«Skript und Agency»
Werküberschreibungen im Anthropozän
Thomas Oberender
Ähnlich wie Partituren, Libretti oder Tanznotationen ist die szenische Literatur eine Art «Software» des Repertoirebetriebs. Bis heute generieren sich aus den Notationen der überlieferten Texte soziale Handlungsabläufe auf der Bühne und im Betriebssystem des Theaters selbst. Sie erzeugen vieldeutige Erzählungen und jede Premiere auf der Bühne ist eigentlich der Coversong einer Aufführung des gleichen Stückes zuvor, sobald die Uraufführung einmal vorüber ist. Werküberschreibungen aber sind nicht nur neue Interpretationen, sondern schreiben sich in die DNA der Texte selbst ein, indem sie entscheidende Details im Skript, z.B. Geschlechterzuweisungen oder -beschreibungen, verändern und dem Werk damit einen neuen Dreh geben.
Mit etwas Abstand betrachtet, erinnert dieser Vorgang an ein sich insgesamt veränderndes Verhältnis unserer Kultur zu Texten oder Skripten. Nicht nur, weil sie durch die künstliche Intelligenz von Maschinen generiert werden können. Software schreibt Software, und inzwischen auch Tweets, Dialoge und Aufsätze. Auf einer tieferliegenden Ebene entwickeln Menschen seit gut fünfzig Jahren zudem einen immer direkteren Zugang zu jenen ganz andersartigen Skripten, der ihr Verhältnis zu dem, was «natürlich» ist, verändert. Sie verändern das Skript des biologischen Erbguts in Richtung einer gelenkten Evolution, bauen künstliche Zungen oder eine künstliche Haut, die auf Druck- oder Temperaturveränderungen und den Wind reagiert. All das beruht auf Code, Skripten, Text.
CGI-Bilder wirken in ihrer Erscheinung heute so natürlich, dass der sie Betrachtende schnell vergisst, dass sie die Natur, die sie abbilden, ohne direkte Referenz zeigen und vor allem, dass sie keine Bilder sind, oder zumindest nicht nur, sondern zunächst einmal «Text». Der Videokünstler Ed Atkins schreibt seine Filme via Tastatur als Programmcode. «Gescriptet» sind heute euch viele Abläufe in der sozialen Welt, die unser Verhalten im Strassenverkehr, im Börsenhandel oder bei der Nachrichtenerstellung lenken. Kulturwissenschaftler prägten dafür den Begriff «scripted culture» und sie ist immer enger und selbstverständlicher mit künstlichen neuronalen Netzwerken verbunden.
Auf «Skripten» beruht natürlich vor allem das biologische Leben selbst, das sich entsprechend des Programms der DNA und den epigenetischen Veränderungen der Chromosomen entwickelt und weitergibt. Dank der CRISPR-Technologie können heute im Erbgut von Pflanzen, Tieren oder Mikroorganismen gezielt Genabschnitte entfernt oder neue eingefügt werden. Die Künstlerin Lynn Hershman Leeson hat vor Jahrzehnten ihr gesamtes Studioarchiv in einer DNA-Sequenz gespeichert. Selbst Bilder und Videofilme können inzwischen in DNA-Strukturen eingebaut werden und dies gelingt inzwischen sogar in der DNA lebender Pflanzen. Das Speichermedium der Zukunft, das zukünftige Internet der Informationen, so prognostiziert der Künstler, Forscher und Erfinder Joe Davis, werden die lebenden DNA-Strukturen der Gräser und Pflanzen sein, die uns umgeben und in denen unsere Informationen in Gencode-Überschreibungen weiterleben.
Wenn unsere Spezies so tief in den «Text» des Lebens eingreift und seit zwanzig Jahren Hochleistungsrennpferde, Kamele und Hunde klont, warum nicht in die szenischen Skripte des sozialen Lebens eingreifen, wie es Stücktexte programmieren? Die biotechnologischen Eingriffe in die DNA führten dabei in den letzten Jahrzehnten zu ethischen und rechtlichen Fragen, die sehr denen ähneln, die sich mit Werküberschreibungen verbinden: Was ist erlaubt? Wo liegt die Grenze? Welche Urheberrechte werden verletzt oder entstehen?
