«Schöpferwissen»
Eine Produktion von internil, Berlin theaterdiscounter
«Partizipatives Theater ist kein Mitmachtheater. Wir hassen Mitmachtheater!», sagt der Mann hinterm Empfangstresen des theater discounter in Berlin, der den Gästen ein selbstklebendes Namenschild aushändigt, das sie entweder für die blaue oder für die rote Gruppe einteilt und auf das sie ihren Namen schreiben sollen. «Mit Genderangabe?», fragt die Besucherin am Check-in-Platz. «Klar, gerne!» antwortet ihr Christian Römer, der Empfangschef und sagt: «Keine Sorge! Sie können sich frei bewegen, aber niemand muss mitspielen» - es klingt als hätte er diese Beruhigungsworte an diesem Nachmittag schon dreißig Mal ausgesprochen. Die neue Aufführung von internil beginnt mit einem Boarding, bei dem pro Gast ein Trinkbecher, Falthocker und Stift ausgeteilt werden. Danach sitzen alles Gäste des Abends in der kleinen Bar im Foyer wie eine Reisegruppe, die darauf wartet, dass es los geht.
Drinnen im Aufführungssaal treffen beide Gruppen ihren Trainer bzw. ihre Trainerin, in meinem Fall Marina Dessau, die kurz die Spielregeln des nachfolgenden Seminars oder Trainings erklärt. Für das Stück hat sich das Team von internil in die Firma «internil analytics» verwandelt, die an diesem Abend die Internet-Performance eines deutschen Paares analysiert, das set 2014 an die 4000 Schulungs-Videos auf diversen Plattformen hochgeladen hat, mit denen sie ihre Privatreligion, ihr «Schöpferwissen» teilen und um neue Anhänger werben.
Im Saal steht in gut 12 Meter langer Tisch, umstanden von künstlichen Palmen und den Falthockern der zwei Gästegruppen. Sie bekommen Wasser und Marshmellows gereicht und können auf großen Leinwänden an den Stirnseiten des Raumes die Filme von Julia Pappelbaum und Thomas Veil sehen. Die deutsche Paar lebt in Thailand und hat dort aus dem Nichts ein gut florierendes Seminarcamp für deutsche Sinn- und Erleuchtungssuchende am Strand von «Lost Paradise» aufgebaut.
In Zeiten von VPN-Verbindungen, Trackern, Cookies und privacy-Regelungen ist es kaum zu glauben, was auf dem YouTube-Kanal «Schöpferwissen.tv» an privaten, intimen Selbstauskünften des Paares und vor allem seiner Gäste zu entdecken ist. Im Theatersaal sitzen inmitten der Stuhlreihen der Gästegruppen auch die internil-Spieler und sprechen die Texte wie emotional gedämpfte Synchronsprecher die Texte der Therapiegäste und Selbsterhaltung Heiler aus den Videos nach. Das ist komisch und zugleich unheimlich, wenn man einem deutschen Arzt lauscht, der mit seiner Frau in der Sinnsuchergruppe gelandet ist und erzählt, wie er vom Leben enttäuscht ist, von der stupiden Arbeit, die ihn vom Oberarzt zu einer Art Kliniksbeamten gemacht hat.
Und irgendwann fällt beim Zuhören und Zusehen dieser «Therapierunden» auf, dass die Gespräche im Video an einem ähnlichen Tisch unter Palmen geführt werden wie dem im Theatersaal. Das legt den Schluss nahe, dass sich das «Therapeutenpaar» im Film Team von internil analytics spiegelt, nur dass deren Methoden technologiebasiert sind. Die Daten- und Kommunikationsspezialisten von internil versprechen, dass sie ihre Gäste lehren, «wie man Menschen wirklich versteht». Etwas, das überraschend ähnlich klingt wie das Erkenntnis-Versprechen von Julia und Thomas, obgleich das Internil-Team dafür digitale Analysesoftwares nutzt, und so unter die Oberfläche der YouTube-Filme des deutschen Paares schaut.
