«Paradies und das»
Alles was ich von der «Wende» und dem Theater seither weiß
von Thomas Oberender
1. Seid ihr Deutsche?
«Seid ihr Deutsche?», fragte uns der Staatsbürgerkundelehrer, knapp zehn Jahre vor der Wende, ich war noch keine vierzehn und hätte mir beim besten Willen nicht vorstellen können, dass es schon bald diesen Staat nicht mehr gibt, für den sogar ein eigenes Lehrfach geschaffen wurde. Über der Tafel das Bild von Erich Honnecker. Keine Antwort. Der Lehrer fragte den Schüler vor ihm: «Bist du Deutscher?» Eine gewisse Hinterlist war bei der Frage zu vermuten, war er weißhaarige Mann doch zugleich der Parteisekretär unserer Schule. «DDR-Bürger», antwortet der Schüler daher zaghaft. «Und du? Bist du Deutscher?» wurde nun mein Nachbar gefragt. Betretenes Schweigen. «Bist du Deutscher?», fragte der Alte noch einmal nachdrücklich, dann beugte sich zu dem schweigenden Jungen, der sich natürlich nicht zum Klassenfeind bekennen wollte, und sagte kopfschüttelnd: «Natürlich bist du Deutscher.» Ein seltsames Aufatmen setzte ein, ausgerechnet dieser alte Parteisekretär hat uns klar gemacht, dass auch wir, nicht nur die Verwandtschaft im Westen, Deutsche sind.
«Sind Sie Deutscher oder aus der DDR?», fragte mich 1986 eine ungarische Händlerin auf dem Markt von Szeged. «Aus der DDR.», mußte ich antworten. Das war eine Niederlage.
Erst mit der Währungsunion wurden über Nacht aus 17 Millionen DDR-Bürgern «Deutsche». Das war das Schlußwort der «Wende»: «Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, gehen wir zu ihr.» Durch den Bürgerprotest und den zunehmenden Massenexodus implodierte die Kulissengesellschaft DDR, begann ihre Selbstauflösung – nicht administrativ ins Werk gesetzt wie durch Gorbatschow in der Sowjetunion, sondern als Bergrutsch. Hatte die Studentenbewegung 1968 die Stabilisierung der Bundesrepublik durch ihre Modernisierung und Öffnung zur Folge, so bewirkte die Öffnung der DDR-Gesellschaft 1989 ihr Verschwinden. Dennoch war dieses Ende nicht von Beginn an absehbar oder gewollt.
Ähnlich der Studentenbewegung 1968, die ein Minderheiten-Protest der Studenten war, waren auch in Ostdeutschland in der ersten Phase der «Wende», die mit der Leipziger Demonstration vom 2. Oktober eine Massenbewegung wurde, im weitesten Sinne Intellektuelle tonangebend. Sie formulierten die Programmatik der Bürgerbewegung, ihr Nahziel waren zunächst Reformen und die Demokratisierung der Gesellschaft. Daher auch das Wort «Wende» – eine demokratische Wende im System, nicht seine Auflösung war das Ziel. Daß das Wort «Wende» dennoch seine Gültigkeit behielt, liegt am Verlauf der zweiten, national-demokratischen Phase dieser «Revolution» und ihrem Auftakt: dem Fall der Mauer.
Der West-Schock, den die millionenfache Begegnung mit der Wohlstandsgesellschaft Bundesrepublik hinterließ, führte dazu, daß die bislang schweigende Mehrheit, allen voran die Arbeiter, sich zu Wort meldete. Der Soziologe Hartmut Zwahr beschreibt, daß der Schock, der den Wunschbildwandel – von den anfänglichen Reformforderungen zur Forderung nach dem Ende der DDR – bewirkte, zugleich einen Tabubruch auslöste: Den Ruf nach «Deutschland». «Wir sind das Volk», wendete sich zu: «Wir sind ein Volk» und «Deutschland einig Vaterland».
Unter den Bedingungen des beschleunigten Selbstzerfalls und der rasanten materiellen und geistigen Entwertung des «Experiments DDR» wurde diese nationale Vision letztlich zum einzigen Programm, das eine Legitimation besaß – daß auch die Ostdeutschen «Deutsche» waren, war unbestreitbar. Zudem versprach es einen Ausweg aus dem Gefühl der plötzlichen, sozialen Deklassierung. Die Mehrheit verabschiedete sich daher von den Reformideen angesichts der Realutopie Sozialstaat, der in seiner luxuriösesten Ausformung nun direkt vor der Haustür lag. Die Grenze sollte, nachdem sie gefallen war, auch verschwinden. Nationale Einheit meinte in dieser Situation vor allem die verläßliche Wirtschaftseinheit, war im Kern apolitisch, ein Gründerzeithoffen. Wie Adenauer hat dann auch Helmut Kohl seine Wahl durch das Versprechen: «Keine Experimente» gewonnen. Statt der Experimente geschah die rasante Ersetzung alter DDR-Strukturen durch alte westdeutsche. Vereinigt wurde Deutschland dabei weniger durch den Einheits-Vertrag, als durch die D-Mark als Einheits-Währung. Sie machte aus den DDR-Bürgern jene «Deutsche», die mit dem Ruf «Deutschland einig Vaterland» gemeint waren.
