«Angst in der Popmoderne»
Aspekte eines anderen Kulturverständnisses
von Thomas Oberender
Die siebziger Jahre waren ein Jahrzehnt der Schrecken: Guillaume-Skandal, die Ölkrise, Seveso und Deutschland im Herbst. Sie waren aber auch der Beginn der Spaßgesellschaft, die Ankunft von McDonald’s, Comics und «Star Wars». In einem von Amerika, PRILblumen, Plateauschuhen und Synthetikstoffen geprägten Alltag, breitete sich zugleich Angst aus, Verlustangst, Lebensangst oder Angst vor zuviel Neuem. Angst ist, wie der Spaß, ein Äther, ein Gas, etwas, das sich auf diffuse Weise ausbreitet, in allem mitschwingt. Angst wirkt, wie der Spaß, atmosphärisch.
Die Wahrnehmung der Angst erfolgt diffus, als «soziale Hintergrundstrahlung».
Auch die «Seele» eines modernen Unternehmens, sagt Gilles Deleuze, gleicht einem «Gas». Es ist diese «Seele», die alles durchdringende Idee oder Mission, die in modernen Unternehmen Zusammenhalt stiftet und für Dynamik sorgt. Diese Idee ist das Produkt und wird gelebt, als eine kulturelle Signatur, die für ein Weltbild und einen Lebensmodus steht, der von den Mitarbeitern wie von den Konsumenten geteilt wird. Ganz anders funktionierte noch die Fabrik des 19. Jahrhunderts. Sie brauchte geschlossene Räume und ein striktes Arbeitsregime, um das menschliche Naturell zu disziplinieren und die Arbeit zu einer sequenzierten, hoch spezialisierten und doch monotonen Tätigkeit zu machen. Jenseits dieser Einschluss-Mileus blieb sie wirkungslos, doch für diese Binnenatmosphäre der Produktion brauchte es die Fabrikmauern, all diese Boxen, in denen Menschen und Dinge fortan isoliert und eingesperrt wurden, von der Schule über die Kaserne, Klinik, das Gefängnis bis zum Kino. Doch daß die RAF 1993 den Rohbau eines Gefängnisses sprengte, war schon damals der Ausdruck eines altmodischen Feindbildes. Aus der Disziplinargesellschaft war, wie Foucault es beschrieb, inzwischen eine Kontrollgesellschaft geworden, die Menschen und Vorgänge permanent vermisst und kontrolliert, egal wo sie sich befinden. Gegen die systemische Wirkung der Rasterfahndung hilft kein Attentat.
Heute sind es unsere Daten und das Live-Regime digitaler Steuerprozesse, die im Alltag unbemerkt für Überwachung und Strafe sorgen. Wo die Disziplinargesellschaft exemplarisch den Körper drillte und uniformierte, steuert die Kontrollgesellschaft eher die psychische Disposition des Menschen und sein soziales Verhalten. Diese Formen laden ein zur Identifikation, sie beherrschen uns von innen. Irgendwann war es neu, dass bei Nike zu arbeiten und diese Produkte zu tragen, eine ganz eigene Lebensform sein schuf. Während unsere Eltern wie Tschechows Figuren noch Angst hatten, ihren Kirschgarten zu verlieren, ihre stabilen Orte der Kindheit und Familie, so entspringt unsere Angst eher der verlorenen Verbindung nach vorn. Neues Wissen, Trends, Moden, News und neue Technologien, all diese technologiebasierten Mikro-Fortschritte tragen in sich das vage Versprechen einer besseren Zukunft, die unsere Erinnerung an eine scheinbar bessere Kindheit abgelöst hat.
Wir wohnen im Wissen.
