«Angela Merkel ist unsere oberste Schamanin»

Norbert Mayer im Gespräch mit Thomas Oberender

Die Presse: Sie haben sich in Ihrem eben erschienenen Buch «Empowerment Ost» mit Wiedervereinigung Deutschlands vor 30 Jahren beschäftigt. Ihre Erinnerungen setzen mit den immer größer werdenden Demonstrationen von DDR-Bürgern 1989 ein. Bei einer waren Sie in Leipzig zufällig dabei. Was aber haben Sie beim Fall der Mauer am 9. November in Berlin erlebt?

Thomas Oberender: Wir hatten das Gefühl, hier passiert etwas, was nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Kurioser Weise haben wir Schabowskis abrupte Grenzöffnung an diesem Abend gar nicht mitbekommen. Erst am nächsten Tag schaltete meine Frau vormittags den Fernseher ein und plötzlich sahen wir Leute auf der Mauer tanzen! Wir wollten sofort losrennen, aber ich konnte nicht aus der Wohnung, weil mein Vater aus Leipzig zu uns unterwegs war und Mobiltelefone hatte noch keiner. Während also ganz Ostberlin den Westteil stürmte, saßen wir daheim wie auf heißen Kohlen und als wir endlich zur Grenze gingen, kamen uns bereits die ersten Rückkehrer entgegen - einer trug einen Schlafanzug unter dem Regenmantel. Der hatte wahrscheinlich Angst, dass fünf Minuten später wieder alles zu ist. Ich habe an diesem Tag einen weggeworfenen DDR-Ausweis gefunden, den ich später Ingo Schulze geschenkt habe, weil er in «Simple Storys» diese verwirrende und aufregenden Zeit ein Denkmal setzte.

In Ihrem Essay, der ursprünglich im Vorjahr als Rede in Athen gehalten wurde, dort wo einst Platons Akademie stand, verklären Sie die Monate vor der Wende und danach bis im Frühjahr 1990 als Chance für einen dritten Weg…

Ich finde nicht, dass ich diese Zeit verkläre. Und das Szenario eines Dritten Weges hat mich damals gar nicht interessiert. Aber wahrscheinlich war diese Zeit sogar noch viel toller und euphorisierender. Mit der Öffnung der Mauer entstand so etwas wie ein gesamtdeutsches Lächeln. Der ostdeutsche Staat war de facto über Nacht weg, obwohl es ihn noch gab und der Kapitalismus noch nicht da. Parteien, Verlage und Gewerkschaften wurden gegründet, diese Zuversicht ist heute nur noch schwer vermittelbar. Der Druck der Reformkräfte wurde eine Volksbewegung und die Öffnung der Mauer war in meiner Sicht eine Notwehr des kommunistischen Systems, um sich nochmal etwas Luft zu verschaffen.