Die einzige, wirklich tiefgreifende Rückwirkung dieses Prozesses auf die alte Bundesrepublik blieb im Grunde das Problem der Nation, der intuitive Vereinigungstrick der Ostdeutschen.
Auf dem Markt von Szeged wäre ich in diesem Sinne schon 1986 lieber «Deutscher» gewesen. Zugleich ergab sich aber bei einem Besuch in Warschau oder Prag mit dem Rückzug auf die Staatsbürgerschaft DDR auch eine bequeme Distanz zum schuldhaften Deutschland. Denn beide Hälften des Landes blieben seit ihrer Trennung vor ihrer eigenen Vorgeschichte wirkungsvoll geschützt durch ihre rudimentäre Form und den Gegensinn ihrer Existenz.
Erst durch die Vereinigung entstand «Deutschland» für die Deutschen und das Ausland wieder als ein Land jenseits der Bedeutung der D-Mark, als Nationalstaat. Seither sucht das provisorische Selbstbewußtsein der ehemaligen Halbstaaten nach einem neuen, bedroht durch ihr gemeinsames altes. Diese Suche hat sich mit der ostdeutschen Wende wieder auf die Straße verlagert. Nach 1989 demonstrierten auch in Westdeutschland Tausende für ein «anderes Deutschland» und bildeten Lichterketten gegen den aufflackernden Ausländerhass.
Botho Strauß Essay «Anschwellender Bocksgesang» überführte, ein Jugendalter nach 1968, diesen Prozeß von der Straße in eine intellektuelle Grundsatzdebatte über das Nach-Wende-Bewußtsein der Bundesrepublik. Das zentrale Thema der Gedanken des Dichters über das, was den furchtbaren Geschehnissen in Deutschland nach 1989 die Dimension des Tragischen gibt, ist die Frage der Schuld: Schuld am Entwicklungsweg den die «eigenen Kinder» nahmen, womit die Neonazis eben nicht ausgegrenzt, sondern als Hervorbringung des eigenen Landes und seiner demokratischen Geschichte benannt wurden. Der Essay entwickelte ein anderes Konzept von Gegenwart, das weniger mit der Echtzeit des Jetzt zu tun hat, als mit der Anwesenheit von Früherem, Geschichte, etwas, das einem Land Halt geben kann, wenn es vor Herausforderungen steht, und einen Begriff von Positivität und Gelingen entwickelt, der nichts mit Funktionalität und Effizienz zu tun hat, auch deshalb nicht, weil das Tragische in einer solchen Welt keinen Platz mehr findet. Aber die brennenden Asylantenheime waren für Strauß tatsächlich eine Tragödie.
«Die westdeutsche Gesellschaft», so der Politikwissenschaftler Michael Weck, «ist bis heute eine Gesellschaft ohne sonderlich entwickelten Sinnhorizont geblieben, deren Identität sich wesentlich aus dem Konsum der produzierten Güter und einem antiidealistischen Affekt herstellt.» Das Problem des Sinnhorizonts oder Ethos löst der Kapitalismus vielmehr pragmatisch mittels seiner Verfahrensrationalität, durch die für das Machbare die Grenzen des Erlaubten ermittelt oder ausgehandelt werden. An den Rändern dieser Rationalität ereignet sich aber dennoch im persönlichen wie öffentlichen Leben das Tragische. Der Sinn fürs «Verhängnis» als Voraussetzung der Tragik lässt sich nicht im Sinne des bürgerlichen Rechts auflösen.
Auch Alexander Kluge und Heiner Müller bewegte der gegensatz zwischen Recht und Schuld im Sinne der Tragödie in einem ihrer letzten Gespräche. Heiner Müller erinnert an Hegels Gedanken, daß Ödipus nach bürgerlichen Rechtsbegriffen nicht schuldig ist. «Er wußte nicht, daß es sein Vater ist. Er wußte nicht, daß es seine Mutter ist. Er ist unschuldig nach unseren Rechtsbegriffen. Diese Formulierung ist merkwürdig. Aber der Grieche als plastischer Mensch, also ein Allroundmensch, der nach allen Seiten verantwortlich ist, nimmt die Schuld auf sich.» Die Vorstellung, daß ein Anwalt für Ödipus vor Gericht einen Freispruch erlangt hätte, macht für Heiner Müller «das Leben eigentlich uninteressant. Das Leben wird obszön mit diesem Rechtsbegriff.»
Eine der deutschen Vereinigungs-Folgen ist, daß die Kluft zwischen dem Recht der Verfahrensrationaliät und der individuellen Erfahrung des Machbaren und Erlaubten sich in einer Weise vertieft hat, die die beiden Halbstaaten zuvor nicht gekannt haben. Die rechtsradikalen Überfälle haben ebenso wie die Prozesse gegen ehemalige DDR-Bürger verdeutlichen, daß die Rechtssprechung mit Formen von Schuld konfrontiert ist, die ihr Maß übersteigt. In diesem Sinne konnte aus dem Rechtsanwalt Dr. Vogel eine tragische Gestalt werden.
