Die aktuelle Corona-bedingte Krise zwingt auch das Haus der Berliner Festspiele zum Stillstand – zumindest, was den Bühnenbetrieb betrifft. Ein Gespräch mit Intendant Thomas Oberender über das Erleben von Kunst, über Lernprozesse und kritische Gedanken zur Produktion im Kultur- und Festivalbetrieb.
Auch das für zwei Wochen im Mai geplante Theatertreffen in Berlin musste wegen des Lockdowns abgesagt werden. Stattdessen gab es vom 1. bis zum 9. Mai das Theatertreffen virtuell, diese Special Edition zeigte sechs Inszenierungen aus der 10er-Auswahl als Mitschnitte on demand. Ein Experiment, das zum Erfolg wurde, stellt man im Haus der Festspiele fest: Über 122.000 Mal wurden die Streamings des virtuellen Theatertreffens bisher abgerufen. Die Zwangspause nutzt man nun auch, um die bereits 2010 begonnene energetische und technische Generalsanierung etwas früher zu beginnen.
Irmgard Berner: Es scheint viel los zu sein, trotz der erzwungen spielfreien Zeit. Wie geht es Ihnen in dem Lockdown?
Ja, es ist schrecklich, ich bin seit früh um 10 Uhr durchgehend am Telefonieren. Wir als Festspiele sind ja eine spezielle Struktur, kein Repertoiretheater, und wenn für uns Veranstaltungen wegbrechen – sei es eine Ausstellung oder ein Festival –, liegt mindestens ein Jahr Vorbereitungszeit dahinter. Und das ist schon kompliziert. Die MärzMusik mussten wir als erstes ganz kurzfristig absagen, das Musikfest (29. August bis 27. September, Anm.) bereiten wir gerade vor, da läuft der Vorverkauf. Aber wir wissen eben nichts Genaues. Für August wissen wir, dass wir in den großen Sälen keine Vorstellungen und Konzerte machen können. Wie aber geht man damit um, wie reagieren die Berliner Orchester und wie die internationalen? Platzen alle Tourneen – und kommen die überhaupt noch über die Grenze und nach Berlin? Tausend Fragen ergeben sich daraus. Die ganzen Tournee-Planungen implodieren gerade.
TO: Ich möchte mir nicht vorstellen müssen, in welchen Zwickmühlen Sie stecken. Den Künstlern geht es schlimmer. Ich bin Gehaltsempfänger und wirklich dankbar dafür, in so einer Institution arbeiten zu können. Mein Mitgefühl ist sehr auf Seiten der Künstler und freien Mitarbeiter und Dienstleister, mit denen wir arbeiten. Das ist schon wirklich eine schwere Zeit.
Die fallen zum Teil ja fast ins Nichts – trotz Corona-Zuschuss und Soforthilfe für Solo-Selbständige?
Ich weiß nicht, ob die ins Nichts fallen, da bin ich froh, dass wir nicht in Amerika sind. Das Quälende ist die unsichere Perspektive, ich will nicht sagen Perspektivlosigkeit, und dass weder ein Ende noch die dann herrschenden Bedingungen absehbar sind. Das ist, glaube ich, noch viel schwerer zu ertragen, als die aktuelle Situation – da weiß man, dass es schwierig ist. Jetzt haben die Menschen ein wenig Puffer, es gibt diese Hilfen und zur Not Hartz IV. Aber dass man nicht weiß, wie und unter was für Umständen das wieder in die Gänge kommt, was sich überhaupt ändert! Das ist, glaube ich, für viele Menschen sehr herausfordernd. Auch für viele Institutionen.
Vieles kommt durch diese Krise auf den Prüfstand – künstlerisch, inhaltlich und institutionell. Sehen Sie auch Hoffnungsschimmer?
Das Interessante ist, dass es, ich würde sagen bei der Hälfte der Akteure und Akteurinnen, so ein Gefühl gibt: Einfach zurück, wäre auch falsch! Viele fragen, wann geht es endlich wieder los? Aber es gibt auch diejenigen, die sagen, so wie es aufgehört hat, wird es einfach nicht weitergehen. Darin liegt ein Hoffnungsaspekt, der sich mit dieser Corona-Krise verbindet.
Solange es keinen Impfstoff gibt, dauert die Krise an. Aber zeichnen sich nicht jetzt schon überdenkenswerte Hinweise ab?
