«Lustprinzip Ost»
Thomas Oberender, Intendant der Berliner Festspiele, im Portrait
von Andreas Kolb
Museumsneubauten werden heute in der Regel mit Performancebühnen geplant. Vor diesem Hintergrund kann man die Idee der Bundes-Kulturpolitik, vor gut zehn Jahren die Berliner Festspiele in eine Konstruktion umzuwandeln, die Ausstellung und Performance zusammenführt und unter eine künstlerische Leitung stellt, als zukunftsweisende Entscheidung einstufen. Mit ihrer Verbindung von Martin-Gropius-Bau und dem Haus der Berliner Festspiele stellen die Festspiele ein einzigartiges Modell dar.
Thomas Oberender, seit 2012 Intendant der Berliner Festspiele, beschreibt sein Konzept konzis mit drei Worten: «Sehen, was kommt.» Und en detail: «Mit allen unseren Formaten erkunden wir, wo ästhetisch und konzeptionell die Reise im Feld der zeitgenössischen Künste hingeht. Das Musikfest Berlin entwickelt Impulse für ein neues Kónzert-Repertoire und führt die alte Maschinerie Orchester zu neuen Klängen und Aufführungspraxen. Das Festival MaerzMusik experimentiert am Grenzbereich der Musik zur Installation, zum Zeit-Diskurs und neuen Erlebnisformen des Formats Konzert. Das Jazzfest Berlin sucht nach den Meistern des Jazz und den Erneuerern der nächsten Generation, die dieses Genre in Berührung mit elektronischer Und populärer Musik bringen, aber auch mit anderen Künsten wie Tanz oder Film. Wer sich für Neues interessiert, nicht nur im Sinne der Neuinterpretation, sondern auch ganz andersartiger Erlebnisformen zeitgenössischer Künste, für den sind die Festspiele der ideale Ort. Es geht nie nur um gutgemachte Kunst, sondern de Transformationen von Erzählweisen und Institutionen. Das gilt auch für den Martin-Gropius-Bau und sein Programm zwischen Ausstellung und Aufführung, aber auch für das Theatertreffen, Die neue Programmreihe Immersion oder die Bundeswettbewerbe mit ihren Akademieprogrammen für den künstlerischen Nachwuchs.»
Thomas Oberender wurde 1966 in eine Akademikerfamilie hineingeboren: Der Vater studierte Tiermedizin an der Humboldt-Universität in Berlin, die Mutter Psychologie in Jena. Das Einzelkind kam durch den Großvater erstmals mit der Bühne in Kontakt, der als Bühnenbildner gearbeitet hatte. Die bürgerlichen Berufe der Eltern prägten das Leben der Familie Oberender auch in heute kaum mehr verständlicher Hinsicht, denn es war für den Heranwachsenden in der DDR aufgrund seiner Herkunft nicht einfach, Abitur zu machen. Da er kein Arbeiterkind war, gab es für ihn trotz sehr guter Noten keinen Platz auf der erweiterten Oberschule und so konnte er das Abitur nur in Verbindung mit einer Lehre zum Maschinen- und Anlagenmonteur in einem Schwermaschinenkombinat in Weimar machen. Dazu musste er sich zu einem Ingenieursstudium Im Anschluss an das Abitur verpflichten, an dessen Ende ein Arbeitsplatz in einem ländlichen Betrieb für Stallanlagen stand. Mit 15 war Oberenders Lebensweg eine staatlich beschlossene Sache.
Doch der junge Oberender hatte andere Pläne: Er wollte Theaterwissenschaften an der Humboldt-Universität studieren. Als Lehrling hatte er im Jugendclub im Nationaltheater Weimar Theater gespielt und ab da wußte er, wohin für ihn die Reise geht. Als Berufsschüler Theaterwissenschaft studieren zu wollen, war exotisch und im Grunde aussichtslos, wurden doch in der Planwirtschaft nur alle 2 Jahre 12 Studenten aufgenommen. Der junge Frank Castorf war übrigens einer von ihnen. Trotz hervorragender Noten gab es Oberender scheinbar nur zwei Wege an die Universität: entweder durch den Eintritt in die SED oder die Verpflichtung zu drei Jahren Dienst in der Volksarmee. Er zog Zweiteres vor und konnte sich von 1988 an der Humboldt-Universität einschreiben. Parallel belegte er nach dem Mauerfall ein Studium Szenisches Schreiben an der Hochschule der Künste Berlin. Seine Veröffenlichungen umfassen seither Stücke und Übersetzungen, Sowie Aufsätze, Kritiken und Essays zu Positionen und Persönlichkeiten der zeitgenössischen Kunst, darunter auch zwei Bücher über Botho Strauß – 1999 hatte er über ihn promoviert.
