«Die positive Kraft des Ostens stärken»

Gespräch mit Tomasz Kurianowicz

Tomasz Kurianowicz: Herr Oberender, Sie haben vor anderthalb Jahren in Athen einen Vortrag gehalten. Daraus ist ein aktuelles Buch entstanden mit dem Titel «Empowerment Ost». Wie verstehen Sie den Begriff? 

Thomas Oberender: Der Vortrag hieß eigentlich «Occupy History». In Athen, New York oder Brüssel dominiert die Wahrnehmung der jüngeren deutschen Geschichte als Geschichte einer westdeutschen Kontinuität. Dass es 1989 eine Revolution gab und danach sehr andersartige Erfahrungen mit der Wiedervereinigung in Ost und West, sorgt im Ausland oft für Staunen, gerade wenn es um die ostdeutsche Perspektive geht. Der Normalität der westdeutschen Sicht vom Aufbau Ost will ich eine eigene Sicht entgegenstellen – das meint, die eigene Geschichte selbst zu erzählen und die gefühlte Zweitklassigkeit abzuschütteln. Von westdeutschen Freunden hörte ich oft: Ich mag ja die Ossis, aber die hatten nun mal kein 1968, und das spürt man. Und dann sage ich: Aber dafür hatten sie 1989. Und das sollte man stärker spüren. 

Finden Sie die ostdeutsche Perspektive im gegenwärtigen Deutschland immer noch zu wenig berücksichtigt?

Ja. 2019 ermittelte eine Umfrage der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit, dass sich 57 Prozent der Menschen in Ostdeutschland als Bürger zweiter Klasse fühlen. Ich dachte: Wie bitte? Das kann doch nicht nur etwas mit Geld zu tun haben. Und für diese Situation versuche ich mehr Aufmerksamkeit und Verständnis zu entwickeln, und Wege, das zu überwinden. 

Für Sie hat ihre ostdeutsche Identität lange keine Rolle gespielt. Doch dann spürten Sie einen Schnitt. Was hat sich geändert?

Seit geraumer Zeit kommt mir das Attribut «ostdeutsch» stigmatisierend vor. Das hat viel mit der AfD, Pegida und dem endemischen Rechtsextremismus in Ostdeutschland zu tun. Wir haben uns an eine Sichtweise gewöhnt, die das ausschließlich mit der Vorgeschichte DDR erklärt. Aber dem ist nicht so. Es gibt die Traumata der Wiedervereinigung, aber eben auch die demokratische Mobilisierung einer ganzen Gesellschaft in den Wendejahren 1989/90. Die Sprache, nach der ich suche, ist nicht die des Opfers, sondern die eines Menschen, der selber Kämpfe bestanden hat. Außerdem möchte ich in einem Deutschland leben, wo ich nicht sofort belehrt werde, wenn ich gelegentlich auch über positive Erfahrungen in der DDR spreche, in der ich immerhin 23 Jahre gelebt habe.