Die ostdeutsche Bürger-Bewegung führte in die gleiche Richtung wie die Ausreisewelle: Nach Westen. Nur wollte sie den «Westen» zu Hause, und nicht in Gestalt der Bundesrepublik. Die Intellektuellen, die das Profil der Protestbewegung und ihre Reformideen bestimmt hatten, traten zum letzten Mal auf der Berliner Demonstration vom 4. November in Erscheinung. Auf die dortigen Pfiffe für Heiner Müller folgte wenig später der Fall der Mauer und das Ende der Reformwilligkeit. Hatten sich die überraschten, ostdeutschen Intellektuellen beim Aufstand 1953 erst nach seinem Ende zu Wort gemeldet, so verloren sie jetzt, nach dem Fall der Mauer, ihre Stimme im Nachhinein.
Doch warum verlief dieser Übergang von der ersten, demokratischen Phase der Revolution zur zweiten, nationaldemokratischen so gleitend und fast widerstandslos? Warum war trotz «runder Tische» und Mahnwachen von der DDR nicht mehr zu vererben, als das Stasiarchiv, Ulbrichts Sandmännchen und der grüne Pfeil für Rechtsabbieger? Der Kampf gegen die Macht führte nach 1989 nicht zu einem Kampf um die Macht. Denn die Bürger-Bewegung, die in der ersten Phase der «Revolution» von 1989 um die Einführung der bürgerlichen Rechte von 1789 ins staatssozialistische System kämpfte, hatte im Grunde keine utopischen Reserven, die ihr unmittelbares Feindbild überstiegen und konnte sich demzufolge recht mühelos in die verwirklichten Formen bürgerlicher Herrschaft, wie sie die zweite Phase der Wende den Ostdeutschen bescherte, einfügen. Es ging um Bürger-Rechte, und die garantierte auch die Leitidee der nationalen Vereinigung, die nun, nach dem Übergang der Programmatik an den Mehrheits-Willen, die ursprünglichen Reformideen der Minderheit ablöste. Das Credo der nationalen Vereinigung war ein Wohlstandsversprechen auf der Basis: «Vierzig Jahre Experimente sind genug.» Nach dem Fall der Mauer und der plötzlichen Entwertung der bisherigen Lebenswelt konnten die wachgerufenen Defizitgefühle am schnellsten durch eine schleunige Angleichung an das, was sie hervorgerufen hatte, beseitigt werden. Allenfalls faire Bedingungen für den Anschluss der ostdeutschen Lebenswelten waren Aufschubgründe. Aber das war schon ein Kampf mit der Macht. Nach dem Vorgeschmack des Begrüßungsgeldes mochten nur noch wenige Entbehrungen beim Begehen eines «Dritten Weges» auf sich nehmen – zu wohltuend war es, endlich aus der Sinn – determinierten Welt der DDR in eine der Sinne (im doppelten Sinn) zu entkommen.
Das utopische Restpotential der Bürgerbewegung, das sich noch aus den Aufbruchshoffnungen der frühen DDR-Opposition nährte und auf Experimente drängte, auf Zeitgewinn und Selbstbestimmung, gerann entweder im Kampf um die Macht in den demokratischen Folgestrukturen der 68er (z.B. das Bündnis von Bündnis 90/Grünen), oder repräsentiert in Ostdeutschland weiterhin, durch die Autorität des frühen Mutes, das gleiche schlechte (bzw. gute) Gewissen der Macht, daß es vor der Wende war.
Vor den 68er-Ereignissen demonstrierte seit Anfang der 60er Jahre eine Autoren-Vorhut im Theater ein neues Bewußtsein. Autoren wie Rolf Hochhuth, Heinar Kipphard, Martin Walser und Peter Weiss griffen eine sich selbstgefällig abschließende Gesellschaft («Keine Experimente») mit Stücken an, die im Gewand des Dokumentarischen durch die Betrachtung der Verhaltensweise Einzelner zur indirekten Diskussion über gesellschaftliche Strukturen provozierten und über ihre Verdrängungen und moralischen Probleme aufklären wollten.
Nach der Großen Koalition zwischen CDU/CSU und SPD, die 1966 ein Machtkartell fast ohne politische Kontrolle bildete, ging diese politische Kraft auf die außerparlamentarische Opposition, die Studentenbewegung über. In ihrem Geleit entstanden das Straßentheater und freie Aktionsgruppen. Performances schufen ein Übergangsfeld zwischen darstellender und bildender Kunst, Happenings radikalisierten den experimentellen Teil der Theaterarbeit und befreiten die theatrale Vorstellung von der «Aufführung». Das machte als Kunstform Mut, Extreme und Unwägbarkeiten zu zulassen, lockerte Verhaltensschranken, zielte auf die Verschmelzung von Machern und Zuschauern und verstand sich auch darin, im Feld der ästhetischen Praxis als Vorwegnahme einer künftigen Lebensform.
