusteten Herzen der Ausgewählten freigeschlagen werden, sind für Khrzhanovsky seine Filme. Seine Filme sind Werkzeuge, so wie auch die Testgesellschaft am Set in Charkow kein Reenactment der Sowjetzeit war, sondern eine Freihandlungszone. Sie setzte die Gedanken, Kräfte, Schönheit und Traumata einer Gesellschaft im hier und heute frei und machte sie abbildbar. Die DAU-Installationen on tour wollten scheinbar ähnlich exterritoriale Zonen innerhalb der sie einladenden Städte schaffen, nicht, um dort Filme zu zeigen, sondern eine andere Gesellschaft und den Menschen, wie er sich dort zeigt.
Für Khrzhanovsky sind seine Filme ein Mittel, nicht das Ergebnis seiner Arbeit – anders ist der enorme Aufwand seiner DAU-Erfahrungswelten mit ihren Kinos, Laboren, schamanistischen Sessions, künstlerischen Ritualen und Verpflegungseinrichtungen, wie sie in Paris entstanden sind und noch an vielen anderen Städten entstehen sollen, kaum erklärbar. Von seinen Filmen denkt Khrzhanovsky, dass sie das Ayahuasca der Kunst sind: Starke Drogen, die nicht nur auf eine Reise führen, sondern tatsächlich verändernd wirken. Daher die Idee der Zuhörer-Boxen, in denen ein seelisch geschultes Personal, in Paris eine Crew von gecasteten Predigern, Sozialarbeitern oder Hospizkräften, mit den Besucherinnen und Besuchern über ihre Eindrücke nach der Sichtung der Filme spricht.
In meinem Fall entstand während dieses Auditing ein sehr direktes, aber nicht naives Gespräch über meine gemischten Eindrücke als Gast und Projekt-Vertrauter an diesem Abend und auch wenn Murat, wie mein Interviewer hieß, mich nach dem Aussehen meines Kinderzimmers gefragt hat, war unsere Begegnung am Ende keineswegs kindisch. Wenn es eines Tages diese Smartphones gibt, die mich durch das DAU-Areal navigieren, könnte ich sie nun benutzen, um das Listener-Gespräch mit diesem Gerät zu filmen. Eine Halterung ist dafür in der Box bereits angebracht und ich könnte mich also im Anschluss an die Filme selber wie einen Fremden im Film sehen, um weiter über mich nachzudenken. Wenn ich schließlich zustimme, geht dieser Film ins große DAU-Archiv über. Dann füttere ich also das Werk des Künstlers und verwische die Grenze zwischen ihm und mir, Rezeption und Produktion, Kunst und Leben ein weiteres Stück.
Wenn Konrad Weiß oder Karl Schlögel sagen, man solle die Filme Khrzhanovskys doch im Kino zeigen und den ganzen Aufwand rund herum beiseite lassen, blenden sie dabei aus, dass Khrzhanovsky mit seinem Film nicht einfach ein Ding herstellen wollte, das man projizieren oder streamen kann, sondern 2005 einen Prozess in Gang gesetzt hat, der zu diesem sozialen und filmischen Werk führt und aus diesem heraus wieder in die Welt.
Die russische, sehr eigentümliche Art, die Kunst wieder als Medium einer individuellen Transformation zu begreifen, führt auch bei Khrzhanovsy wieder über das Leiden. Khrzhanovsky ist der Raskolnikow unserer Zeit, der die heikle Frage stellt: Wenn Gott tot ist, vor wem soll ich mich fürchten? Wenn wir ohne Glaube leben, wer setzt uns Grenzen? So wie Raskolnikow der alten Pfandleiherin mit der Axt den Schädel spaltet, weil er es kann, fragt auch das Projekt DAU, was zum Vorschein kommt, wenn man den Menschen in die Brust schaut, die von Khrzhanovskys Filmen weit aufgerissen wird.
