«Splitting the Atom»
Gespräch zwischen Thomas Oberender und Roland Schimmelpfennig über sein Stück «Wintersonnenwende»
Auszug aus der deutschen Originalfassung
Thomas Oberender: Für mich ist das Musikvideo «Splitting the Atom» von Eduard Salier die Wanderschaft einer Kamera, oder eines Berichterstatters durch eine explodierenden Welt, die knapp vor der Detonation eingefroren wurde. Das ist der gleiche Zustand wie in deinem Stück. Es zeigt etwas, das im Leben so nicht zu haben ist – die Geschehnisse sind einem speziellen, hochdramatischen Moment erstarrt, und der Erzähler bewegt sich dann wie eine Sonde um die Dinge im Raum herum. In Wirklichkeit werden wir natürlich immer mit den Geschehnissen mitgerissen und alles ist vorbei, ehe wir es begriffen und empfunden haben. In Saliers Video vergeht zwar auch Zeit, aber es ist nur die Zeit des Erzählers. Die betrachtete Welt ist erstarrt, sie schläft mit offenen Augen, ist ein Wachtraum wie die in Dornröschens Schloss und wir sind die heimlichen Schlossbesucher, die hierhin und dorthin laufen. Du machst das als Erzähler in deinem Stück ganz ähnlich – da bedient auch jemand die Pausentaste, spult zurück, wechselt Perspektiven und Tonspuren, und so entsteht ein künstlicher Zeitraum, in dem du als Dramatiker eine eigentümlich freie Bewegung des Erzählens vollziehen kannst. Es entsteht ein freies Schalten und Walten mit Raum und Zeit, Innen und Außen, Gefühl und Reflexion, weil das reale Geschehen in eine dreidimensionale Animation verwandelt wird, die sich offen herzeigt. «Splitting the Atom» zeigt so eine Explosion im Pausenmodus zur Musik von Massive Attack. Die Welt ist gerade so lange eingefroren wie man braucht, um ihre Winkel zu erforschen, und dann kracht es. Deshalb fiel mir das Video ein – die Wintersommerwende in deinem Stück ist auch ein Fest, das in einem Rausch explodiert. Zugleich aber ist dein Stück ein altmodisches Familiendrama mit richtigen Figuren, Biografien, Kulissen und Konflikten.
Roland Schimmelpfennig: Ja, es ist ein Stück, in dem es an der Tür klingelt – das ist das erste Stück, in dem es bei mir an der Tür klingelt. Es ist auch das erste Stück, nein, das stimmt nicht ganz, das zweite Stück, das in einem bürgerlichen Wohnzimmer spielt. Bei «Peggy Pickit» gab es auch ein Wohnzimmer, aber nicht so bürgerlich wie hier. Dieses neue Bürgertum der Intellektuellen, mit dem typischen Mix aus Ikea und Biedermeier, der da beschrieben wird, hatte ich vorher in dieser Präzision noch nie gezeigt. Es ist natürlich auch ein Spiel damit, eine Einladung zum Kulissentheater und gleichzeitig die absolute Abschaffung des Kulissentheaters. Aber was du über die Explosion gesagt hast, ist der entscheidende Punkt beim Schreiben: Man hat immer das Gefühl, dass gerade im bürgerlichen Familiendrama immer alles über den Dialog entsteht. Gelegentlich auch durch die Entdeckung der Gespenster der Vergangenheit, wie bei Ibsen. Aber das Ganze wird immer im Dialog entwickelt. Das führt dazu, dass die Dinge entweder fernsehtauglich herbeigeführt werden oder an einem vorbei rauschen. Und das wollte ich stoppen. Deshalb gibt es diesen Stillstand und diese Großaufnahme der einzelnen Figuren oder der Details in dem Raum, die möglicherweise auch wieder was erzählen. Die Großaufnahme im Theater interessiert mich sehr, vor allem, wenn sie über den Text läuft.
Thomas Oberender: Wie geht das?
Roland Schimmelpfennig: Über Beschreibung. Es ist ja nicht ungewöhnlich, dass man im Theater die Rücken der Buchtitel im Regal lesen kann. Es war für mich ein Riesenvergnügen, diese Dinge plötzlich auf der Bühne mitteilen zu können, natürlich in der Hoffnung, dass diese Mitteilungen dann beim Zuschauer dann auch tatsächlich ankommen.