So entstand, ganz dem Lebensgefühl entsprechend, ein Generator reiner Gegenwart, der eine gruppendynamische Jetztwelt erzeugte, in der man Abschied von Gestern nahm. Zugleich versuchten die kollektiven Theaterlaboratorien Jerzy Grotowskis und Peter Brooks die Erlebnis-Dimension mit einer Bedeutungsebene zu verbinden, die sich zu einem bewußten, d.h. erprobten «Theater der Erfahrung» verdichten. «Das Theater als gesellschaftliche Einrichtung», erschien Peter Handke damals, angesichts der aktionistischen Nebenformen, «unbrauchbar für eine Änderung gesellschaftlicher Einrichtungen.»
Erst auf die Notstandsgesetze vom Mai 1968, mit denen der Staat dem «Revolution macht Spaß»-Gefühl eine Grenze setzte, reagierte das «Theater der festen Häuser»: Indem es vielerorts demonstrativ aufhörte zu spielen, sich als Diskussionsforum zur Verfügung stellte, Vorstellungen abgebrochen und Resolutionen verlesen wurden, die das Publikum zur Diskussion aufforderten. Unter dem politischen Ereignisdruck kam es zugleich zur verstärkten Wahrnehmung der Differenz zwischen ästhetischen und politischen Wirkungsmöglichkeiten. Den aktionistischen Protestformen, die auf eine Überwindung des bisherigen Staates und Theaters zielten, folgten nun Versuche, sie zu reformieren. Die Reflexion der eigenen Bürgerlichkeit führte auf der institutionellen Ebene des Theaters zur innerbetrieblichen Demokratisierung und Mitbestimmungsversuchen wie dem «Frankfurter Experiment» von 1972 oder der «Schaubühne», und im Hinblick auf die künstlerische Arbeitsweise zum verstärkten Interesse an Bewusstseinsprozessen, d.h. dem Versuch, den Blick des Theaters auf die Gesellschaft für die «revolutionären» und z.T. neuen Wissenschaften zu öffnen. Die Innovationskraft der Studentenbewegung währte dabei ungefähr so lange, wie sie kollektive Bindekräfte, auch in Projekten, die sich längst nicht mehr als politisches Intentions- und Entlarvungstheater verstanden, hervorbrachte. Zuletzt wirkten sie an der «Schaubühne». Deren Rückzug auf die Attraktionskraft der Solisten und Beschränkung aufs hohe Handwerks-Ethos markiert dieses Ende vielleicht am deutlichsten.
In gewisser Hinsicht läßt sich die ostdeutsche Wende 1989 als komprimierte Parallelerfahrung der 68er-Bewegung beschreiben. Für das Theater bedeutet das, daß sie ähnlich begann und in die inzwischen nivellierten Erfahrungsstrukturen der 68er mündete. Auch im DDR-Theater hatten vor dem öffentlichen Beginn des Bürger-Protests die Stücke von Volker Braun, Christoph Hein, Ulrich Plenzdorf und Heiner Müller das politisches Krisenbewußtsein verschärft und die gerontologische Selbstgefälligkeit des Machtkartells mit Erneuerungshoffnungen konfrontiert.
Konnten bis zum Oktober 89 Frank Castorf oder Heiner Müller in der Als-ob-Welt der Bühne Spannenderes zum Hierundjetzt zeigen, als sich draußen, vor der Theaterkasse, entdecken ließ, so kehrte sich diese Relation mit den Montagsdemonstrationen in Leipzig um. Nach der langen Zeit des kalten Krieges gab es im Herbst 1989 einen kurzen, heißen Frieden. Die historische Stunde Null, mit ihren anarchischen Freiräumen und abenteuerlichen Möglichkeiten, machte nun das alltägliche Leben sensationell und bewußtseinserweiternd. Bald gab es Performances in jedem Demonstrationszug und konkrete Poesie auf Plakaten. Das Staatstheater reagierte auf seine plötzliche Schattenlage erst, als sich die Konfrontation zwischen Bürgerbewegung und Staat zuspitzte. Die Schauspieler suchten unter dem Ereignisdruck der gesellschaftlichen Veränderungen jetzt direktere Formen des politischen Engagements, öffneten das Theater für den Disput mit Funktionären, organisierten Demonstrationen und verwandelten die Häuser in Foren öffenlicher Diskussion. Walter Janka gab Matineen in Leipzig und Wolfgang Harich in Berlin. Ähnlich wie 1968 setzte sich das Theater (der festen Häuser) nicht mit ästhetischen Mitteln ins Verhältnis zu Situation, sondern reagierte mit politischen Mitteln situativ auf die sich schnell wandelnden Verhältnisse. Dieses Unvermögen des Theaters in der schnell vergehenden Zeit mit künstlerischen Mitteln auf die Höhe der eigenen Aktualität zu gelangen, verdeutlichte 1968 wie 1989 ein Paradox in der Arbeitsstruktur des aufklärerischen Theaters.