Wenn man in diese Seelen schaut, ist da Inzest, Gewalt, Verrat, Gier, Liebe, Einsamkeit, Genie, aber am Ende, was ist am Ende darin? Khrzhanovsky hat das Filmset, so sagt Vladimir Azhippo, einer seiner wichtigsten Protagonisten aus Charkow, in ein Gefängnis verwandelt, und an ein solches erinnert auch das Theatre de la Ville – in vielen Aspekten: Das durch die laufenden Bauarbeiten auf das Betonskelett freigelegte Theatre de la Ville wirkt wie ein roher Industriebau und an der Bar im Eingangsbereich bekommen die Besucherinnen und Besucher russisches Gefängnisessen aus Blechschüsseln und Aluminiumbechern. Der Check in, den ich am Folgetag erlebte, der Einschluss des eigenen Mobiltelefons und der Tasche, die Metalldetektoren, durch die man das Innere des Hauses betritt und die Allgegenwart von Aufsichten und sogenannten Mannequins, d.h. der lebensgroßen Puppen, die auf den ersten Blick nicht von den Lebenden zu unterscheiden sind, schafft eine seltsame Spannung, wie sie nur entsteht, wenn man sich nicht mehr sicher fühlt, nicht mehr frei.
Dies ist der Ausgangspunkt einer sehr weitreichenden Erfahrung – das zentrale Versprechen der liberalen Gesellschaft wie auch der einstigen Volksrepubliken im Osten, wird hier schon architektonisch suspendiert: Keiner der Gäste ist hier frei. Aber vielleicht kann er gerade deshalb die Freiheit finden? DAU hat jedes Haus in eine philosophisch, metaphorische Architektur verwandelt, die in den Treppenhäusern auf Wandtafeln abgebildet ist und das Gebäude als einen Organismus mit eigenen Bedeutungs- und Erkenntniskreisläufen zeigt, von denen auf jeder Etage in den Fluren große Schriftzüge künden.
Die Ebene mit dem großen Kinosaal, der sich in einer Arena aus nackten Betonstufen befindet, heißt «FUTURE». Von den oberen Reihen herab schaut man auf das entkernte Bühnenhaus. Frei im Raum schwebte eine große Leinwand, unter der sich der Abgrund der ausgebauten Orchesterwanne und Unterbühne erstreckt. Schräg hinter die Leinwand hat Khrzhanovskys Team einen imposanten Spiegel montiert, dank dessen das Publikum, sobald die Leinwand hochgezogen wurde, hinunter auf die Szene im Orchestergraben schauen kann, wo am ersten Abend das Keybordset eines Musikers stand, der später ein Konzert geben sollte. Dort unten stand an der Wand das Wort «GODS» geschrieben, so wie jeder Flur des Hauses eine Chiffre erhielt, die all die auf ihm gelegenen Räume einem Thema zuordnete.
Die zwei zentrale Treppenhäuser, die wie Blutbahnen die unterschiedlichen Erlebnisebenen verbinden, hießen «BODY» bzw. «BRAIN» und dazwischen lagen im Keller die Ebene «HISTORY» mit ihrem Archiv des ungeschnittenen Rohmaterials, das man sich in separaten Boxen anschauen konnte, und ein kleiner Screening Room unter dem Titel «INHERITING». Die Eingangsebene mit dem Security- und Merchandisingbereich, hieß «MOTHERHOOD», vielleicht weil sie die Gäste in diese fremde Welt aufnahm. Die Bar mit dem Gefängnisessen hieß «BETRAYL» und die «Listerner Booths», jene spiegelfolienverkleideten Auditing-Boxen auf der Zwischenetage gegenüber der Bar, hieß «REVOLUTION». In ihrer Mitte stand eine Engelsfigur aus dem Filmset von DAU, die dort in einem Raum des Physikers Landau stand.
