«Pantoffelgrün»
Das Ruhrgebiet, das bleibt.
von Thomas Oberender
Die Ehen der letzten drei Intendanten, die in den vorausgegangenen Jahrzehnten das Theaterleben am Bochumer Schauspielhaus geprägt hatten, waren während ihrer Amtszeit zerbrochen und so geriet auch erste Ehe des Intendanten, bei dem ich dort arbeiten wollte, in Auflösung, als sein Umzug ins Ruhrgebiet anstand. Wie seine hat auch meine Frau hat plötzlich geweint, als wir an einem regnerischen Tag im Auto durch Bochum fuhren. Als wir sechs Jahre später die Koffer packten, um nach Österreich zu ziehen, hat sie ein zweites Mal geweint. Diesmal, weil wir nicht weg wollten. Das Bochumer Schauspielhaus ist ein Theaterbau von seltener Schönheit. Wir waren ein Grüppchen einander relativ fremder Theaterleute aus Berlin und Hamburg, München, Leipzig oder Wien, die dort zu arbeiten anfingen und Matthias Hartmann hatte uns wie Blumen am Wegesrand seiner Theaterlaufbahn gepflückt und schließlich ins Revier getragen. Da waren wir also und dachten, wir wüssten, wo.
Von Österreich aus betrachtet kann man sich das Ruhrgebiet so vorstellen, als ob Linz unmittelbar an Innsbruck grenzt und übergeht in St. Pölten, das wiederum an Graz stößt und von Eisenstadt kaum zu unterscheiden ist. Nur mit dem Unterschied, dass in diesem Großraum innerhalb Nordrhein-Westfalens zehn Millionen Menschen leben, weit mehr als in ganz Österreich insgesamt, und hier besserer Fußball gespielt wird. Vielleicht ist das Ruhrgebiet tatsächlich vorstellbar als ein riesiges «Linz», dem der Ruf der staubigen Stahlstadt anhängt, obwohl auch sie längst die Wende von der Industriekultur zur Kulturindustrie vollzogen hat, die Ars Electronica und das Filmfestival Crossing Europe veranstaltet und nur noch saubere Abwässer in die Donau leitet. In dieses riesige «Linz» passt die Fläche des Bundeslandes Wien mehr als zehnmal. Aber was sagt das?
Das Ruhrgebiet ist eines der fünf größten Ballungsgebiete Europas, doch wenn man in einer seiner Städte wohnt, lebt man im Kleinen. Immer in Sichtweite zum eigenen Kirchturm, Theater, Museum, Fußballverein und Bahnhof. Als Ruhrgebietler empfindet sich der Bochumer erst, wenn Dortmund gegen München spielt. Zum Großraum hat das Ruhrgebiet der Dreck gemacht, Arbeit, Kohle, Erz und Stahl – und seit der vom Ruß getrübte Himmel in den späten Sechzigern wieder blau wurde, zerfällt es in seine Regionen, die durch ein chaotisches Autobahnnetz verbunden werden, und durch den starken Mythos seiner Vergangenheit, die bis heute eine übergreifende Mentalität hervorbringt. Aus jener Zeit stammen die Terrakottakacheln an den Hausfassaden – einmal im Jahr wurden sie abgewaschen und waren wieder für ein paar Monate hell.
Als wir in Bochum anfingen, überlegten wir, wie man auf die Geschichte und den Wandel dieser Region mit unserem Theater reagieren kann. Insgeheim, sagte ein dort ansässiger Kollege, hofft hier, trotz Strukturwandel und Zukunftsplänen, jeder, dass man nur fünf Meter tiefer graben muss, und dann ist sie wieder da – die Kohle, die Welt von gestern, der Stolz aufs Revier. Der Bergbau und die Stahlindustrie brachten solidarische Berufe hervor: Unter Tage «Kohle machen» – das ging nie allein. Und diese Arbeitswelt schuf einen eigenen, zackigen Dialekt, der half, den Krach der Maschinen zu übertönen. Im Ruhrgebiet verschmolzen nicht nur Erze, sondern auch Zuwanderergenerationen aus Polen, Italien und Russland, deren Namen bis heute die Klingelschilder tragen. Wer hier geboren wird, bleibt. Auch wenn er, wie Ralf Rothmann, seine wunderbaren Bücher über diese Region erst in Berlin schreibt.