Sein konstitutives Moment ist die Probe. Auf der Probe entsteht jene Gedächtnisstruktur, die das Geschehen einer Vorstellung allabendlich wiederholbar macht. Was sich auf den Proben im Zusammentreffen des Textes mit den Künstlern und der Technik an Einfällen, Zufällen und Varianten ergibt, sind spontane Ereignisse, die reflektiert, ausgewählt und zu Informationen verwandelt werden - zu einer erinnerbaren Struktur. Mit der Probe hat das Theater die einmalige Chance, Geschehnisse zwischen Menschen und in ihnen dem Fluß der Zeit zu entreißen, sie in ihrer Wiederholung auf einen verborgenen Sinn zu prüfen und ihr vertieftes Empfinden zu ermöglichen, insbesondere da eine paar Dutzend Stücke aus der Geschichte des Welttheaters tatsächlich einen so reichen Kosmos darin überlieferter Verhaltensmuster und Verhältnisstudien überliefern, dass sich oft viele nachfolgende Generationen darin spiegeln und erkennen können. So kommt es zu den «Vorstellungen» von der Welt, wie sie sich anhand den alten Texten immer wieder neu einstellen.
Wobei es interessant ist, dass wir ja nicht nur auf den Text der alten Stücke treffen, sondern um ihn zu verstehen und deuten ja auch mit den analytischen Texten umgehen, um nicht nur in privaten Worten zu sprechen und denken. Gerade diese Texte aber rutschen vom Tisch, wenn die Erde plötzlich bebt. Im Tumult und Umsturz atmet keiner ruhig, das Instrumentarium, mit dem sich sonst die Deutungen vollziehen ließen, sieht angesichts der Revoltuion auf der Straße alt und blass aus – was in den alten Texten steckt, schließt sich für kurze Zeit nicht mehr so auf wie früher und die neuen Texte sehen plötzlich älter aus als sonst. Das Publikum spürte, daß die Ereignisse vor dem Theater (spätestens mit dem Fall der Mauer) bewegender waren und mehr an Lust und Aufschlüssen bewirkten, als im Theater. Dessen «Vorstellungen» der Wirklichkeit blieben hinter der bewegten Realität zurück, bzw. – wer wollte sie sehen? Für eine kurze Zeit ging es dem Theater fast so elend, wie dem Kabarett, denn es hatte neben seinen Vorsprung an Einsicht, der sich dem Erfahrungsspeicher großer Texte verdankt, auch seinen Feind verloren. Und damit seine Freunde.
Die Konfrontation mit der eingeschränkten Wirkungsmacht der eigenen Arbeitsweise und dem Zuschauerschwund führte nach 1989 an den ostdeutschen Theatern nicht zu den Ergebnissen, die dieser Situation 1968 im Westen folgten. Die Experimente des anarchischen Aufbruchs, das unsichtbare und Dokumentar-Theater der Studenten des BAT, die Inszenierungen freier Gruppen und der Umbau der «festen Häuser» zur Arena politischer Diskussion blieben eine Episode der Nachwendezeit – nur die Volksbühne Frank Castorfs wurde eine Ort der permanenten Theaterrevolution, der sich anderen Akteuren öffnete und neue Bühnen schuf. Mit großer Verzögerung setzte zudem auch ein Wandel in der Freien Szene ein, die sich zehn Jahre nach dem Mauerfall eigene Netzwerkstrukturen schuf, nicht mehr «alternativ» war, sondern experimentelle Wege suchte, anders zum Stoff der Aufführung zu kommen – durch die Kreation eigener Projekte und eine neue Definition des Verhältnisses von Künstler und Zuschauer.
Die Versandung der ostdeutschen Bürger-Bewegung mit der Ankunft im Westen war kein Scheitern, sondern ein unheroischer Sieg. Denn «Bürgerlichkeit» war im «Wende»-Zusammenhang keine Krisenerfahrung. Das ist der Unterschied zu den Veränderungen, die im Kontext der idealistisch vitaleren, da in ihren Ursprungsmomenten auch antikapitalistischen Studentenbewegung in der alten Bundesrepublik einst entstanden: konkrete Reformen der Theaterstruktur, Mitbestimmungsversuche und eine «Dramaturgische Wissenschaft», die die wissenschaftlichen Konzepte der intellektuellen Jugend auf den Text- und Methodenbestand des alten Theaters projizierte. Das Verschwinden der kollektiven und revolutionären Identität in den Folgejahren der Studentenbewegung vollzog sich in der Noch-DDR im rasend schnellen Zeitraffertempo.
Wollte man am Anfang des Bürgerprotests noch kollektiv gut sein, so markiert sein Ende, daß man nun individuell besser sein wollte.
Der Demonstrationsslogan «Wir sind das Volk. Ich bin Volker» antizipierte diese Entwicklung schon im Sinne einer «westlichen» Grundhaltung, die auf ironische Distanz zum idealistischen Entwurf geht. Die mentalen Bindekräfte, die Kollektive zeugen, waren nun pragmatischer Natur. «Wir vom Theater…», diese Phrase bekam den selbstmitleidigen Touch der Subventionsverlierer. Energien konzentrierten sich fortan auf das individuelle «Überleben» als Intendant, Schauspieler oder Regisseur in den administrativ neu verwalteten Strukturen. Die «Wende» wurde am Theater, wie im Ganzen auch, zur eine betriebstechnische Umstellung. Auch wenn sie noch kurz zuvor ein ganzes Land ins Lächeln geführt hatte, die Anwesenheit des Staates für einige historische Wochen und Monate hinweg suspendiert schien und die Wege in die Zukunft in alle Richtungen offen waren. Die Anarchie der frohen Herzen gab es, den Leichtsinn der Sieger, die Begegnung mit dem Neuen ohne Angst, Solidarität, all diese Erfahrungen waren für eine kurze Spanne des Wendegeschehens stark und übergreifend erlebt worden. Wie ging es nun weiter?