Ja, das dauert noch eine Weile, und vieles wird durch die Zwangspause, die uns auferlegt ist durch das Virus, weniger selbstverständlich, als es war. Damit meine ich nicht nur, dass all die Gig-Worker, die Freischaffenden, merken, dass sie gar nicht so unabhängig sind, wie sie glaubten, sondern extrem abhängig. Das, was man freie Arbeit genannt hat, kriegt jetzt plötzlich ganz andere Vorzeichen. Das ist das eine. Aber man sieht auch, wie der ökonomische Virus in alles eindringt, und man nimmt die Freiräume wahr, über Dinge mal ganz anders nachzudenken: Wie ist unsere Arbeitssituation? Wäre es nicht fruchtbar, die Homeoffice-Situation nicht total zu beenden, sobald das Virus weg ist, sondern vielleicht bestimmte Erfahrungen zu verstetigen, die wir darin gelernt haben – auch was das Bildungssystem betrifft? Wenn ich an die Theater denke: Im Moment werden Bühnenbilder virtuell präsentiert. Es gibt einen großen Schub an Durchsetzung von Technologieaspekten in unserer Arbeit, die vorher nicht so zum Zuge kommen konnten, und zu sagen: für die Umwelt ist es einfach besser, wenn nicht für alles Reisen unternommen werden, sondern wenn das eine oder andere eben auf digitalem Wege passiert. Es gibt also nicht nur Nachteile, es gibt auch Vorteile. Es wird Lernprozesse geben aus dieser Krise, die das alles sehr verändern. Im wirtschaftlichen Bereich denke ich, dass wir die Frage der Nachhaltigkeit mehr beachten in Zukunft, als wir es augenblicklich tun, und dazu zählt reisen und die Frage, inwieweit es wirklich berechtigt ist, dass wir so viel in Flugzeugen oder Autos sitzen. Das betrifft ja die Festivalwelt noch viel stärker als das Repertoiretheater.
Zudem hängt ein Riesentross mit in der Reiseschleife. Neben den Künstlern sind es Leute aus den Apparaten, wir aus den Medien …
… die Kuratoren, die technischen Leiter, die Leute von den Produktionen, auch in der Ausstellungswelt. Wollen wir das eigentlich noch als normal empfinden, dass wir tonnenweise Kohlendioxyd in die Luft pusten, um einmal in New York zu gucken, ob uns ein Konzert gefällt oder eine Ausstellung? Und dann schicken wir für zwei oder drei Monate Ausstellungslaufzeit riesige Container über die Weltmeere! Viele Sachen werden für mich fragwürdig. Aber das waren sie auch schon vor der Corona-Krise und wird jetzt eher verstärkt – das Nachdenken über den Virus Wirtschaft.
In diese Problematik ist Corona mit anhaltender Wucht eingeschlagen …
Ja, das hätte keine Greta Thunberg geschafft – immer im Eingedenken der Corona-Toten und der vielen Menschen, die das als Krise existenziell erschüttert. Aber trotzdem ist es eine in der Welt einzigartige Situation, plötzlich sind auf allen Kontinenten alle Menschen mit der gleichen Thematik beschäftigt – nicht nur in der Suche nach einem Impfstoff. Es ist auch ein Check der Sozial- und Wirtschaftssysteme, der politischen Systeme – all das passiert gleichzeitig! Und so viele Menschen denken darüber im gleichen Augenblick nach, das ist irre!
Ja. Faktisch gibt es ein Vor-der-Krise und ein Danach – und wir stecken jetzt mitten drin. Ist es nicht fatal, dass da ausgerechnet für das Theater ein Vakuum entsteht, weil das Ausgesperrtsein von der Bühne es unmöglich macht, sich lebendig mit der Krise auseinanderzusetzen und am Puls der Zeit zu agieren? Glauben Sie, dass es einen kreativen Schub geben wird für das Nachdenken, Stückeschreiben?