Von hier kamen die Kohlezüge, die den Rest des Landes in den Nachkriegswintern vorm Erfrieren bewarten. In jener Zeit entstand der Mythos vom Pott und eine nüchterne Haltung zu den menschlichen Realitäten, die das Ruhrgebiet bis heute prägt: körperlicher Schweiß ist eine Währung in bar und Anstrengung ein Wert, der als solcher geachtet wird. Wenn der Besucher aus Berlin in Duisburg aus dem Zug steigt, staunt er, dass die Menschen ihm direkt ins Gesicht schauen. Anders als Hamburg, München oder Wien ist das Ruhrgebiet ein Lebensraum ohne Eliten, egalitär und offen. Es ist ein Großraum im Umbruch, und eine von Dünkel freiere Luft als hier wird man in Deutschland nirgendwo atmen. Hier atmete Gerard Mortier nach seinen Salzburger Jahren auf und verschmolz das Pathos der riesigen Bochumer Jahrhunderthalle oder der Duisburger Kraftzentrale mit den Kunstwerken von Berlioz, Boltanski, Kabakov und La Fura del Baus. Dass der rußschwarze Himmel, als er sich verzog, Arbeitslosigkeit hinterließ, gewaltige Industriebrachen und die Notwendigkeit, sich selbst neu zu erfinden, prägt seit vierzig Jahren die Geschichte der Region. Und zu ihrem Kampf um Zukunft gehört nicht nur, dass hier, als die Zechen starben, Universitäten und Festivals gegründet wurden, sondern auch, dass die architektonischen Spuren jener Zeit, da der Pott zum Mythos wurde, kaum mehr Wertschätzung erfahren und verschwinden.
Wien beispielsweise hat eine Geschichte vor der Industriegeschichte. In Essen, Bochum, Duisburg, Dortmund oder Gelsenkirchen gibt es kein «Davor,» aus dem sich eine neue Identität speisen ließe. Nach dem zweiten Weltkrieg, als das Ruhrgebiet den Motor des deutschen Wirtschaftswunders ins Laufen brachte, entstand es ein zweites Mal und zugleich völlig neu. Damals befreite man sich mit den Trümmern von der letzten, noch übrig gebliebenen Substanz aus vorindustrieller Zeit - den engen Gassen im Ortskern und Fachwerkhäusern, und so entstanden einander zum verwechseln ähnelnde «Citys» mit mehrspurigen Ringstraßen nach amerikanischem Modell und sich kreuzenden Alleen in der Rasterbebauung entlang der Fußgängerzonen. Die Umstände der Wiedergeburt des Ruhrgebiets wirken auf den Fotos aus jenen Jahren noch heute schockierend. Sie zeigen eine Landschaft aus Ruinen und Demontagehalden in einer von ausgebombten Familien, Flüchtlingen und Kriegsheimkehrern überforderten Region, in der es nur eines gab: Arbeit und eine historische Stunde Null.
In dieses «Loch der Geschichte» strömten alle Überlebenskräfte einer geschlagenen Nation, und wenig später auch jene, die im kriegsverarmten Europa nach Lohn und Zukunft suchten. Es war die Zeit der Notkirchen und Behelfsunterkünfte aus Blech. In einem ehemaligen Steinbruch, keine zehn Minuten vom Bochumer Schauspielhaus entfernt, wurde der Trümmerschutt der gesamten Innenstadt begraben, bis sich, wegen der Unmasse an Material, darauf jener Hügel erhob, der bis heute die Mitte eines kleinen Parks bildet. So entstand ein Denkmal, das sich tief in die Erde senkt und wo man die Trümmer beiseite geschafft hatte, wurden jene neuen Siedlungen errichtet, die inzwischen wieder am Verschwinden sind. Als das Bochumer Schauspielhaus 2003 das fünfzigjährige Jubiläum seiner Wiedererrichtung feierte, gingen wir mit einem Denkmalschützer und Fotografen auf die Spurensuche nach den Bauten jener Jahre.
«Kommen Sie hier entlang.», sagte Prokurist der Wohnungsgesellschaft, und führte uns durch die kleine Siedlung, die baulich kaum verändert wurde, zu einer Wiese hinter den Häusern. «Die besondere Farbigkeit der fünfziger Jahre, mit ihren bunten Autos und Möbeln, gab es hier nicht.», erklärte er angesichts der vier tristen, heute hellbeige gestrichenen Wohnblöcke, hinter denen wir auf eine lange Reihe torartiger Stahlrahmen schauten, zwischen denen sich früher die Wäscheleinen der Bewohner spannten. «Hier haben wir,» sagt der Prokurist, «damals herrlich gebolzt. Immer in Duftweite des Mittagessens und irgendwo saß jemand in der Sonne und hatte ein Auge auf uns.» Am Rand der Wiese erheben sich heute imposante Tannen, Birken und Kastanien. Unter ihren Kronen und hinter hohen Sträuchern verbergen sich kleine Lauben: Eine Finnhütte, vor der ein großer Gartenzwerg wacht, ein rotes Gartenhäuschen aus zigfach gestrichenen Brettern, um das ein kniehohes Zäunchen gezogen ist und neben ihr steht eine Reihe neuer Lauben aus dem Baumarkt, manche mit Vordach, andere mit Blumengärtchen. Am Feierabend und am Wochenende wechselt das Familienleben noch immer hinaus ins Grüne hinterm Haus, zum Kaffee in die Laube.