Wenn der Wandel in der Gesellschaft sich derart schnell vollzieht, verschwinden auch die «Kirschgärten» immer schneller. Es ist, als würde der Sturm nicht mehr aus dem Paradies wehen, sondern ein mächtiger Sog von der Zukunft ausgehen, der uns wie Motten ins Licht zieht. Gerade in Ostdeuschland ist dieser Sog in den 90er Jahren besonders stark zu spüren. Mit der innerdeutschen Mauer ging die symbolischste aller Grenzen verloren. Was geschieht, geschieht nun ohne Limit. Der Damm ist gebrochen. Und so markiert die Öffnung der Mauer nicht nur das Ende des Kalten Krieges, des stabilen Gegensinns, den die jeweiligen Lager im Angesicht ihres Feindes für sich erzeugten. Die Öffnung der Mauer und das Verschwinden des Ostblocks schmilzt nun auch den alten Westen davon. Dieser fast schon sozialistische Sozialstaat der Vor-Wende-Bundesrepublik wird neoliberalisiert, im Osten zuerst, eine neue Art von Kapitalismus entstand und der Widerstand dagegen scheint genauso verschwunden zu sein wie die russischen Panzer in den alten Kasernen.
Mit der Berliner Mauer fiel alles, was nicht fließt – eine alte Welt insgesamt in Ost und West: Statt der Mauern wachsen die Netze. Ist das dieser Moment nach der Geschichte? Wenn von den alten Feinden kein Schrecken mehr ausgeht und der auch der Markt keine Grenzen mehr duldet, beginnt ein neues Spiel. Gibt es wirklich keine andere Vision? «Wenn der Gang der Geschichte abbricht» – so lautet die erste Zeile aus W. H. Audens Poem «Weltzeitalter der Angst» aus dem Jahr 1947, «und Armeen mit ihren ehernen Debatten die nun folgende Leere ordnen, ohne ihr je einen Sinn verleihen zu können, wenn Notwendigkeit sich mit Entsetzen paart und Freiheit mit Langeweile, dann steht es gut um das Bargewerbe.»
Mit seinem Wissen aus der Nachkriegszeit verlegte Auden die Handlung seines Poems zurück in die letzten Monate des Zweiten Weltkrieges. Vier Menschen sitzen in einer Bar in New York am Abend vor Allerseelen und hören im Radio die Nachrichten vom Krieg. «Die Welt braucht ein Bad und reichlich Ruhe.» Angst, so zeigt es Auden, kommt ausgerechnet dann auf, wenn die Schrecken fern sind. Das ist paradox und trifft wahrscheinlich auch die Situation der 90er Jahre in Deutschland. Jetzt, im relativen Frieden ihrer Bar, spüren Audens Figuren, daß der Gegensatz dieses Schreckens, das absolut Gute, fehlt. Wie wird es weitergehen mit uns? «Lieber zugrunde gehn», heißt es bei Auden, «als uns ändern/lieber sterben in unserer Angst, als das Kreuz des Augenblicks/annehmen und auf unsere Illusionen verzichten.»
Haben wir, die Nachgeborenen dieses letzten großen Krieges und Zeugen des Verschwindens der von ihm geschaffenen Ordnung, haben wir das «Kreuz des Augenblicks» inzwischen zu tragen gelernt? Vielleicht ist die Loveparade nichts anderes als ein Tanz um dieses Kreuz. Den Augenblick annehmen. Sich in ihn hineinbegeben, bis in die Trance, bis in die Auflösung der Individualität, massenhaft, gemeinsam mit anderen, aber ohne Teil einer Bewegung zu sein, ohne Versprechen, ohne Illusionen. Die Musik der Loveparade ist eine Musik ohne Text. Die Musik verbindet sich hier mit der Bewegung im Sinne des Raves, der völligen, frohen Verausgabung, die sich in einer anderen Welt ereignet und ihr ereignet sich dise Musik-Tanz-Trance-Erfahrung eines pulsierenden Miteinanders.
Audens ließ seine Figuren ein «Denkfest» veranstalten, um ihrer Anst zu entgehen, eine Gedankenreise, der Versuch einer Aussprache. «Ich muß fort mit meinen/Schrecknissen, bis ich sie singen gelehrt habe.», sagt einer seiner Helden. Im Sonnenaufgang auf der Manhattan Bridge erkennt sie schließlich Gott als «stetes Gegenüber, dem all unser/Nichtwissen gilt». Das Heilige, als anwesend erlebt, entängstigt. Und diese Passage in Richtung des Sonnenaufgangs, diese gemeinsame Reise durch die Nacht, ist der Erfahrung eines Raves nicht unähnlich.
