«Das Ruhrgebiet – eine Kulturhauptstadt Europas?»

Eine Entdeckung von Joseph Roth, eine Vision von Willi Brandt – über den Abschied von der Kohlefolklore, die inoffizielle Kultur des Ruhrgebiets und seine nächste Verwandlung
von Thomas Oberender

 

 

Warum pilgern Jahr für Jahr Menschen nach Weimar, in eine Stadt, die vor allem Erinnerungen produziert, Freizeitangebote und Souvenirs? Hier hat sich eine Kulisse bewahrt, in der sich heute ein Lebensgefühl erhält, das an die Goethezeit, bzw. die Bauhausjahre anknüpft. Man lebt also in Weimar noch immer dicht dran an der glücklichsten und fruchtbarsten Epochen der Stadtgeschichte. Dass Weimar 1999 zur «Kulturhauptstadt Europas» gewählt wurde, erscheint vor diesem Hintergrund verständlich. Aber welche Gründe sprechen für eine Bewerbung des Ruhrgebiets um diesen Titel? Von welcher glückhaften Epoche zehrt diese Region und in welchen Relikten erlangt solch eine «goldene Zeit» ihre erlebbare Gegenwärtigkeit?

Weimar hat im Vergleich zu den Städten des Ruhrgebietes eine Geschichte vor der Industriegeschichte, auf die es zurückgehen kann und aus der es sein Kapital schlägt. Ganz anders als in Essen, Bochum, Duisburg, Dortmund oder Gelsenkirchen, wo die Epoche des Wiederaufbaus und Wirtschaftswunders trotz aller Härten zu den glücklichsten Jahren zählen, an die man sich vor Ort erinnert. Die Städte des Ruhrgebiets entstanden nach dem Krieg neu – sie wurden nicht einfach nur wieder aufgebaut, sondern neu entworfen. Anfang der fünfziger Jahre hat man sich hier von der übrig gebliebenen Substanz aus der vorindustriellen Zeit «befreit», den engen Gassen im Ortskern und Fachwerkhäusern, und so entstanden Städte als Citys wieder auf, mit breiten Ringstraßen und sich kreuzenden Alleen in den Fußgängerzonen.