«Pantoffelgrün,» sagte der Prokurist, «die Leute wohnen hier nicht nur in ihren Zimmern und,» fügte er hinzu, «es sind immer noch dieselben Leute.» Er führte uns auf den großen Platz im Zentrum der Siedlung, der von der schmalen Ringstraße und zwei Häuserzeilen an den Stirnseiten umschlossen wird. Die Wiese hat die Größe eines kleinen Fußballfeldes und ein Schild warnt vor dem Betreten des Rasens, unterschrieben mit: «Der Eigentümer.» Auf dem freien Platz feiern im Sommer die Bewohner bis heute Nachbarschaftsfeste, denn die damals schnell und billig entstandenen Arbeitersiedlungen sollten nicht nur den Mangel an Wohnraum beheben, sondern waren zugleich auf ein gemeinschaftliches Leben hin entworfen, das an diesem Ort die Zeiten scheinbar überdauert hat. «Früher,» sagte der Prokurist, «mussten wir Kinder, wenn wir den Rasen unerlaubt betraten, an den Hausmeister Strafe zahlen.» Dies mutet merkwürdig an, denn bis auf ein Ball spielendes Mädchen wirkt die Siedlung eher wie eine Altersresidenz und ist vollkommen still. Im Vorübergehen weist er uns auf die exotischen Bäume hin, die von den Bergarbeitern am Wegesrand gepflanzt wurden und der Anlage inzwischen den Charakter eines gepflegten Bürgerparks verleihen.
Hinter der angrenzenden Häuserzeile entdecken wir eine kunstvoll geschnittene, hohe Zierhecke, die sich, wie beim Näherkommen sichtbar wird, aus unterschiedlichen Segmenten zusammensetzt. Auf eine Länge von jeweils sechs bis acht Metern haben sich die Hausbewohner neben der Gemeinschaftswiese durch die Heckenpflanzungen kleine Separees geschaffen, von denen manche nur durch exakt beschnittene Tore zu betreten sind. Während die eine Hecke mannshoch ist und an den Eckpunkten von runden Laubtürmchen geschmückt wird, hat eine andere neben dem grünen Torbogen spitze Säulen aus südländischen Stauden. Es gibt zahlreiche Varianten dieser Separees und vor ihnen, auf der breiten Wiese, stehen wiederum lange Reihen von Wäschetoren und sogar eine Kinderschaukel. Auf dieser Wiese haben sich in den ersten Jahren der Siedlung, so der Prokurist, die Nutzgärten der Bewohner befunden und während er dies erklärte, fuhr er, wie um im dem Gras nach Spuren zu suchen, mit dem angehobenen Fuß leicht über die Spitzen des Grases. «Das Gemüse und Obst wurde von den Frauen gemeinsam geerntet, eingekocht und in den Kellern gelagert.», erklärt er. Heute ist die Gemeinschaftsfläche mit den Wäschestangen und der Schaukel das letzte Relikt jener Jahre.
Der Prokurist von Bochums größter Wohnungsverwaltung, der längst aufgeraucht hat, hielt den ausgeglühten Filter seiner Zigarette in der Hand, weil er ihn hier nirgends auf den Boden werfen mochte. «Es gibt nichts Schlimmeres als Eigentümer,» sagte er, und schaute mir unverwandt ins Gesicht, das wohl etwas verdutzt wirken musste; er schaute mich jedoch weiter an, als ließe sich dieser Wahrheit nichts hinzufügen. «Ja.», sagte er schließlich: «Wir haben mehrere Siedlungen wie diese umgewandelt und das erste, was die Menschen, die dreißig Jahre freundlich zusammen lebten, gemacht haben, war, sich ihre Parzellen abzutrennen, Zäune zu ziehen, und vorbei war es mit diesem Bild und gemeinschaftlichen Lebensgefühl.» Wir schauten einen Moment schweigend auf die Grünanlage wie auf ein Wunder. «Sobald diese Wohnungen privatisiert werden,» hob er wieder an, «wird es all das nicht mehr geben.» Diese Inseln der Individualität hinter den dichten Hecken sind ein Zugeständnis der Gemeinschaft an den Einzelnen und sie konnte sich jeder nur verschaffen, weil er wusste, dass er auf die Duldung des anderen angewiesen ist. So bewahrte sich zwischen breiter Wiese und den Separees ein Gleichgewicht aus Miteinander und Absonderung, dessen Spielregeln nur durch die Pflicht zum Teilen gewahrt werden. Ich versuchte, mir die Gemüsegärten vorzustellen, die spielenden Kinder und Grillfeste auf der Wiese, während im Hintergrund die lange Front der schmucklosen Häuser in der Abendsonne leuchtete und mich an Wehrmachtskasernen erinnerte. Die Geländer der Kellerabgänge warfen auf dem Rasen inzwischen lange Schatten und als wir zurück zu unseren Autos gingen, schnipste Herr Hildebrandt, der freundliche Prokurist, endlich den Filter seiner längst aufgerauchten Zigarette in den Straßenrand.