Thomas Oberender: Bei einem Stück von Eugene O’Neill oder Gerhart Hauptmann werden die Buchtitel, die im Regal stehen, in den Regieanweisungen bisweilen auch genannt. Aber das spielt insofern keine Rolle, weil sie ja doch namenlos bleiben, es sei denn, dass eine Figur zum Regal schreitet, ein Buch greift und darüber spricht. Dein Riesenvergnügen ist, dass du den Buchtitel mitteilen kannst, auch wenn er im Dialog der Figuren nicht genannt wird. Weil du eine erzählerische Ebene geschaffen hast, von der aus alles über die Figuren gesagt werden kann, was sie selber nicht sagen. Aber wer sagt das? Wer spricht da? Man kann sich vorstellen, dass die erzählerischen Passagen eingesprochen werden, also vom Band kommen. Möglich ist, dass es eine durchgehende Erzählerfigur gibt, oder sich die Figuren die Kommentare untereinander aufteilen.
Roland Schimmelpfennig: Ja, das ist möglich.
Thomas Oberender: Du sprichst im Grunde zwei Sprachen gleichzeitig – die von Ibsen, also des versteckten Autors, der sich im Dialog unsichtbar macht, und eine belletristischen Haltung.
Roland Schimmelpfennig: Es ist letzten Endes die Abschaffung des Illusionstheaters.
Thomas Oberender: Des absoluten Dramas.
Roland Schimmelpfennig: Das Stück spielt mit zwei Dynamiken. Das eine ist die extrem hohe Aggression, die ja doch über weite Strecken herrscht. Das andere ist der vollkommene Ausstieg aus der totalen Situation und der Einstieg in die Beschreibung. Umso schöner ist es, wenn diese Dynamiken sich aneinander reiben und umso irritierender wird dieser Slalom für den Zuschauer, weil er nicht weiß, auf welcher der beiden Ebenen er sich bewegen soll, er muss ständig springen.
Thomas Oberender: Der Regisseur auch.
Roland Schimmelpfennig: Ja, der Regisseur auch, der wird wahrscheinlich fluchen. In der praktischen Lösung müsste man nach einem Weg suchen, der es ermöglichst, dass die Erzählung trotzdem so theatralisch ist, dass sie stark bleibt. Das halte ich für möglich. Letztendlich bedeuten der Ausstieg und der Wiedereinstieg für den Zuschauer auch eine Form von Distanz und Draufsicht.
Thomas Oberender: Während all dieser Perspektivwechsel läuft ein realistischer Timecode mit, der von den Erzählern auch benannt wird, wie bei den Verkehrspolizeifilmen, wo die Echtzeit in einem Digitaldisplay mitläuft oder diese Zeitansagen von der Telekom. Es ist der Timecode der Welt draußen, mit dem die Bühnenwelt spielt.
Roland Schimmelpfennig: Im Prinzip ist die Raumzeit relativ kongruent, wir springen ja nicht über Jahre.
Thomas Oberender: Nein, bis auf wenige Ausbrüche ereignet sich das Geschehen innerhalb eines Tages – mit kleinen Vor- und Rückwärtsbewegungen innerhalb von 24 Stunden. Die Traumzeit, die es in dem Stück auch gibt, zerstört dieses realistische Setting nicht.
Roland Schimmelpfennig: Im Kern ist es ein absolut konventionelles Stück.
Thomas Oberender: Die Figuren haben alle ihren biografischen Rucksack, der aufgemacht wird und aus dem auch die Aggressionen stammen, von denen du sprichst. Ich finde das Stück aber gar nicht so aggressiv.
Roland Schimmelpfennig: Ich würde schon sagen, dass diese Auseinandersetzung des Ehepaares, die Darstellung der Mutter und die Beziehung zwischen Mutter und Tochter, letztendlich auch die Beobachtung des Kindes eine gewisse Aggression haben, es ist auch eine Aggression des Autors gegenüber seinen Figuren.
Thomas Oberender: Wieso? Weil es keine unverletzte Person gibt? Bis auf das Kind werden alle verwundet.
Roland Schimmelpfennig: Das Kind… das ist wie ein Hund.
Thomas Oberender: Abgesehen davon, dass es gar nicht da ist. Es ist eine unsichtbare Rolle.
Roland Schimmelpfennig: Das kommt noch hinzu. Und das Kind, das am Schluss kommt… Naomi. Ich misstraue eigentlich allen Figuren, mag sie aber gleichzeitig und verteidige sie in ihren Interessen. Wie diese Mutter sich diesem Mann hingibt, das ist gleichermaßen verständlich wie unverständlich.
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