«So werden wir das Stück»
Gespräch mit Susanne Petrin
Susanne Petrin: Herr Oberender, Sie werden Jahr für Jahr nach dem Sinn des Theaters befragt. Haben Sie eine perfekte Antwort festgelegt – oder entwickeln Sie ständig neue Antworten?
Thomas Oberender: Für mich ist Theater einer der schönsten Wege das Leben und die Welt zu verstehen. Und ich glaube, solange Menschen in Gemeinschaften leben, schaffen sie sich Bühnen, um sich ihrem eigenen Leben gegenüberstellen zu können – und es dadurch zu begreifen. In der Antike war das Theater der praktische Gottesdienst der Griechen. Für uns heute ist es eine vergleichsweise preiswerte und flexible Art, wie man sich seinen Ort in der Welt ohne Gott erklären kann.
Ist es nicht billiger, ein Buch zu lesen, um die Welt zu verstehen?
Das Buch ist ein privates Vergnügen; Theater ist immer ein öffentliches Erlebnis: ein grosses Ritual, das Menschen erfunden haben, um das, was sie zur Gemeinschaft macht, gemeinsam zu erleben.
Hat es das Theater mit jedem Jahr schwerer, nochmal etwas Neues zu erfinden?
Im Gegenteil. Das Theater erfährt im Moment sehr viel mehr Aufmerksamkeit als noch vor einiger Zeit. Wenn Sie sich vor Augen führen, was für neue Technologien gerade entwickelt werden: Virtual oder Augmented Reality, 360-Grad Videos. All die Leute, die daran arbeiten, schauen plötzlich wieder zum Theater und versuchen, da zu lernen, wie man Geschichten erzählt. Wir erleben gerade die Geburt eines neuen Mediums. Und da studiert man bei den alten Medien, die so viele Tricks erfunden und so viele Verwandlungen hinter sich haben, wie es gehen könnte. Wie erzählt man im virtuellen Raum ohne Schnitt? Wie geht das in einer Welt, die einen rundum umgibt? Das immersive Theater macht es vor.
Die neuen Medien sind also keine Bedrohung für das Theater?
Nein, gar nicht. Das Theater verwandelt sich einerseits selber ständig. Anderseits hat es ein unersetzbares Moment: Die Welt zu proben. Diese seltsame Konstruktion von Zeit und Raum: Dass es jetzt spielt, obwohl es etwas wiederholt, dass es hier stattfindet, obwohl es de facto woanders ist. Diese komplexe Präsenz-Erlebnisform gibt es das in keinem anderen Medium und ist auch nicht ersetzbar.
Sie haben schon Tausende von Stücken gesehen. Sind Sie trotzdem immer wieder überrascht?
Ja, sehr. Das ist das Allerschönste überhaupt. Dafür gehe ich ins Theater.
Ist es ein wenig wie mit dem Universum, dass man nie an ein Ende kommt damit?
Es ist wie eine Sprache, die auch nie ausgesprochen ist, sondern sich verjüngt und verändert.
Was hat sie denn in letzer Zeit überrascht?
Vor wenigen Tagen sah ich eine verblüffende Aufführung namens «Trans-» der dänischen Compagnie «two-women-machine-show». Das war eine Form von Theater, wie ich sie noch nie gesehen habe. Eine Bühne, auf der man selber in einem großen Stuhlkreis sitzt. Und gegenüber vier Performer, die zurückblicken. Das Stück handelt davon, was sie sehen, während sie vor uns stehen. Und da sehen sie uns. Und so werden wir das Stück. Aufregend und jeden Abend anders.
Es gibt eine Tendenz, dass die Zuschauer immer stärker ins Geschehen hineingezogen werden.
Auch in der Bildenden Kunst und der Musik gibt es diese Tendenz: Dass man den Dingen nicht gegenübersteht, sondern in sie eintritt. Das hat viel mit der digitalen Kultur zu tun, deren Metapher das Netz oder die Cloud ist.
In diesen politischen Zeiten sei das Theater wieder wichtiger für die Gesellschaft, schreibt die Jury im Theatertreffen-Programmheft. Sie glauben also auch daran?
Ich glaube, dass Theater immer durch einen Umweg relevant wird. Es ist kein direkt politisches Medium, keine Partei. Aber es schafft eine Situation der Gleichheit, Augenhöhe, holt die Ausgeschlossenen ins Zentrum, das ist an sich, also unabhängig vom Thema des Stückes, ein politisch wertvoller Vorgang. Das Theater überführt die Welt für eine kurze Weile in einen anderen Zustand, schafft eine andere Form von Zeit und Ort. Daran vermag eine Gesellschaft sich erkennen. Das kann von politischem Nutzen sein. Und in politischen Krisenzeiten entsteht tatsächlich oft sehr interessantes Theater.
Ist das für Sie die Konstante von Theater, dass es Zeit und Ort verwandelt?
Ja, ich hab mal ein Buch darüber geschrieben: «Leben auf Probe». Theater ist der einzige Ort der Welt, wo Sie das Leben so leben können wie das echte - aber hier können Sie es wiederholen, begreifen und besser machen. Unser Gespräch ist vorbei, wenn Sie auf den roten Punkt drücken. Im Theater fangen wir wieder von vorne an, sprechen dieselben Sätze, befinden uns in derselben Situation nochmal. Und können klüger sein, mit der Situation spielen. Ich glaube, dafür haben das die Menschen mal erfunden: Um ihr Leben in jede Richtung auszuprobieren.