Angst ist das Gegenteil von Pop. Popkultur hat keine Angst. Sie kann ihre Schrecknisse singen. Popkultur ist Entängstigung. Pop ist die schöne Schwester von Intelligenz und Technik. Was heute High-Tech ist, wird morgen unweigerlich Pop, auf jedem Rummel, in jeder Show, in jedem Aufnahmestudio. Pop ist der Ort, an dem die Erfindungen umgeschlagen werden in Spaß. Und so scheint Pop dort zu Hause zu sein, wo die Macht wohnt, in den neuesten Technologien, in Unternehmen, Waren und Konsum. Pop kommt aus dem Untergrund und ergreift die Massen. Pop ist der ultimative Erfolg, ist das, was populär wird, ein Renner, ein Hit, eine Mode. Und alles, was zu Pop wird, wird zum Produkt. Pop ist kein Geheimtipp, sondern das, was alle kennen. Und deshalb besitzt Pop eine enorme Kraft. Pop ist die helle Seite der Angst.
Denn was Angst macht, bleibt immer diffus. Vielleicht ist die Mafia ein Modell für das, was Angst macht – ein gesichtsloses Netzwerk mit ungeschriebenen Gesetzen. Die Mafia unterwandert und überbrückt zugleich. Sie unterwandert öffentliche Strukturen und versorgt geheime Märkte. Sie ist das Beispiel für eine Macht ohne Projekt, ohne Ziel und Entwurf, außer mehr Geld zu verdienen. Die Mafia wächst scheinbar «wild» aus sich heraus und organisiert sich selbst. Der ostdeutsche Dichter Wolfgang Hilbig schaut auf den Kapitalismus ganz ähnlich wie auf die Mafia. Dieser Kapitalismus macht ihm Angst. Er blickt auf eine Welt, «die vollkommen ohne Alternative scheint». Wie seine Lessing-Preis-Rede von 1997 zeigt, wirkt Angst wie ein Helm aus Beton. Die Neutronenbombe wird bei Hilbig zur «kulturellen Idee der westlichen Zivilisation» und Marx zum «weitgehend tabuisierten Autor». Aus den Zeilen seiner Rede spricht ganz offen Westhass. Wenn schon die Butter aus Oldenburg kommt, warum auch noch die Regisseure?
Die DDR hatte erfolgreich versucht, die Kultur und die Traditionen der bürgerlichen Gesellschaft zum Verschwinden zu bringen. In der Kunst der DDR, der offiziellen wie auch der progressiven Avantgarde, fühle man sich dem Westen überlegen und schaute auf die bürgerlichen Figuren Ibsens immer mit dem bösen Blick der Komödie. Die Schrecknisse, die sie beschrieben, ihre Tragödien lagen in einer anderen, längst vergangenen Zeit. Im Vergleich zu dieser Hochkultur des Ostens war die Popkultur in der DDR tatsächlich viel mehr von den USA als von der Welt des Sozialismus geprägt. Die Popkultur ist immer Publikumsbegegnungskultur und sie ließ sich in der DDR nicht einfach vereinnahmen, sondern stand für eine von den Staats-Funktionären mißtrauisch beäugte Praxis. Was in der DDR populär wurde, konnte die Partei nicht vorherbestimmen. Sie konnte verbieten, aber Pop nicht kreieren. Was wirklich populär wurde, verhielt sich in diesem eingemauerten Land viel zu eigendynamisch, zu wenig zweckdienerisch und war mit einer autonomen, emotionalen Wahrheit verbunden, die Ressonanz im großen Massstab erzeugte.
Pop jammert nicht. Während die traditionelle Kultur auf die Vergangenheit referiert, greift Pop voraus und will das ultimativ Neue schaffen. Auf den Wagen der Loveparade tanzen die künftigen Menschen, wie sie die Comics und Science-fiction einst entworfen haben. Körper als Schönheitsmaschinen, als Einzelne, die in der Erfahrung des Mediums eine große Gemeinschaften und eigene Codes bilden. Jeder Künstler, so schreibt Larry Beinhart in seinem Roman «American Hero», ist ein Jazzmusiker und läßt neue Riffs über alte Melodien laufen, weil die alten Melodien Ikonen, Verweise, kulturelle Übereinkünfte sind - sie bilden die Sprache der Menschen dieser Welt.