Theater ist ein relativ schnelles Medium und natürlich wird auf der Bühne bald jede Menge Corona-Verarbeitung zu sehen sein, auf direkte und indirekte Art. Wie es das Theater als aktuelles Medium immer macht. Auch wenn es Richard III. präsentiert, ist es ein zeitgenössisches Medium, weil es aus dem Tag heraus lebt und produziert. Für jeden Film braucht es ein Dreivierteljahr Vorbereitung und ein halbes Jahr Drehzeit und bei uns sind wir nach sechs Wochen am Start mit ihrer Sicht der Welt. Das ist das Irre. Andererseits denke ich, dass gerade die Hysteriker am Theater jetzt eine Zwangspause machen müssen, ist super. Alle haben sich bis in den Burnout in diesen Hamsterrädern verausgabt, überall gibt es Produktionssteigerungen, 25 Prozent mehr Premieren als vor zehn Jahren, die Ensembles werden kleiner und spielen mehr. Spielstätten explodieren, noch in jeder Kellernische und jedem Probebühnensaal wird Theater gemacht. Und alles bricht zusammen. Die Erschöpfung der Betriebe atmet quasi aus jedem Programmheft. Und da finde ich heilsam, sich in dieser Pause auch mal mit diesen Produktionsbedingungen auseinanderzusetzen. Weil das alles nicht nur mit mehr Geld zu lösen ist, sondern man muss sich fragen, ob wir nicht runterfahren müssen: weniger Premieren, Ensembles schonen, den Schauspielern mehr Zeit geben, um zu lesen, sich zu regenerieren, intelligent zu bleiben. Das finde ich die Frage, die sich an die Betriebe stellt und da ist so eine Pause insofern ein gutes Moment, weil man merkt, was Kapitalismus eben nicht von sich aus hervorbringt: Gemeinschaft! All die Sozialräume, die jetzt wegfallen! Es ist ein Unterschied, ob ich einen Film im Kino sehe mit anderen Menschen, die Popcorn essen und sich knutschen, oder ob ich das alleine auf meiner Couch mache. Und dieses ganze soziale Moment der geteilten Erlebnisse – das ist unwahrscheinlich wertvoll und kostbar und ja, wir merken, wie sehr das unserer Gesellschaft fehlt, wenn das wegbricht. Und wie sehr wir das gegen den Markt verteidigen müssen. Das ist die große Lehre!
Wir befinden uns in zahlreichen Lernkurven. Diskutiert wird derzeit auch ein Kulturinfrastrukturfonds. Wie sehen Sie diese Art von Hilfen als Perspektive?
Im Grunde sehen wir im Moment eine soziale Schere innerhalb der Theaterwelt selbst. Es gibt die Festangestellten, und es gibt die Freiberufler, die in der Regel in diesen von Projektmitteln getragenen Strukturen unterwegs sind – und die brechen gerade weg. Das heißt, das gemeinsame Geld erzeugt plötzlich Gewinner und Verlierer. Die aktuelle Krise verschärft die Wahrnehmung der Ungerechtigkeit in unserem etablierten System. Das ist nichts Neues. Ich finde, man sollte natürlich Soforthilfe leisten von staatlicher Seite. Da sind auch die Bundesländer und Kommunen mehr in der Pflicht als der Bund. Aber ich denke, der Bund sollte ein Motor sein in der Reflexion dieser Systemfrage. Das ist ja nun nicht neu, dass es diese «Institutionen neuen Typs» gibt, wie ich das mal genannt habe.
Aufgrund der Krise mit ihren enormen wirtschaftlichen Einbrüchen werden in den kommenden Jahren die Steuereinnahmen schrumpfen, was sich wiederum auf die Kulturtöpfe auswirken wird. Müssen wir uns auf große Einsparungen bei der Kultur einstellen?
Die Angst haben wir alle. Demokratie funktioniert halt auch immer über Lobby. Ich denke, es wäre falsch, jetzt an unserem Umweltschutzvorhaben zu sparen oder es aus dem Fokus zu lassen. Da kommt man sehr schnell in eine sehr schwierige Debatte. Am erstaunlichsten finde ich im Moment, dass die Frage des bedingungslosen Grundeinkommens nicht diskutiert wird. Das fände ich an der Zeit und viel besser, als eine Systemrivalität zwischen Freien und Angestellten herzustellen. Man müsste das auf eine andere Ebene heben und die Grundeinkommen- oder Bürgergeld-Debatte nach vorne bringen.
Das ist ja gerade gar kein Thema …
… aber wir können es dazu machen!
In welcher Form würden Sie als Festspiel-Intendant dieses Thema einbringen?