Über dem zentralen Kinobefindet sich unter dem Motto «COMMUNISM» verschiedene Räume im Stil der Gemeinschaftswohnungen in sowjetischen Neubauten, zudem Laborräume und Zimmer für die aus dem Altai-Gebirge herbeigereisten Schamanen, mit denen Ilya Khrzhanovsky seit seiner Drehzeit in Charkow intensiv zusammenarbeitet. Über allem, befindet sich die Kuppel des Hauses, der einen Probensaal enthält und unter dem Motto «ANIMAL» steht. Durch die Adern und Environments dieser Flure wird man als Besucher und Besucherin hindurchgeleitet wie durch einen Freimaurertempel, und auch hier bestimmt das Ritual den Weg, nicht man selbst.
Das Werk DAU wird in diesem Theater wieder Raum, so wie es in Charkow aus dem Raum zum Werk wurde. Und das Werk DAU ist in jeder Zelle dieses Gebäudes immer mehr und etwas anderes als nur die Filme. DAU, das wird selbst an diesem fehlgeschlagenen Premierentag deutlich, wenn man sich durch die Zeichen und Arrangements des Gebäudes bewegt oder in der Installation «DAU-Ongoing» im Centre Pompidou befindet, will eine Passage sein, einen Übergang schaffen, der ein Erlebnis ermöglicht, das nicht nur Konsum ist, sondern, schwer zu sagen: Hingabe, Begegnung, Erfahrung.
Die meisten Environments im Theatere de la Ville waren an diesem verpatzten Premierenabend noch nicht fertig, aber selbst die verwaisten Gemeinschaftsräume der Kommunalkas, die im 3. Stock an die Charkower Institutsräume erinnern, bezeugen durch ihre Einrichtung noch sinnlich ihre Ideenwucht: Das historische Mobiliar der Stalinzeit mit seinen schweren Stoffen, Steinen und Farben lässt auch hier die Sowjetzeit wieder unmittelbar spürbar werden und mitten im rekonstruierten Institutsraum prangt ein russischer Bildteppich aus der Sammlung des Centre Pompidou, Kitsch und Pomp, Kunst und Dinge des täglichen Gebrauchs, all das steht unkommentiert nebeneinander, so wie man nur wenige Räume weiter plötzlich auf einem simplen Stuhl sitzt und ein sibirischer Schamane einem in die Seele reist und von da Wissen mitbringt, das niemand sonst erkunden kann.
Ja, an diesem verpatzten Weltpremierentag war die große Konstruktion aus erzählerischen Räumen, die zugleich ein leichtes Leben haben, so fragil, weil das Licht noch nicht eingerichtet war und die Bar noch nicht funktionierte und die Lampe des Projektors im großen Saal nach 40 Minuten ihren Geist aufgab, was fast schon ein Symptom war. Vielleicht ist alles nur Hochstapelei, dachte ich, als das Kino plötzlich nur eine Tonspur zeigte. Erst Mitte Dezember war die Genehmigung für die Bespielung der beiden Theater von der Pariser Stadtregierung erteilt worden: in den drei Wochen seither sollte nun ein Wunder entstehen – nicht mehr und nicht weniger hatte Ilya Khryszanovsky der Welt versprochen. Wer so antritt, ist dem Scheitern am Premierentag immer näher als dem Gelingen. Ich dachte an Christiano Ronaldo, der wie Khrzhanovsky seine Attitüde braucht, um diese besonderen Tore zu schießen. Aber wehe, er patzt.
Alles in diesem Gebäude ist Stück. Die Dingwelt der Räume ist liebevoll und zugleich latent monströs. Die Stühle der Bar sind Penis-Hocker und die Tische Vagina-Platten. Der Borschtsch im Blechnapf schmeckt, aber wer sind die jungen Männer in Uniform? In den Folgetagen sah ich die Vorbereitungen im noch geschlossenen Theatre Chatelet, das erst eine Woche später eröffnet wurde. Ursprünglich sollte es mit dem gegenüberliegenden Theatre de la Ville durch eine luftige Holzbrücke über den Platz hinweg verbunden werden, so dass man in Augenhöhe mit der vergoldeten Göttin auf der Spitze jener Steinsäule gelaufen wäre, um die herum der luftige Steg führen sollte. Aber die Pariser Behörden haben auch das aus Angst vor Terroranschlägen verboten.