Neben der Metadatenanalyse von Julia und Thomas‘ Videokanälen, der Statistik ihrer uploads und deren Reichweite auf Plattformen wie «Schöpferwissen.tv», «Drachentöter.tv» oder «Veritas-Lügensarg.tv», untersucht internil Analytics aber vor allem das soziale Verhalten des Paares selbst. Dank einer Wortanaylsesoftware werden z.B. die häufigsten Begriffe des Thereapeutenpaares herausgefiltert, darunter Worte wie «scheinbar», «Illusion» «Programmierung», das «Typische» oder «Normale», gegen die von ihnen Erlösungsworte wie «Befreieung» und «Liebe» gesetzt werden.
Die Guru-Sprache dieser sächsischen Auswanderer klingt wie aus einem therapeutischen Dschungelcamp und die Enthemmung von Thomas Welterklärungs Monologen produziert dabei eine große medialeEindringlichkeit. Bislang haben die thailändischen Videos des Paars auf ihren Dutzenden Kanälen 2.5 Millionen Menschen gesehen. Durch die Recherchen von Internil entdecken die Theaterbesucher auch in dieser Produktion wieder soziale Welten des Internets, denen sie in der Regel nie begegnen würden. Das Querdenkertum, mit seiner Verachtung für die «Staatsorgane», wirkte über die Jahre auf viele ihrer Online-Fans immerhin so ansprechend, dass sie tatsächlich in das Camp am Strand von «Lost Paradise» reisten und dort die workshops und «Fernschulungs»-Angebote von Julia und Thomas für gutes Geld besuchten.
Deren Therapie-Aufführung zeigt im analytischen Scan von Internil dabei gut verborgenen Gefühle - von Versuchen der Selbstberuhigung über depressive Schübe bis hin zu Schüben von Verkündungswahn. Wenn im traditionellen Theater die Texte und Gesten von Figuren wie Julia und Thomas durch Schauspieler interpretiert wurden, so übernehmen dies in diesem Hybridtheater von Internil die Algorithmen und diese lassen tief blicken.
Es braucht, wie im «richtigen Theater» nur genügend Parameter, und schon kommt man den wahren Intentionen und nächsten Aktionen dieser Gestalten sehr nahe. Dieser Dechiffrierungsprozess, der sonst in künstlerischen Proben geschah, wird heute in Firmen- und Regierungsrechnern von Software geleistet. Das «Schöpferwissen», das man zunächst auf das Programm des exotischen Retreats von Julia und Thomas bezogen war, wechselt somit plötzlich seinen Ort und wird zum Wissen algorithmischen Systeme, mit denen Internil auf der Bühne arbeitet. Ihre Aufführung wirkt trotzdem nicht wie ein spätes Brecht-Stück, sondern entwickelt etwas völlig anderes:
Die Welt, die Brecht noch «verfremden» konnte, ist hier schon durch und durch fremd und per se künstlich. Die Figuren, auf die sich die Aufklärungsshow von internil bezieht, sind die bereits vorveröffentlichten, inszenierte Figuren zweier Medienprofis. Deren tausendfach gelikte Videos zeigen Menschen, denen wir nie wirklich begegnen, sondern «nur» ihren hergestellten Medienbildern. Und das ist kein Problem, sondern, von der Welt des Internet her betrachtet, der Normalzustand der Welt, ihr genereller Status.
An diesem Punkt beginnt der Abend eine überraschende Tiefe zu entwickeln. Auch für diese Produktion hat Arne Vogelgesang sich über Jahre hinweg mit der Selbstinszenierung einer speziellen online-Gemeinschaft beschäftigt. Und auch diese Internil-Inszenierungen legt nahe, dass die politischen, sozialen und spirituellen Verhaltensweisen dieser online-Communities im Extrem vorformen, was bald ins Verhalten der Mehrheitsgesellschaft eindringen könnte. Was läßt verunsicherte, frustrierte Deutsche ins retreat von «Lost Paradise» reisen? Kommt nach dem Sektenboom und Reformeifer, wie es ihn schon mal in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts gab, bald wieder der Faschismus? Oder ist er schon da in Form des neuen Datenmonopolisten, auf deren dunkle Möglichkeiten uns internil Analytika hinweist?