Bei Freunden und Bekannten aus England, die den Fall der Mauer als revolutionäre Selbstbefreiung begriffen, als «change» im Sinne eines radikalen Wandels, schwingt angesichts der Entwicklungen oft ein gewisses Bedauern mit, da die Deutschen bei diesen Vorgängen doch eher dem Wortsinn von «turn» zuneigen. Unter dem Eindruck der späten Margaret Thatcher-Ära nahm man in England großen Anteil an den Ereignissen des Jahres 1989 und war/ist verwundert, daß nach der «Befreiung Ostdeutschlands vom kommunistischen System» so wenig Befreites ans Licht kommt. Wo bleiben die in Schubladen versteckten Manuskripte, wo sind die jungen Regisseure, die nun die Theater erobern, endlich meinungsfrei und unbehindert? Ketzerisch ließe sich antworten: Alles ist gesagt. Wenn es in diesem Land nicht mehr ging, dann im anderen. Vielen Werken blieb dabei ihr Weg zum Publikum verengt; sie wurden ihrer Zeit beraubt. Die Schubladen aber gaben später nichts mehr her. Das Leben der Gegenwart ist in Ostdeutschland inzwischen westdeutsch. Und doch - mindestens für die Dauer einer Generation – wird die Schwerkraft einer anderen Sozialisation dafür sorgen, daß die fünf hinzugekommenen Bundesländer die «neuen» bleiben.
Nach dem Fall der Mauer sind die Deutschen heute so getrennt, wie sie es seit dem Bau der Mauer wirklich waren. Was sie verbunden hat, war die Trennung.
Leistete die Mauer noch einer gegenseitigen Sympathie Vorschub, die auf Distanz, interessanter Fremdheit und Verklärung beruhte, so werden die Beziehungen nun zunehmend wirklicher. Die unsentimentale Verwirklichung von Bekanntschaften und Familien-beziehungen ist ein positiver Effekt der plötzlichen Angleichung der Lebenssituation.
Die ostdeutsche Wende war ein Aufbruch aus der Enge des staatssozialistischen Dogmas und seiner kleinbürgerlichen Wirklichkeit. Die Stücke von Botho Strauß oder Rainer Werner Fassbinder waren für mich nach 1989 in dieser Hinsicht eine einführende Mentalitätskunde ins Kommende, wirklich begreifbar erst, als es im Grunde schon da war. Den utopischen Ruf «Paradise now» der 68er verstand ich dann durch den Werbeslogan für Suzuki-Motorräder 1991: «Dont dream. Buy it!» Den Gegenmodellen folgten 1968 die Selbstversuche. Ostdeutschland wird nun vielleicht den selben Weg gehen. Zum Provinzporträt der «kleinen Leute» und der Traditionslinie von Fleißer und Horvat, die auch in Ostdeutschland ihre Erben hat, werden sich Stücke gesellen, die die gebrochene Bürgerlichkeit jener Schicht reflektieren, die unter den Vorzeichen neuen Wohlstands und neuer Freizügigkeit wieder Anschluß an die Kontinuität bürgerlicher Tradition und ihrer kulturellen Hegemonie sucht, einer Hegemonie, die der Sozialismus kurzfristig kappen konnte. Der «Osten» interessiert trotz aller Beteuerungen niemanden – «Osten» wurde zum Synonym für «ein Land vor unserer Zeit». Im übrigen erscheint er eher als erweitertes Feld der eigenen Un- oder Antibürgerlichkeit – «westlich» vor allem in diesem Sinne. Das Verständniskürzel von «hier» und «drüben», das seit dem Bau der Mauer ganz selbstverständlich die andere «Hälfte» Deutschlands meinte, ist inzwischen aus dem Sprachgebrauch verschwunden. Wer heute von Leipzig nach Bochum reist, und umgekehrt, fährt nicht mehr «rüber».
Das nationale Neuland bescherte der Reportage- und Porträtkunst von Autoren wie Alexander Osang oder Christoph Dieckmann ihre große Stunde. Noch vor den literarischen Großformen trainierten sie in ihren Expeditionen zu Zeitzeugen und Prominenz den ideologiefreien Blick aufs Biografische. Durch die Aufmerksamkeit für das Eigenwillige der Lebensgeschichten entstand ein Mosaik der Zeitgeschichte auf dem Erfahrungsgrund ihrer «Helden». Diese Autoren vermitteln Nachrichten aus der Wirklichkeit ohne Botschaften – außer vielleicht eine Konfrontation mit der Komplexität von Gründen und Hintergründen in der Bilanz eines Lebens, die das allgemein Menschliche im menschlich Einmaligen zeigt. Eine ähnliche Sozialanamnese geschieht nun auf dem Theater.