Einen Tag später, auf dem Fernsehturm im Dortmunder Westfalenpark, schaute ich auf das Panorama dieser Industrielandschaft und konnte, ähnlich wie beim Blick vom Bochumer Bismarckturm, nur staunen, wie grün das Ruhrgebiet ist. Die Antwort auf den Rauch aus den Schloten und die Gefahr unter Tage war in dieser Region stets die Sehnsucht nach Natur und Gemeinschaft. Die Parks und Parzellen waren das Gegengift zu den Wolken aus Erzstaub über den Hütten, die Enge der Häuser, die Monotonie der Arbeit, die Finsternis unter Tage und den Dreck in der Lunge. Heute, nachdem die Standorte der Großindustrie immer kleiner geworden sind, ist vom Schmutz jener Jahre vor allem das erholsame Grün geblieben. Das Ruhrgebiet ist, entgegen seiner Klischees, eine Region mit hoher Lebensqualität – mit romantischen Seen, weit verzweigten Kanälen und Landschaftsschutzgebieten. Die Vielfalt und Dichte seiner kulturellen Einrichtungen ist einzigartig in Europa. Und die Niederlande, Belgien und Frankreich sind nah - in zweieinhalb Autostunden ist man von Bochum am Meer. All das aber verleiht der Region nur einen modernen, sekundären Reiz. Ihre Mentalität ist ihr eigentlicher Trumpf und sie entstand auf einem anderen Boden.
Die Zürcher, so lernte ich in der Schweiz, zeigen ihren Wohlstand kaum her und tragen, wie man sagt, die Diamanten unter ihren Schuhsohlen. Die Bewohner des Ruhrgebiets hingegen, egal aus welchen Schichten sie stammen, tragen unter ihren Sohlen das «Pantoffelgrün» ihrer Region. Es ist ein Sinnbild, auch weil der Mann, der uns die Augen dafür öffnete und darauf noch immer keinen Zigarettenstummel wegwerfen kann, damit beschäftigt ist, es zu verkaufen. Das Unternehmertum und der Erfindergeist großer Industrieller haben in dieser Region die titanischen Kräfte des 20. Jahrhunderts entfesselt und gegen die Monotonisierung dieser Welt entstand die «inoffizielle Kultur» der Taubenzüchter, der zahllosen Vereine und Kneipen. Die elementaren Gewalten, denen sich die Menschen in den Bergwerken und Stahlkochereien über Generationen hinweg ausgesetzt haben, waren immer zu bedrohlich für den Einzelnen und konfrontierten die Menschen mit einem Schicksal, das man nur solidarisch meistern oder ertragen konnte. Das «Pantoffelgrün» ist die Kehrseite dieser Entfesselung der Elemente – das machbare Glück in Grün, zu dem Ordnung gehört, auch Unterordnung, das Verbrennen der Lebenslust im Suff und bescheidenem Konsum, der Halt der Familie und der feste Wille, für sich das Beste daraus zu machen.
Späterhin wurde all das, was in der «goldenen Zeit» des Ruhrgebiets errichtet wurde, zu klein für die großen Erfolge jener Jahre: Das Bochumer Schauspielhaus, 1953 eröffnet, erhielt mit den Kammerspielen in den sechziger Jahren eine zweite Bühne und an die lichten Schulen und Gesundheitsämter mit ihren eindrucksvollen Treppenhäusern, Aulen und Foyers wurden praktische Erweiterungsbauten angefügt. Auch das äußerst elegante, modernistische Interieur verschwand im Zuge der stetigen «Verbesserungen» oder gleich ganz unter der Abrissbirne. Ich bin sicher, dass die Relikte jener Zeit, selbst die heute nur mehr von Alten bewohnten Siedlungen der zweiten, bundesdeutschen Gründerzeit, bald eine neue Wertschätzung erfahren werden. Die Mentalität dieser Region, die es immer eher mit den Kämpfenden hält als mit den Gewinnern, hat in der zweiten und dritten Generation überlebt und bringt noch immer ein besonderes Verhältnis zum privaten Glück und der Offenheit für den Fremden hervor, sofern er sich bewährt. Es brauchte einige Jahre, bis wir im Ruhrgebiet angekommen sind, d.h. bevor es in uns angekommen ist, lange nachdem wir von ihm aufgenommen wurden. Das «Pantoffelgrün», das ich im Vorüberfahren nicht habe sehen können, ist jenes Ruhrgebiet, das inmitten all des Wandels bleibt.