Obwohl ja jede Aufführung wieder ein wenig anders ist.
Ja eben! Man trifft eine gewisse Verabredung, aber jedes Mal ereignet sich das etwas anders. Wie man dahingekommen ist, hat viel damit zu tun, dass man diese Sätze schon in jeder erdenklichen Haltung gesprochen hat, bevor eine bestimmte Festlegung erfolgt ist und auf deren Basis finden Sie im Spiel eine Freiheit, die im Leben sonst so nicht zu finden ist.
Was kann dieser Prozess im besten Fall bewirken?
Ein intensiveres, klügeres, freieres Erfahren Ihrer Gegenwart. Im Leben wird man ja immer bestraft, wenn man etwas falsch macht. Im Theater nicht. Das betrifft jetzt vor allem das Theatermachen: Jede Form von Streit, Liebe oder Erkenntnis erleben sie dort ganz «echt», und zugleich irgendwie auch testweise - etwas, was das Leben sonst nicht bereithält. Da wartet auf uns doch meistens nur die Steuererklärung und andere ernste Sachen.
Hat Theater Ihnen selber schon dabei geholfen, Probleme im echten Leben zu meistern?
Ja, sehr.
Können Sie sagen, was für eine Stellung Schweizer Theatermacher im deutschsprachigen Raum haben?
Ich glaube, Milo Rau ist ein internationaler Superstar geworden. Christoph Marthaler ist es. Barbara Frey ist sehr rennomiert. Simon Stone stammt aus Basel. Es ist schon ein Land, aus dem viele wichtige Künstler kommen.
Haben die Schweizer Theaterhäuser einen bestimmten Ruf?
Der Applaus ist kürzer, das Publikum ein bisschen undankbarer.
Ach ja?
Sie haben ja viel bezahlt, warum sollte man da noch lange klatschen. Aber vielleicht täuscht das.
Und was verbinden Sie noch mit Schweizer Theater?
Was man von der Schweizer Graphikerszene sagen kann, dass sie vielleicht die interessanteste Europas ist, würde ich von der Theaterszene nicht sagen. Es gibt sehr gute Arbeitsbedingungen. Es gab Zeiten – Düggelin am Theater Basel, Marthaler am Schauspielhaus Zürich – da war die Schweiz für die deutsche Theaterszene ein Mekka. Vier mal Theater des Jahres in Folge; da hat man sehr nach Zürich geschaut. Diese grosse, widerständige Rolle, die ein Künstler wie Marthaler spielt, der auf eine andere Zeit, eine andere Unnützlichkeit von Theater besteht. Das war leitbildhaft. Auch durch die Neugewinnung einer untypischen Spielstätte wie den Schiffbau - und damit neuer Theaterformen.
Und im Moment ist die Schweiz ein wenig weg vom Fenster?
Naja, Rimini Protokoll ist ja auch aus der Schweiz. Rimini Protokoll ist vielleicht die grösste Erfindung der letzten 20 Theaterjahre. Wenn Sie nach China fahren, kennen wenige Thalheimer, aber Rimini Protokoll und deren interaktives Theater kennen alle.Diese Compagnie hat ein anderes Prinzip von Theater in die Welt gebracht. Aber inwiefern die Schweiz, vielleicht auch mit ihrer Förderung, dazu beigetragen hat, kann ich nicht sagen. Wichtig war sicher auch eine Schule wie Giessen, wo die Leute von Rimini Protokoll Theater studiert haben.
Wie haben Sie die Schweiz während Ihrer Zeit als Chefdramaturg am Schauspielhaus Zürich erlebt?
Es existiert eine besondere Form der Verletzlichkeit, ich meine das im sympathischen Sinn. Die Schweiz wähnt sich ja immer in einer Situation des Kleinen gegen die Grossen und fühlt sich schnell angegriffen. Aber wenn das Vertrauen da ist, sind ganz viele Wege möglich. Und es gibt ein hohes Mass an Verwantwortung dem Mitbürger gegenüber. Im Alltagsleben wird das bisweilen als eine ständige Pädagogik spürbar, man wird viel erzogen. Aber das kann man auch anders betrachten: Es ist einfach nicht egal, wie man zusammenlebt; es geht fast bis zur Überfürsorglichkeit. Es gibt eine grosse Angst vor dem Fremden und Erschreckenden. Deshalb haben Leute wie Marthaler eine Sprache gefunden, inmitten dieser Konsenskultur auf eine ganz feine Weise sehr provozierend zu sein, ohne dabei zu belehren. Anarchischer gehts fast nicht.
Und der wurde dann verjagt.
Ja, muss man so sagen. Dadurch wurde es aber auch Legende.
Haben Sie eigentlich schon mal geweint im Theater?
Oft, ja, wie man es nimmt. Man lacht oft, aber weint selten. Einen lachenden Saal habe ich oft erlebt, einen weinenden noch nie.
Das ist auch ein sehr intimes Moment.
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