Franz Xaver Kroetz Stück «Ich bin das Volk» portraitiert nicht das Kollektiv, sondern das «Ich» und persönliche Gedanken, die sich ungewollt zum Kollektivgeist aufaddieren. Der politische Impuls, zum Rechtsradikalismus im vereinten Deutschland Stellung zu beziehen, zeigt Glatzköpfe, Reporter, Volksvertreter und Richter als Mitmensch Nazi, die «netten Scheißer.» Die politische Dimension des Stückes liegt darin, daß es jene, die sich ins Abseits zur Gesellschaft stellen und gestellt werden, zurückholt in die Gemeinschaft.
Eine andere Reise in «das», was nun dazugehört, unternahm Klaus Pohl mit «Wartesaal Deutschland Stimmenreich». Sein Stück ist ebenfalls ein Expeditionsprotokoll, ein Reigen von Übergangsbiografien. Es versammelt den O-Ton aus der ostdeutschen Provinz, wie ihn der «Spiegel» zuvor veröffentlicht hat, als begegne der Autor jetzt erst dem Land, in das sein «Karate Billie» ein paar Jahre zuvor zurückgekehrt ist. Statt Handlung gibt es statische Episoden individueller Offenbarung, die der biografische Widerschein historischen Geschehens sind. Es ist, als gäbe es nach dem Bankrott des politisch Glaubbaren keine andere Wahl, als über Politik aus der Perspektive des Allzumenschlichen zu sprechen. So gibt auch der jugendliche Neonazi in Tankred Dorsts Stück «Schattenlinie» keineswegs politische Statements von sich, der Autor zeigt den Bürgersohn nicht als Nazi in Folge von Gesinnung, sondern eher in Folge eines «energetischen» Instinkts. Dem Jungen «ist egal», ob der Schwarze, den er töten wird, die Schattenlinie «rechts oder links» überschreitet. Auch in Christoph Heins Stück «Randow» kommt es zur Auseinandersetzung zwischen den Generationen - der merkwürdigen Dialektik folgend, daß 1968 und 89 Revolten gegen den Herrschaftsgeist der Großväter waren und zur Gewissensprüfung und modernisierten Herrschaftsform der Väter führten [1]. So ist, gut zwanzig Jahre nach 68, die wohl spannendste Stelle in «Randow» jene, in der die Kritik der nächstjüngeren Generation an den 68ern wiederkehrt als der Blick einer jüngeren Ostdeutschen auf die Aktivisten der DDR-Opposition. Es ist die Abrechnung mit dem rebellischen Geist eines unfrohen Lebens, auf den Rolf Hochhuth in seinen «Szenen aus einem besetzten Land» gesetzt hat.
Als er seine «Wessis in Weimar» schrieb, hat er sicher nicht geahnt, daß die Ex-Bürgerrechtlerin aus «Randow» eigentlich mit ihrem kleinen Glück im Landhaus inmitten des Naturparks voll und ganz zum Aufbruchs-Ziel gelangt ist – selbst die Intrigen der Beamten und Makler können am Ende, wenn die nun «freie» Künstlerin ihr Rückzugsidyll aufgibt, nicht dazu führen, daß sie – mit Ernst Jünger gerüstet – den Kampf erneut beginnt. Auch Rolf Hochhuth hat für seinen Aufruf zur Revolte die Faktenmacht des «Authentischen» in einer Szenenfolge komprimiert – allerdings mit klarer Botschaft. Selbst drei Jahre nach dem Erscheinen des Stückes entsteht angesichts seiner korrekten Unrechtsbilanz die Frage: Warum rührt das keinen? Der Einspruch gegen Unrecht im bürgerlichen Rechtsstaat legitimiert sich bei Rolf Hochhuth nicht zuletzt durch konservative Werte, die auf Vorstellungen von Recht und Pflicht jenseits der Definition des Grundgesetzes basieren. Damit kommt er den Gedankengängen von Botho Strauß sehr nahe. Den «Versuch politische und ästhetische Ereignisse zusammenzudenken» setzt Botho Strauß in einem Essay wie «Aufstand gegen die sekundäre Welt» oder seinem Buch «Beginnlosigkeit» unter neuen Prämissen fort.
Den politischen Zusammenbruch des Ostblocks, die versehentliche Öffnung der Mauer und den abrupten Erscheinungswandel aller Verhältnisse in deren Folge reflektiert Botho Strauß aus der Perspektive von Chaosforschung und moderner Biologie: «Obgleich in diesem Zusammenhang kein Partikel häufiger verwendet wurde als die Vorsilbe ‹wieder›, ging es doch am allerwenigsten um die Wiederherstellung oder Wiederkehr. Was geschah, besaß vielmehr etwas von jener Ereigniskraft, die man in den biologischen Wissenschaften mit dem Ausdruck ‹Emergenz› bezeichnet: etwas Neues, etwas, das sich aus bisheriger Erfahrung nicht ableiten ließ, trat plötzlich in Erscheinung und veränderte das Systemganze, in diesem Fall die Welt.» In seinen Stücken «Schlußchor» und «Gleichgewicht» hat Botho Strauß sein Kunst-Konzept in komplexe Dramaturgien übersetzt, die die Ereigniskraft des Plötzlichen zum Bühnen-Ereignis wandeln. Teil dieser beginnlosen Welt, in der es jäh «Deutschland» brüllt, der Welt des Ver-sehens, des Ringens um ein Gleichgewicht ist auch die Anwesenheit mythischer Konstellationen und der Schuld nach ihrem Maßstab. Aber es scheint, daß das Theater diese Stücke kaum als Herausforderung annimmt.