Eigentlich ist dieses deutsche Ausstelgerpärchen mit seinem profitablen Erweckungsbusiness in seiner Philosophie und Sprache viel zu trivial und persönlich auch bald zu kaputt. Von Video zu Video sieht man die Transformation eines Paars in lebende Wracks, die zugleich nichts anderes zu wollenbehaupten als andere zu retten. Wenn nur die Selbstrettung gelänge: Vor der Videokamera zeigt Thomas, wie er sich mit Skalpell und Pinzette die Implantate aus dem Bauchspeck entfernt, die ihn träge und fremdgesteueret machen. Arne Vogelgesang und Chrstopher Hotti Böhm wiederholen diese Körpertortur im Saal und plötzlich erzeugt dieser Blick auf den Körper, den echten Leib im Raum, ein tieferes Verstehen dessen, warum sich die Künstler von Internil auf ausgerechnet dieses Pärchen und seine Videospuren konzentriert haben.
Denn Internils-Analyse ihrer Unternehmens- und Beziehungsgeschichte entspricht der Sichtweise und Erfahrung der postinternet-Generation: Ihr Verständnis von «Realität» umfass die des Internets ganz selbstverständlich mit, genauso wie ihre Analyseverfahren aber auch ihre sozialen Erfahrungen aus dem Internet stammen. In der Internetwelt, aus der Internil berichtet, ist alles mit allem verbunden, jede Meinung und jeder Wahn sind auf ihre Weise im Recht und so entsteht eine Welt unaufhörlicher Erregung, Jetzt-Produktion und Spiegelungen. Mitmachtheater ist es trotz seiner offenen Form nicht, aber es verknüpft körperliche und digitale Theaterwelten, die sich sonst nie begegnen.
Wir sehen die Akteure auf dem Bildschirm von «Schöpferwissen.tv» nur durch den Blick der Kamera. Was sie wirklich sind und sagen - wir können es nicht wissen, selbst wenn die Algorithmen viel in diesen Gesten erkennen. Nur der Darstellerkörper ist real, ein «System» von «Organen», das der Messias-Darsteller am liebsten verlassen und abstreifen möchte und bis dahin von Nano-Bots und Parasiten reinigt. Mit einer subtilen Geste erfüllt am Ende der Aufführung Internil diesem Mann, der bis zur Selbstzerstörung den «Wolf in der Brust» befreien will, einen Wunsch aus seinem letzten Video.
Denn darin zeigt er auf die Kamera und sagt, inmitten eines Redeschwalls, plötzlich sehr klar: «Und wenn ihr dieses Video seht und diese Worte hört, dann schreibt euch folgende Worte auf - schreibt sie auf.» Und an diese Stelle stoppt das Originalvideo und internil schreibt seine nachfolgenden Worte tatsächlich auf und sie könnten von Friedrich Kittler stammen oder von Jean Baudrillard, denn sie sagen in vollendeter Klarheit, dass wir nicht ihn sehen, und ihn in tausenden Videostunden nie gesehen haben, sondern immer nur sein Bild. Internil Analytika hat mit der Intelligenz diverser Scan-Softwares diesen Körper so gründlich wie möglich vermessen, aber es bleibt immer sein digitales Bild.
Vielleicht braucht es ein Produktionskollektiv wie Internil, dessen Arbeiten völlig aus dem sozialen und theatralen Rohstoff des World Wide Web bestehen, um die Bedeutung diese Worte eines mit Flügeln tätowierten Propheten wirklich zu verstehen. In 3882 Videos war sein Blick nur ein Blick in die Kamera - als der Blick auf das Ich, das er herstellt, sucht, zerstört und überhöht. «Um «mich» zu sehen, wirklich mich,» sagt der ausgelaugte, kettenrauchende und seine Julia marternde Thomas in seinem letzten Vodeostatement, «müsstest du schon hier sein, in diesem Raum, sonst siehst du mich nicht.» Und dafür lohnt es sich, in den Berliner theater discounter zu gehen.