So schafft die Popkultur Mythen und Stars. Pop ist eine industrialisierte Volkskultur, etwas, das den Durchbruch beim großen Publikum findet, und doch erlischt die Aura und das Glitzern der Stars, sobald sie nur noch den Markt bedienen oder nicht mehr überraschen. Um diese Stars und Ikonen entsteht eine Industrie, die größere Formate ermöglicht und Ressourcen ins Spiel bringt, die über das Genie des Künstlers hinausgehen, es fördern und bedrohen und ein Netz synthetischer Welten gegen die Angst um diese Figuren herum entstehen läßt: Disneyworld, Las Vegas, der Cyberspace.
Spaß ist an diesen Orten dieses seltsame Fluidum, das einer anderen Welt zu entströmen scheint, einer Welt, in der das Leben synthetisch nachgebaut und in kontrollierte Milieus übersetzt wird. Pop baut Welten. Wenn etwas Pop wird, ist das kein Triumph unmittelbarer Natürlichkeit, sondern der Effekt von große Theater, etwas, das aus einer gewissen Ferne zu uns spricht. Der Film «Synthetic Pleasures» von Iara Lee zeigt solche kontrollierten Milieus gegen die Angst. Er reist an künstliche Karibikstrände oder verschneite Gebirgshänge unter metallenen Dächern in der Großstadt. Pop ist das Machbare und reist immer ans äußerste Ende dieser gemachten Welten, um hier das Unmögliche zu finden.
Vielleicht stimmt es, daß Pop die erste nachchristliche Universalkultur ist. Pop vermittelt die Erfahrung von Glück als etwas Machbares. In mehrfacher Hinsicht machbar - als ästhetische Erfahrung, als Erfahrung von Gemeinschaft, aber auch als Erfahrung gastfreundlicher Milieus und sicherer Orte. Pop schafft Kultur, Trost und Gedächtnis auf der Basis von Freiwilligkeit.
Seine Mythenumschrift ist der fortgesetzte Versuch einer paradoxen, aber noch immer verführerischen Emanzipation. Die Popkultur ist einerseits das Gewand des erfolgreichen Marktes. Pop schafft weltweit den Code für die Teilhabe am Glück. Aber er ist, auch wenn seine Stars als Rebellen erscheinen, durch seinen intrinsischen Zug ins Neue, Zukünftige, durch seinen Willen zum Erfolg und seine Allianz mit den innovativen Technologien und Kräften der Industrie eine Kultur, die aus der Gegenkultur zu einer Form von ewig progressivem Treiben wurde. Pop ist heute die mentale Form der Bürgerlichkeit und nicht loszulösen vom Markt, von Standards und dem gleichzeitigen Drang, disruptiv zu wirken.
Was Pop wird, ist oft eine Art Game Changer. Die neue Sprache eines Künstlers oder Funktionsweise eines Produkts vervielfacht sich schlagartig und erzielen eine breite Wirkung. Pop ist also stark an das Moment des Erfolgs eben dieses Neuen, Eigenen, Fremden geknüpft und schenkt dieses Moment weiter, läßt es durch die Adern der Gesellschaft ziehen, als ein Lied oder Spiel. Und so, wie sich auch die Angst wie ein «Gas» durch die feinen Adern der Gesellschaft zieht, unstofflich und atmosphärisch, verbreitet sich die Wirkung von Pop auch bis in die kleinsten Poren des Sozialen und vor allem auch des eigenen Körpers. Pop verbindet, erzeugt Rausch und etwas Dionysisches. Er schafft eine Philosophie des Augenblicks, ohne System und Dogma. Letztlich geht es um eine Erfahrung von Verbundenheit mit etwas, das einfach zu verstehen ist und das trotzdem eine komplexe Welt abbildet, die wie Landung eines Ufos eine Welle des Verstehens von dem auslöst, was neu und dringlich ist. Im Pop wird der Rebell zum alle seine Gäste Beschenkenden und gibt weiter, was plötzlich allen gehört, allen, die es sehen und hören wollen.