«Die Anthroposphäre verlassen»

Plädoyer für ein Theater, in dem der Mensch nicht mehr im Zentrum steht. 

Es gibt ein altes Erschrecken des Menschen über sich selbst. Shakespeare lässt in «Titus Andronicus» Menschen ihre Kinder als Pastete essen. «Ungeheuer ist vieles», schrieb Sophokles, «doch nichts ungeheurer als der Mensch.» Zu diesem Schrecken kommt ein aktueller Schrecken hinzu über das, was wir der Erde antun. Wir fressen sie genauso auf wie Tamora ihre Söhne. Obwohl wir nicht sagen können, dass wir es nichts ahnend tun. Wir stehen am Anfang eines Bemühens, die richtigen Worte dafür zu finden – «Ewigkeitskosten», «Geoengeneering»,  «natureculture», «graue Energie», «Chaoswetter», «transmortive Folgen», «Nachttemperaturanstieg», «Solastalgie», «Verschmutzungsrechte», «humanisierte Mäuse», «klimagerechte Versteuerung» – die Liste der Begriffe eines neuen Verstehens wächst von Tag zu Tag. Sie schleichen in unser Denken und das gibt Hoffnung. Neue Worte zu finden und alte Worte wie «Gaia» neu zu lesen, ist Teil eines Weltbildumbaus. Er ist der von unzähligen Akteur*innen mitgeprägter Versuch, die bedrückende Lage unseres Planeten in ein anderes System von Verstehen und Verhalten zu überführen. Dabei spielen Worte eine besondere Rolle, denn sie formen und bauen tatsächlich die Welt, in der wir uns bewegen, indem sie Skripte schaffen, Protokolle unseres Handelns und das nicht nur auf der Bühne, sondern als jene scripted culture, die uns als Zivilisation umgibt.

Bücher wie Viktor Klemperers «LTI» vermitteln nachträglich, wie alles, was in der Sprache des Nationalsozialismus geschah, offen und prophetisch jenes mindset prägte, das zum praktischen Holocaust führte. Auf andere Weise hat der junge Peter Handke mit «Weissagung», «Selbstbezichtigung» oder «Hilferufe» Stücke geschrieben, die damit spielen, wie Sprache uns spricht. Sprache agiert in diesen Stücken nicht in Figuren, sondern in den gestischen oder habituellen Figuren der Sprache selbst, die eine eigene Sphäre bilden, über unsere Köpfe hinweg. 

«Wir ‚machen Welt‘», sagt der Philosoph Federico Campagna, «indem wir normalerweise trennen, ordnen, Dinge an ihren Platz stellen und eine Verbindung herstellen zwischen den Dingen, die wir beschlossen haben, getrennt aus der Welt herauszuschneiden.» Das «Welt-machen» oder world-ing, wie Campagna es nennt, erzeugt um uns eine «Landschaft», die einem ästhetischen Vorgang entspringt – unseren eigenen Regeln folgend, nach denen wir sie bilden, uns in ihr bewegen und sie für die Welt halten. Welt, so Campagna, ist nie die eine, sondern die je unsere. Das für den Menschen zentrale Instrument für dieses «Welt machen» ist die Sprache. Und ein hervorgehobenes Instrument, um Welten durch Sprache zwischen Menschen zu erschaffen, ist die Bühne.