«Schön oder erhaben? Die Bücher des eigenen Lebens.»
Über Peter Weiss’ «Die Ermittlung»
von Thomas Oberender
Am 25. Mai hatte am Berliner Hebbeltheater das Projekt BERLINER ERMITTLUNG von Esther und Jochen Gerz Premiere. Da ich für Theater der Zeit einen Kommentar zu dieser Aufführung schreiben sollte, begann ich einige Tage zuvor, das Stück zu lesen. Nach mehr als hundert Seiten war mir elend zumute, ich mochte mich den Details der Auschwitzprozesse nicht mehr aussetzen. Nachdem ich das Buch geschlossen hatte, fühlte ich mich schuldig - so ist das, dachte ich, auch du willst es nicht wissen. Aber du mußt! Muss ich? Ich sollte, es zerreisst einen. Der Text von Peter Weiss ist ein Kondensat grauenhafter Entdeckungen über die industrielle Vernichtung von Menschen. Der Text erinnert mich an etwas, das ich selbst nicht erlebt habe - in dieser Paradoxie liegt sein Wert. Er bewahrt das Entsetzliche in der gleichen Genauigkeit, wie sie aus den Berichten über die Noyaden von Nantes oder den Vietnamkrieg oder dem Krieg in Ex-Jugoslawien spricht. Und vielleicht ist meine Abneigung gegen die Details dieses Wissens tatsächlich nur Schwäche. Doch andererseits trifft mich die Gewalt der Fakten in Peter Weiss’ Text so hart, als hätte ich Strafe verdient. Wofür eigentlich? Dieser Schreckens macht mich sprachlos. Es muss doch eine Form des Erinnerns geben, die mich nicht sprachlos macht.
Die Aufführung dieses Dokuments von Peter Weiss mehr als dreißig Jahre nach seiner Uraufführung erweckt in mehrerer Hinsicht mein Unbehagen. Zum einen weil das, was DIE ERMITTLUNG ermittelt, seither weitgehend populär geworden ist. Man hat es mir beigebracht - als Schüler bei Besuchen im KZ Buchenwald, im Geschichtsunterricht, ich habe es gelesen, im Fernsehen und Kino gesehen. Und zum anderen, weil die Form des Erinnerns, wie sie von Peter Weiss’ Text ausgeht, mich wie gesagt eher verstummen läßt: Dieses Grauen und die ihm inhärente Wahrheit sind lassen aus meiner Sicht keinen ästhetischen Spielraum; trotz aller Lakonie im Gesagten ist die Wirkung des Textes erhaben, also übergroß, unermesslich und unrelativierbar. Das ertrage ich heute nur noch schlecht.
Peter Weiss hat in der Entstehungszeit des Stückes in ein großes Verschweigen und Stummsein hineingesprochen - das bis dato leise und kaum Gesagte hat er nach den Auschwitzprozessen in einer Gesellschaft von Dabeigewesenen laut ausgesprochen. Seine Form von Gedenken war das Dokumentieren, die radikale Versachlichung des Faktischen, das die Wahrheit zeigen sollte. Die Idee des Dokumentartheaters bestand in Kritik, Peter Weiss nannte das: Kritik an der Verschleierung, Kritik an der Wirklichkeitsfälschung, Kritik an Lügen. Das alles - die Schleier, die Wirklichkeit, die Lügen - war für ihn noch in ästhetischen «Modellen» auszumachen. Er hat sich als Autor weit hinter die Fassade des Objektiven zurückgezogen - der «Schreiber des Dramas», wie er sich nennt, will in dieser Faktensammlung nicht vorkommen, aus der unverfälscht nur die Wahrheit sprechen soll, nicht er. Wie fremd wirkt das heute auf mich. Unsere Form des Erinnerns scheint für mich nicht mehr das Ermitteln und Dokumentieren zu sein, vielmehr ist es ein stetes Schwanken zwischen den Riten des Gedenkens und schwierigen Versuchen, über das Geschehene so zu sprechen, dass niemand verstummt oder überwältigt wird.
Ich weiß nicht, ob dieses schreckliche Dokument von Peter Weiss jemals »schön» sein kann. Bei einer Darstellung dieser Protokolle wird es in erster Linie wieder um die «Sache» gehen - und die «Sache» ist schrecklich im wahren Sinn des Wortes. Da dieser Text nicht «schön» sondern faktisch sein kann und will, bedeutet die Aufführung immer auch in eine Affirmation an die Erhabenheit des Stoffes und die wiederholte Bestätigung seiner unbefragbaren Wahrheit: Auschwitz war schlimm und das Grauen grauenhaft. Damit haben alle Beteiligten recht und stehen, tief erschüttert, auf der richtigen Seite, aber das ist doch zu einfach und irgendwann will das niemand mehr hören. Aus jeder Anekdote der Geschichtsbücher von Alexaner Kluge spricht mich mehr Staunen und Zuhören an als hier, wo sich alles im Gestus des Faktischen abspielt.
Wenn ich heute über den Faschismus spreche, muß ich bei der Form des Antifaschismus beginnen, die ich erlebt habe. Momentan streitbarer wäre es, den Erfolg und anhaltenden Reiz des Faschismus ernst zu nehmen, anstatt das unbestreitbare Grauen zu reproduzieren. Ich glaube, daß ich vor den Verführungen des Faschismus durch eine Stärkung jener Lüste, Neigungen und Interessen, die mit dem ideologischen Totalitarismus nicht kompatibel sind, besser gefeit würde, als durch die Reproduktion des Erhabenen unter anderen Vorzeichen. Eine Mamutproduktion dieses Textes von drei Berliner Bühnen, mit dreihundert Beteiligten, Liveübertragung im Rundfunk und umfangreichen Kampagnen in Fernsehen und Zeitung, wie sie das Werbematerial der Aufführung von Jochen und Esther Gerz entwerfen, macht mich, wie gesagt, mißtrauisch. Ich will ja das gleiche. Wer eigentlich nicht? Diese Art des unfreien Erinnerns führt in letzter Konsequenz dazu, daß ich vergessen will.
Wie es wäre, wenn der Mensch kein Gedächtnis hätte, kann man in einem Buch des Astrophysikers Alan Lightman nachlesen. Darin heißt es: Eine Welt ohne Gedächtnis ist eine Welt der Gegenwart. Die Vergangenheit existiert nur in Büchern, Dokumenten. Um zu wissen, wer er ist, führt jeder ein Buch des Lebens mit sich, in dem seine Geschichte verzeichnet ist. Indem er täglich darin liest, kann er nochmals erfahren, wer seine Eltern waren, ob er von hoher oder niederer Herkunft ist, ob er in der Schule gut oder schlecht abgeschnitten hat. Ohne sein Buch des Lebens ist der Mensch ein Schnappschuß, ein zweidimensionales Bild, ein Gespenst. In den belaubten Cafés an der Brunnengasshalde hört man den gequälten Schrei eines Mannes, der gerade liest, daß er einst einen anderen getötet hat, den Seufzer einer Frau, die entdeckt… Mich interessieren, auch bei den Arbeiten von Peter Weiss, die Bücher des eigenen Lebens mehr als die Dokumente ohne Autor. Und mich interessiert genau jener Punkt, um auf Alan Lightman zurückzukehren, da man die Bücher des eigenen Lebens zuschlägt und hinter sich läßt.