2000 ging Oberender «direkt vom Schreibtisch in die Direktion» des Bochumer Schauspielhauses, dort begann quasi über Nacht der Ernst des Lebens für den Autor, Intellektuellen und Kunst-Forscher. 2005 wurde er Ko-Direktor am Zürcher Schauspielhaus, 2006 bis 2012 folgte die Schauspieldirektion der Salzburger Festspiele. Heute sagt Oberender im Rückblick auf seinen curriculum vitae: «Ich stehe selber ein bisschen staunend vor meinem Lebensweg. Ich habe getan, was mir Spaß gemacht hat. Etwas im Karrieresinne erreichen zu wollen, war nie meine Art . Andere Dinge wollte ich hingegen unbedingt erreichen - eine reichere Art, Theater zu gestalten oder texte und Künstler zu verstehen. Ich wusste dabei immer eher, was ich nicht wollte. Was man will, das zeigt einem das Leben selber.»
Oberenders Sozialisation als Intellektueller verlief bis zu seinem 23. Lebensjahr in der eingemauerten DDR, dann siegte 1989 die friedliche Revolution und die Welt stand denen, die wie er eben noch auf der Strasse demonstriert hatten, endlich offen. Oberenders Vita ist wie die vieler Ostdeutscher von einer Dichotomie geprägt: einem Leben in der stillen und oft auch offen Opposition im Osten und danach eines im Westen, wo (vermeintlich) das Lustprinzip regiert und an die Grenzen zu gehen, sehr viel schwieriger ist. Oberender hält dem scheinbar ein Lustprinzip Ost entgegen: «Natürlich hat das unfreie System DDR in meinem Leben Spuren hinterlassen und es oft auf andere Bahnen gelenkt. Nirgends in der Welt war im Widerstand zu sein übrigens so einfach wie in der DDR. Der Staat, das waren einfach die anderen. Sich davon frei zu machen und anderen Themen zu folgen, war für viele Menschen wie mich im Osten ein Lustprinzip. Im Grunde hat das System einen auch in Ruhe gelassen, weil das «Böse» so offensichtlich und scheinbar auf der anderen Seite blieb. So lebte man in Cliquen, mit Büchern und statt zu telefonieren, klopfte man an die Tür des Nachbarn. Das private Leben war viel weniger normiert als heute, weil es nicht so bürgerlich war. Ich habe an die DDR natürlich auch nicht die grauen Erinnerungen, die jene haben, die sie von außen sahen.»
Nach der Revolution im Osten – Oberender war gerade im ersten Studienjahr – entdeckte der 23-Jährige die späte Berliner Schaubühne und den Dramatiker Botho Strauß. «In seinen frühen Stücken stand, wie wir wohl werden würden. Seine Werke waren für mich eine einführende Mentalitätskunde. Sich mit seinen Stücken, Büchern und Essays zu beschäftigen, hieß, sich mit der Geschichte der Bundesrepublik zu beschäftigen und hieß auch, sich mit Spielarten des Bürgerlichen zu beschäftigen, in die man selber hineinwächst. Botho Strauß ist jemand, der sich im Widerstand begreift, aber ganz anders, al ich mir das je vorgestellt habe und viele Jahre war er für mich der Wegweiser in diesem inneren Ausland der neuen Bundesrepublik.» Während seiner Zeit am Bochumer Theater, aber vor allem bei den Salzburger Festspielen wurde dann Peter Handke jemand, der ihm neue Sichtweisen und Kontinente erschloss. «Er ist der Künstler, der mich von meinen Komplexen und meiner Blödheit als Intellektueller am gründlichsten geheilt hat, weil er sich selber so oft erfunden hat. Finden dauert länger als suchen.», zitiert er ihn.
Heute ziehen Arbeiten junger Künstler wie Tino Sehgal, Thom Luz oder Susanne Kennedy die Aufmerksamkeit des Festspielintendanten auf sich. Wer jetzt vermutet, dass Oberender das eigene Schreiben und Forschen seiner Intendanz geopfert hat, liegt falsch. Jedes Jahr entstehen eine Anzahl von Essays und Artikeln, die jüngsten zum «Gegenwartstheater» in der Zeitschrift Lettre oder seine kulturpolitischen Thesen «Die dritte Geburt» anlässlich des fünften Kulturkongresses Ruhr.
Der ‚Intendant‘ Oberender ist ohne den ‚Intellektuellen‘ und ‚Autor‘ nicht denkbar: «Wir leben alle nur fruchtbar, wenn wir Hinterland haben. Wenn man aufhört, sich Hinterland erarbeiten zu können, dann wird man zum Funktionär.» Oberender, der gerne von Entgrenzung der Formate und der Genres spricht, hat auch seinen eigenen Beruf ‚entgrenzt‘. Dass er sich dabei keinesfalls als Allrounder verstehen will, sondern als «Entdecker», verrät ihn als echtes Kind einer Forschungshochschule wie der Humboldt-Universität.
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