«Das Volk»
Warum der 3. Oktober ein Feiertag ist und der 9. November gefeiert wird.
von Thomas Oberender
Am Abend des achten November aß ich Erbsensuppe während einer Drehpause als Filmstatist im Cinemaxx am Potsdamer Platz. Irgendwann schaute ich über den Tellerrand und plötzlich verschob sich die Unwirklichkeit der Filmkulissen in die Realität des umliegenden Ortes: Hier, am Potsdamer Platz, war vor zehn Jahren nichts, nur freies Feld, der Todesstreifen. Angesichts der Normalität des städtischen Lebens zwischen Läden, Cafés und «alten Bäumen» wirkt die eigene Erinnerung wie ein Trug.
«Blinde Kuh» hieß der Film, der dort gedreht wurde und sein Titel klingt wie eine Metapher auf die Erinnerung an jene Tage vor zehn Jahren. Diese Jahre liegen inzwischen wie ein schwarzes Band vor den Augen und irgendwie tappt man zum Jubiläum aufgeregt den Stimmen nach, die rufen: «Wißt ihr noch?» Allerorts erinnern jetzt Chroniken und Fernsehbilder an damals und mit ihnen kam die Frage: Wie lange rührt einen das noch? Wie lange fühlt man sich selbst noch einmal wie auf einer Silvesterparty oder nach bestandener Abschlußprüfung, wenn die Frau auf dem Bildschirm «Wahnsinn» schreit? Es rührt mich fast gegen meinen eigenen Willen, wenn in der Berliner Zeitung Alexander Osang sich und Wolfgang Thierse porträtiert, wenn ich die Geschichte eines minderjährigen Stasi-Informanten lese und den namenlosen Offizier höre, der den Grenzübergang als erster geöffnet hatte.
Am Brandenburger Tor sind die Westberliner zuerst über die Mauer gesprungen? Ich wundert sich: Ach, die haben auch was riskiert in diesen Tagen? Und Schalck-Golodkowski war am 4. November auf dem Alex, unter all dem Volk? Ich war kein Held in jenen Tagen und «das Volk» auch nicht. Die friedliche Revolution, die ja doch auch ein paar Opfer hatte, verdanken die Ostdeutschen einer Handvoll mutiger Leute. Sie sind ausgereist oder wollten ausreisen oder wollten dableiben und einen demokratischen Sozialismus ertrotzen, aber keine wollte damals, als alles ins Rutschen kam, die Wiedervereinigung. Es war ein ganz anderer Typus von Mensch, der damals die Wende herbeiführte als jene, die wir heute damit verbinden. Als ich Anfang September ‘89 zufällig in eine Montagsdemo in Leipzig geriet, habe ich es unter den applaudierenden Zaungästen nicht lange ausgehalten und bin über die Absperrung auf die Ringstraße geklettert – zu denen, die sich wirklich etwas getraut haben.
Als ich dann unter den nicht mal fünfzig Demonstranten stand, von denen ich keinen kannte und die scheinbar vor nichts Angst hatten, mochte ich nicht lange bleiben, denn es war in diesen Tagen durchaus noch gefährlich, der Polizei in Leipzig direkt ins Gesicht zu schreiben. Diese Leute der ersten Stunde, die auf dem Leipziger Ring demonstrierten, waren noch nicht «das Volk». Und als «das Volk» demonstrierte, war es nicht mehr gefährlich.
Wenn heute in den Reden vom Kanzler das heldenhafte Volk gelobt wird, denke ich an jene angstvollen und zugleich aufgeputschten, wilden, mutigen Stunden in Leipzig und dann klingt mir das Getue der Anerkennungsworte um so bitterer, denn wie bei einer schlechten Heirat überdecken sie in meinen Ohren ja doch nur die Feststellung: Die Braut ist arm. Ja, die Ostdeutschen sind vielleicht reich an Ehre. Aber ich pfeife auf diese Ehre. Wenn sie das Letzte und Einzige ist, das blieb, will ich mich auf sie nicht einlassen, denn unausgesprochen macht das alle Beteiligten arm. Es war sowieso alles ganz anders. Entweder es gibt an diesen 9. November ein privates Erinnern, so denke ich heute, oder es interessiert mich nicht. Die offiziellen Reden sprechen vom Fall der Mauer so, als hätte sie eh irgendwann einstürzen müssen. Nein, wir haben sie aktiv eingerissen, niemand ist befreit worden. Und wenn, dann nicht durch Westdeutschland, sondern durch die Handvoll Desperados, die damals wirklich von nichts mehr Angst hatten.
Daß die Feierlichkeiten dieses Jubiläums sich auf jene wenigen Tage im November beschränken, ist merkwürdig und zugleich auch nicht. Ein Einigungsvertrag am 3. Oktober ist zwar ein freier Tag, lässt sich nicht wirklich feiern. Der 9. November hingegen ist ein echter Feier-Tag, denn die Erinnerung deckt sich mit dem Gedenken an ein Fest: Am 9. November drang die ostdeutsche Geschichte in den Westen vor - plötzlich ging es uns beide an. Und wie bei jedem richtigen Fest fallen hier Tod und Wiedergeburt zusammen: Die Wende, sie kam mit dem Zufall in Gestalt von Schabowskis Zettel – diese Tag wird in der Erinnerung für mindestens eine Generation noch mit dem Gefühl von Rausch und die herzlicher Ankunft verbinden. Alles Wichtige geschah vor diesem 9. November, doch von nun an gab es kein Zurück. An diesem Tag ging dann wirklich das ganze Volk auf die Straße – und auf einen weiten, weiten Weg.
Der Tagesspiegel, Berlin, 14. November 1999