Die DDR ist verendet. Das läßt sie nach ihrem Untergang ungleich harmloser erscheinen, als den Faschismus, der besiegt werden mußte. Ihre Ruinen zeugen davon, daß die DDR mit der Aufzehrung der ihr gegebenen ökonomischen, ideellen und ökologischen Substanz endete. Ostdeutschland besitzt keinen Zeitspeicher, keine Substanz aus den fünfziger, sechziger, siebziger Jahren, die in Form einer sanierten Infrastruktur das Leben noch jetzt komfortabel und flüssig machen, keine Kontinuität der Institutionen, kaum Bindungen an etwas als dauerhaft Empfundenes. Das beinahe freundliche Ende der DDR befördert zwar nicht die Erinnerung an ihr utopisches Projekt, aber an ihre strukturelle «Gemütlichkeit». Im Kontrast zu ihr stehen die neuen Unverbindlichkeitsgefühle gegenüber Institutionen, Ideen, Nachbarn, die Entwertung von Dauer und Alter.
Das humane und poetische Interesse am Einzelnen wirkt angesichts der vorherrschenden Interesselage des Theaters anachronistisch – es sucht verstärkt nach Anschluß an die Betroffenheitsthemen der Nachrichten, will dazu «Beiträge» leisten, als vermittle sich dieser durch Thema und Trend. Zeitgenössisch – das Wort bekommt vor diesem Hintergrund den Beigeschmack schlechter Komplizenschaft. «Katarakt» von Rainald Goetz ist ein Chandos-Brief am Ende des Jahrhunderts, ein Stück, das das in-der-Zeit-Sein ins Bewußtsein bringt, aber: nix zu AIDS, zu Bosnien, Kindesmißbrauch, Frauenmördern oder «Deutschland», keine Bukolik für den Ensembleglanz – zwei Aufführungen und: tot.
Es könnte eine schöne Zeit sein fürs Theater. Im Übergangsfeld zwischen Ost und West, entschlackt von menschenbezwingenden Großentwürfen, könnte der Mensch (und sein Verhältnis zu Abschied und Ankunft, zu «Schuld», der Tiefenwirkung gesellschaftlicher Bewegungen) deutlicher werden, könnte anthropologische Neugier herrschen. Es ist höchste Zeit, den Begriffen «Ost» und «West» einmal den Rücken zu zuwenden, denn unser deutsches Thema ist viel zu klein geworden angesichts der größeren Veränderungen unserer Kultur.
Ein Roman wie Der Vorleser von Bernhard Schlink zeigt einen neuen Mut zum unrepräsentativ Allgemeingültigen. Seine Helden sind nicht «typisch» in ihrer Rolle als Frau, Mann oder Anwalt. Es ist eine Liebesgeschichte der unwahrscheinlichsten Konstellationen. Doch nichts ist wahrscheinlicher, als jenes Echo der Empfindungen und Verhaltensweisen, das sie hervorrufen. Lakonisch summiert Bernhard Schlink in diesem Roman Erinnerungen, Details und Gedanken, die das Ineinandergreifen zweier Lebensläufe nachzeichnen. Das Fühlbare jeder ihrer irritierenden Stationen verdichtet sich am Ende zu einer Empfindung der Zwangsläufigkeit ihres Weges. Und plötzlich offenbaren sich im Schicksal dieses Liebeslaufs die zeitgeschichtlichen Tätowierungen der Helden, die Prägungen der Umstände wie mit Nadeln tief unter die Haut gestochen, die Nazi-Zeit und 68, die ‹Wir-Form› des Ich. Mich erinnert die Perspektive der anthropologischen Neugier an Jean Renoir und Roberto Rossellini, deren Gespür für «ein individuelles Drama, das dem kollektiven entspricht und in ihm seine fühlbare Erklärung findet» (Pierre Marcabru). Luxuriös erscheint die Verlangsamung, die Vertiefung des Einzelfalls, die emotionale Zwangslagen schildert, in denen der Mensch sich zwar als Kind seiner Zeit verhält und kenntlich wird, zugleich aber erwachsen genug ist für die mögliche Anwesenheit eines spontanen Humanismus. Texte wie von Rainald Goetz, und ganz anders, gefasster, die von Bernhard Schlink, zeigen mir das Paradies und das, was uns daraus vertreibt.
Manuskript für die Vortragsreihe «Theater im Schutt der Systeme» beim Berliner Symposium «Das Theater des Cono Sur - eine Begegnung mit Deutschland» vom 26. Januar bis 4. Februar 1996
[1] 1968 waren die Großväter Adenauer – Jahrgang 1876, Erhard 1897 (Eisenhower, Jahrgang 1890; Chruschtschow 1894; Macmillan 1894; Charles de Gaulle 1890); für die Wende 1989: Honnecker – Jahrgang 1912; Sindermann 1915; Stoph 1914