Wir haben als Festspiele eine digitale Corona-Hilfe-Info eingerichte. Auf unserer Website wenden wir uns darin an Freiberufler, Soloselbständige, Künstlerinnen und Künstler und versuchen, sie auf Plattformen, die Hilfe anbieten, hinzuweisen. Viele Leute sind natürlich schon gut informiert, aber wir haben eine zweite Plattform eingerichtet mit Hinweisen, wo Festspielmitarbeiter aus unterschiedlichsten Bereichen Links zusammengetragen haben zu Essays, größeren Artikeln und Initiativen, die Orientierung geben und die gesellschaftliche Frage nach vorne bringen, die durch Corona verschärft wird. Über die Social-media-Kanäle kann man sich darüber hinaus austauschen. Außerdem kann uns jeder schreiben und Hinweise geben, sodass wir das Angebot vergrößern können. Es wäre gut, diese Corona-Hilfsseite so breit wie möglich zu kommunizieren, weil das machen wir wirklich als Festspiele, um unser Wissen weiterzugeben. Wir haben auch Online-Angebote entwickelt, um Debatten beim Theatertreffen zu führen und Diskussionen auf eine andere Ebene heben: Welche Impulse für gesellschaftlichen Wandel kann Corona uns geben? Und wie ändert sich unser Kunstsystem dadurch.
Welche Vorschläge oder Konzepte entwickeln Sie, damit die Leute wieder ins Theater gehen können? Ist es realistisch, nur einen halben oder Viertel-Zuschauerraum zu füllen?
Das ist ja nicht nur ein Problem des Zuschauerraums, sondern auch der Bühne. Es gibt überall Ballungen: Die Inspizienten stehen neben den Technikern an den Zügen, neben den Beleuchtern. Ich würde sagen: Keine halben Lösungen, sondern warten bis es wieder geht. Es kommt auch sehr darauf an, von welcher Art von Theater wir sprechen. Wenn es Stadttheater sind, regelt das die Stadt oder das jeweilige Bundesland durch Verordnungen. Da sind individuell wenig Spielräume. Das Freie Theater wiederum ist ja eher in der Lage, ganz eigene Formate zu entwickeln als Produzenten, die Repertoire herstellen müssen.
Ist es also noch zu früh für konkrete Pläne?
Im Moment ist die große Frage: Wie organisiert man Kurzarbeit für die Kolleginnen und Kollegen. Wenn Überstunden abgebaut sind und der Resturlaub genommen ist – was dann? Wie halten es die Theater, die Festivalhäuser mit den Einkommensverlusten für Leute, die auf einmal keine Ruhrtriennale im Sommer mehr haben, wahrscheinlich auch keine Salzburger Festspiele – wie helfen wir den Kollegen? Wer ist für sie überhaupt zuständig und kann für sie Kurzarbeit beantragen? Das sind die Fragen, die jetzt von den Berufsvereinigungen gelöst werden müssen. Aber auch wir versuchen Kurzarbeit für unsere Mitarbeiter in der Technik zu beantragen und andere Arbeiten zu finden wie Instandhaltung, wir haben einen sehr großen Umzug bei uns vor, den wir mit unseren Technikern und Technikerinnen machen. Da versuchen wir schon, unter den Auflagen, die im Moment herrschen, ein bisschen Arbeit zu organisieren.
Haben Sie das Gefühl, dass man nach der Krise womöglich mit weniger Personal auskommen muss?
Nein, es ist jetzt schon knapp, und ich finde, dass die soziale Situation unserer freien Mitarbeiter, die im Rahmenvertrag für uns arbeiten, nicht gut ist. Ich würde mir mehr festangestellte Techniker wünschen, als über Rahmenverträge arbeiten zu müssen. In unserem Fall ist es durch das BKM, also den Bund, vorgegeben. Wir sind als von der Öffentlichkeit finanzierte GmbH einfach an Stellenpläne gebunden, die wir jetzt mühsam im Bereich Technik verbessern können, – aber eben noch nicht ausreichend für die eigenen Techniker, die eigentlich bei uns eine andere Art von Beschäftigung finden müssen. Und eben nicht in Rahmenverträgen, die nur eine bestimmte Stundenanzahl garantieren.
… damit es dann nicht in eine Festanstellung übergehen muss?
Genau. In der Vergangenheit war es für viele Techniker ja ein Modell, das sie gerne in Anspruch genommen haben, weil sie eben auch bei anderen Festivals gearbeitet haben. Das trifft aber nicht für alle zu, viele Menschen würden auch gerne in eine Anstellung gehen.
Vieles muss sich neu justieren, da gilt es, die Zeit zu nutzen, bevor es wieder richtig losgeht. Solange müssen für die Rezeption von Kunst die digitalen Ersatzstoffe herhalten?
Wir lernen gerade, was nicht ersetzbar ist. Das nicht Ersetzbare ist das wirkliche Miteinander, die gemeinsame Erfahrung eines Rituals.