«Wird das ICC zum Berliner Centre Pompidou»
Gespräch mit Ulrich Seidler
Gut, dass Franziska Giffey das Verfahren in Gang setzt, an dessen Ende Berlin vielleicht irgendwann ein Kulturzentrum hat. Aber warum weckt sie falsche Erwartungen?
Kann man sich freuen und gleichzeitig mit den Augen rollen? Man würde es gern sehen, aber leider befragen wir Thomas Oberender nur am Telefon zum neuen Stand in Sachen ICC. Er steckt spätestens, seit er 2021 das Bauwerk als scheidender Festspiele-Intendant mit «The Sunmachine Is Coming Down» bespielte, tief in der Materie und freut sich wie gesagt erst einmal, denn: Berlins ehemalige Bürgermeisterin und amtierende Wirtschaftssenatorin Franziska Giffey (SPD) hat kürzlich in der RBB-Abendschau verkündet, dass sie für das seit vielen Jahren leer- und seit 2019 auch unter Denkmalschutz stehende Internationale Kongresszentrum einen internationalen Wettbewerb noch in diesem Jahr ausschreiben wolle.
Das hatte der schwarz-rote Senat im September 2023 beschlossen, er rechnet dafür mit Gesamtkosten von 1,6 Millionen Euro, die nun auch freigegeben werden. «Wir werden international die besten Architekten, die besten Investoren aufrufen, sich zu beteiligen an einem Konzept für das ICC», so Giffey. Endlich ist also Geld da, um ein Verfahren in Gang zu setzen. Das ist ein lang ersehnter Schritt.
Dann aber kommt wieder dieser Vergleich, der in die Irre führt: Nach Giffeys Vorstellungen soll nach dem Umbau aus dem ICC ein Berliner «Centre Pompidou» werden. Hier hakt Oberender nicht zum ersten Mal ein: Mit dieser sicher medienwirksamen Schlagzeile, so Oberender, schicke man das Wunschdenken in eine falsche Richtung. «Centre Pompidou klingt natürlich toll, aber der Gebäudetypus ist ein ganz anderer. Das ICC wurde nicht für Ausstellungsflächen gebaut, sondern hat zwei Säle mit 5000 und 2500 Plätzen und weitere kleinere Säle. Es besteht aus riesigen Verkehrsflächen, Foyers, Gängen, Treppen. Das Centre Pompidou wurde als ein riesiges Ausstellungshaus konzipiert und beherbergt darüber hinaus eine Bibliothek mit Lesesälen und ein Design- und Musikforschungszentrum. Die Raumaufteilung des ICC lässt sich nachträglich nicht mehr für einen solchen Zweck umrüsten und erfordert ein völlig anderes Nutzungskonzept.»
Gut ist der Vergleich mit dem Centre Pompidou einzig als Metapher dafür, dass das ICC ein möglichst zeitgenössischer Kulturort sein soll, mit diversen Angeboten und einer ähnlichen Strahlkraft, wie sie das Pariser Kulturzentrum hat. Die beiden Gebäude in ihren Funktionen zu vergleichen, sei aber eher «Quatsch», sagt Oberender.
Der Hauptpunkt, der den Vergleich wirklich hinken lässt, ist der Umstand, dass das Centre Pompidou vom Staat betrieben wird. Das genau ist aber nicht die Absicht Berlins. Das Land Berlin wünscht sich einen solchen Leuchtturm, aber bezahlen kann es ihn nicht, weder seine Instandsetzung, noch seinen Betrieb. Nach Schätzungen, die Oberender zitiert, werden zwischen 350 und 700 Millionen Euro für die Instandsetzung benötigt. Eine Größenordnung, zu der sich Bund und Land beim Humboldt-Forum durchringen konnten.
Doch im Vergleich dazu wirkt die Ausschreibung des ICC für private Betreiber wie ein Danaergeschenk. Zwar übernehmen sie eine architektonische Ikone Berlins, werden aber zu einem Kulturauftrag à la Centre Pompidou verpflichtet, der gewinnorientiert schwer erfüllen ist. Und sie müssten zudem die enormen Instandsetzungs- und Betriebskosten stemmen. Keine leichte Aufgabe. Schon die jahrzehntelange Stagnation bei der Nutzbarmachung der riesigen Gebäudekomplexe des Flughafens Tempelhof zeigen, wie schwierig politische Vorgaben und die Interessen von Investoren zu verbinden sind. Doch wie in Tempelhof wird auch im ICC die Lösung nicht darin bestehen, die Gebäude erstmal schick zu machen und dann zu vermieten – diese Rechnung nach altem West-Berliner Muster geht laut Oberender bei der heutigen Finanzlage nicht mehr auf.
