«Was ist fortschrittlich?»

Interview mit der Rheinischen Post

 

 

Rheinischen Post: Hat Herr Kehlmann Recht mit seinem Angriff auf das Regietheater?

Thomas Oberender: Natürlich hat er Recht, wenn er sich über dummes Theater beklagt. Über Aufführungen, in denen die Interpreten sich wichtiger nehmen als das Werk. Noch immer beruhen neunzig Prozent aller Inszenierungen auf Stücken und ich würde sagen, dass diese in der Regel zu neunundneunzig Prozent klüger sind als ihre Interpreten. Deshalb versuchen wir es ja ein aufs andere Mal, uns in ihnen zu spiegeln und zu erkennen. Jede Leichtfertigkeit bei diesem Vorgang ist mir ein Grauen. Aber es gibt keinen ästhetischen Königsweg bei diesem Unterfangen. Das kann in klassischen Kostümen genauso schief gehen wie in Jeans. Und Regietheater ist heute alles. Dass Regisseure wirklich zu den Autoren ihrer Arbeiten werden, ist sehr, sehr selten. Christoph Marthaler wäre ein solcher Künstler. Oder Christoph Schlingensief. Und in der Regel sind das dann Produktionen, die kollektiv entstehen, in Künstlerfamilien. Ich glaube, dass Daniel Kehlmann keineswegs ein biederer Zeitgenosse ist und genau mit dieser Art von Theater überhaupt kein Problem hat. Er polemisiert eher gegen ein zu bequemes und denkfaules Gesinnungsklima, das für ihn seinen bündigsten Ausdruck im Begriff des Regietheaters findet.