Im Inneren des Chatelet, zu dem die Besucher nun durch Gästebetreuer geleitet wurden, wurde der Raum auf eine ganz ähnliche Weise als eine mentale Architektur organisiert – auch hier hatte jede Etage einen Namen, der Programm war wie Utopia oder Sex. Wiederum musste man durch einen Check In mit Metalldetektoren eintreten. Im unteren Foyer stand zwischen archaischen Lichtsäulen das aus Hunderten von Dominosteinen erbaute «Mausolée en os» von Yuri Avvakumov aus dem Bestand des Centre Pompidou, von dessen Sammlung auch zahlreiche weitere Arbeiten historischer und aktueller Avantgardekünstler aus Russland in den Kellerräumen und gekachelten Hinterzimmern der Foyersäle des Chatelet stammten. Im völlig entkernten Bühnenhaus des Chatelet war, so berichten einige Zuschauer, eine Arbeit von Philippe Parreno zu sehen, andere erzählen von Performances von Marina Abramowicz.
Im Backstagebereich des Chatelet sah ich eine komplett rot gestrichene Büroetage, in deren Räumen sich seit Monaten das Artdepartment, die Produktionleitung und das Synchronstudio des Projekts befand. Auch hier standen auf den Gängen lebensechte Doubles von Darstellerinnen und Darstellern diverser Filme. Die Produktionsräume waren, ähnlich wie zuvor bereits in Berlin, mit historischen Möbeln eingerichtet worden, so dass auch hier eine latente Set-Atmosphäre entstand, die leicht morbide war. Der durch Bert Neumann berühmt gewordene Porno-Shop aus der Rosa Luxemburgstraße, den Ilya Khrzhanovski, nach der Auflösung des Ladens, komplett für die Ausstattung seiner Berliner Büros aufgekauft hatte, tauchte hier wieder auf. Nach dem Scheitern des Berliner Projekts hatten die Künstler, aus Protest gegen das Verhalten der Berliner Beamten, die komplette untere Hälfte der roten Räume, inklusive der Bilder und Möbel, grau gestrichen – auch die farbenfrohen Wandgemälde, die sechs russische Künstler im großen Salon des Chatelet in wochenlanger Arbeit angefertigt hatten, um an die große Tradition des ballett russe an diesem Haus zu erinnern.
Vielleicht ist DAU trotz der Absage des Brückenbauprojekts durch die Pariser Behörden am Ende vor allem deshalb realisiert worden, die Berliner Absage eine Realisierung in Paris erzwungen hat. Auch wenn die Pariser Umstände widrig blieben und die Grenzen des für die Produktion bewältigbaren Veranstaltungspensums hier deutlich sichtbar wurden, ist das Projekt DAU doch ein Meilenstein und wahrscheinlich ein Kunstwerk neuen Typs.
Man kann Khrzhanovskys Konstrukt nicht in einem herkömmlichen Theater oder Kino aufführen und es ist auch mehr als nur eine soziale Praxis, denn es ist am Ende ein Purgatorium: Es will eine dunkle Läuterungserfahrung mit den Mitteln der Kunst sein – ein seltsames Menschenverwandlungsexperiment, das die Grenzen zwischen Leben und Werk, drinnen und draußen, produzieren und konsumieren auflöst. Es steht den Erfindungen des Silicon Valley näher als denen der Kunstgeschichte und hat mehr mit den von wirklichen Türstehern bewachten Clubs zu tun als mit Theater – in eben dieser Bandbreite des Immersiven ereignet sich hier etwas Neues, das man nicht erfasst, wenn man die einzelnen Elemente dieses sozialen Reaktors an ihre klassischen Repräsentationsorte zurückverweist. In DAU wird nichts mehr repräsentiert, sondern eine Reise angeboten, eine Mitgliedschaft, in der zumindest jeder Gast so weit geht, wie er will.
Hier finden Sie den unter dem Titel «Das Werk als Passage» veröffentlichten Essay bei Theater der Zeit.