Ja, man braucht Investoren aus der Privatwirtschaft, aus Gesellschaften und Genossenschaften, ergänzt mit Projekt- und Drittmittelfinanzierungen aus der öffentlichen Hand, auch vom Bund. Man ahnt den verwalterischen Aufwand und legt sich die Herausforderung neben andere, viel kleinere und weniger komplexe, an denen Berlin tagtäglich scheitert.
Oberender hält es für am realistischsten, das Gebäude im jetzigen Zustand auf elementarem Level wieder besuchsfähig zu machen und die Türen so schnell wie möglich zu öffnen. Den Vorschlag hat er schon einmal in einem Gastbeitrag für die Berliner Zeitung ausgebreitet. «Die Aura dieses Gebäudes ist sein Trumpf und sie ist intakt. Für den Wettbewerb werden sich vielleicht Großinvestoren mit Architekturfaible bewerben, die vieles umbauen und alles neu eröffnen». Doch genauso möglich sei es, einen starken Basisinvestor zu finden, der die Substanz zunächst nimmt, wie sie ist. Jemanden, der Lust und eine zündende Idee für eine neue Aktivierung des Gebäudes habe und innerhalb einer Betriebsgesellschaft mit weiteren Akteuren über zehn Jahre hinweg das Haus wieder mit Leben erfülle und Schritt für Schritt instandsetze.
Wenn man stattdessen die Marke des französischen Kulturzentrums ins Feld führt, schafft man falsche Vorstellungen von einem aus öffentlicher Hand errichteten und betriebenen Kulturstandort, wie es das Humboldt-Forum ist. Oberender erinnert daran, dass Berlin gute Erfahrungen mit der sukzessiven Reaktivierung von Großbauten hat, die die öffentliche Hand überfordern. Das Funkhaus Nalepastrasse wurde durch einen privaten Entwickler wieder zu einem lebendigen Kulturort. Übrigens mit guter Pizza und schönem Blick über das viel befahrene Wasser der Spree.
Vergleichbar ist das ICC, wenngleich sehr viel größer, auch mit dem Kraftwerk Mitte, dem ehemaligen Vattenfall-Werk, das von Dimitri Hegemann und seiner Schaltraum Berlin GmbH betrieben wird und das sowohl kommerzielle Angebote macht, aber im Zentrum natürlich viel Clubkultur und auch Hochkultur wie das hauseigene Atonal-Festival ermöglicht, für die er Kooperationspartner und Förderer gefunden hat.
Es ist schön und mutig, das Nutzungskonzept für das ICC mit dem Anspruch auf ein neues Centre Pompidou zu verbinden. Zugleich ist auch klar, dass Berlin nicht die Absicht und erst recht nicht das Geld hat, das ICC aus eigener Hand zu betreiben. Diese Kombination sei, so Oberender, sehr herausfordernd und berge Risiken in sich. Die auf eine kulturelle und kommerzielle Mischnutzung angelegten Modelle des Funkhauses Nalepastraße und Kraftwerk Mitte sind smart, aber das ICC brauche sicher eine Portion mehr Mut.
Das Land Berlin und der Bund sollten ein vitales Interesse daran haben, sich nicht völlig aus der kulturellen Nutzung des Gebäudes zurückzuziehen. Und schon schüttelt Oberender noch einen weiteren Vorschlag aus dem Ärmel: «Immer wieder gibt es Sorge um die zukünftigen Mietverträge der Berlinale. Warum sie nicht zum Ankermieter des ICC machen, das ein ideales Festivalzentrum wäre? Wer sich ein Centre Pompidou wünscht, sollte auch etwas darin leisten.»
Pessimistisch ist Oberender nicht. Er weiß von weit fortgeschrittenen Konzepten wie die der Initiativen ICCC und ICCA. Er ist gespannt, was bei dem Wettbewerb herauskommt. Vielleicht ein Wunder? Ihm wäre als Startpunkt eine Nutzung des Gebäudes, wie es ist, am liebsten.
Berliner Zeitung 22. August 2024