Im Anthropozän verändert sich unser Naturbegriff rapide, wird hybrider und Donna Harraways Cyborgs, Onkomaus und Companions haben die Szene längst betreten. Unser Weltbild ist heute weniger darvinistisch als symbiotisch konturiert, wachsamer für systemische Zusammenhänge, in denen es viele Zentren und gleichwichtige Akteure gibt.
So wie wir von Bildern, Texten oder Stimmen umgeben sind, die von KI-Systemen generiert werden, die weder «die» Natur zeigen noch von natürlichen Akteuren stammen, befinden sich auch die «natürlichen» Texte der Theatergeschichte unverhofft in einer Umgebung, in der Mäuse, in deren Gene DNA-Abschnitte von Glühwürmchen eingefügt wurde, plötzlich in der Dunkelheit von selbst leuchten, weil wir so die Entwicklung ihrer Krebszellen besser erkennen.
Werküberschreibungen führen oft zu einer neuen Urheberschaft, z.B. bei Botho Strauß‘ Überschreibungen von Ibsens «Peer Gynt» oder Gorkis «Sommergäste» bis zu Jon Fosses «Orestie». Das historische Beispiel einer sehr erfolgreiche Werküberschreibung ist Schillers einzige Komödie «Der Parasit» von 1803. Sie stammt nicht von Schiller, sondern war seine Nachdichtung des französischen Lustspiels «Médiocre et rampant, ou le Moyen de parvenir» des französischen Lustspielautors Louis-Benoît Picard. Schiller hat an Picards Stück nichts Wesentliches verändert, er hat Picards Alexandriner in kräftige Prosa übertragen, einige neue Passagen hinzugefügt, Picards Name weggelassen und seit seinem großen Erfolg in Weimar 1803 amüsiert diese Komödie bis heute das Publikum auf deutschen Bühnen. Im Zeitalter der Klassiker sind die Klassiker also selbst sehr frei umgegangen mit Urheberrechten und Umschreibungen.
Seinen Ursprung hatte das abendländische Theater hingegen im Ritual und Kult, also einer textlosen Praxis. Aus ihr ging das Theater der antiken Griechen hervor. Deren Erfindung der szenischen Literatur führte viele Jahrhunderte später zur Konstruktion der ersten Blackbox-Theater im Italien der Renaissancezeit. Konzipiert von Akademikern, kam es im späten 16. Jahrhundert in Vicenca zur Wiederaufführung von Sophokles «König Ödipus» in einer Erlebnismaschine, deren Bauweise und Bühnenbild durch die damals neue und revolutionäre Zentralperspektive der zeitgenössischen Malerei, Gartenkunst und Architektur geprägt wurde. Diese Erlebnismaschine des Guckkastens war auch eine Schule des neuen Betrachtens der Welt und der Position des Menschen in ihr, bzw. ihr gegenüber.
Seit der Renaissance ist das Guckkastentheater ein Teil jener Kraft, die das Anthropozän erschaffen hat, einer Kultur, in der sich der Mensch und seine rationale Perspektive in den Mittelpunkt rückt – baulich in Wundermaschinen wie dem Teatro Olimpico in Vicenca, und literarisch durch das spätere Entstehen von spezifisch modernen Texten, die fortan zur Software dieser neuen Welterzeugungs-Apparate wurden. Und so, wie diese Apparate in das neue Zeitalter hineinführten, führt etwas in ihnen heute auch wieder aus ihm hinaus.
Seltsame Chimären erscheinen in der Tier- und Pflanzenwelt in der Moderne, Mäusen wächst ein menschliches Ohr auf ihrem Rücken und Schweinen ein menschliches Herz. Dies sind Beispiele für Überschreibungen des Gencodes und zugleich Metaphern für eine größere Veränderung unseres Verhältnisses zum Text, denn immer mehr wird zu «Text» oder wie Text behandelt.
Geflügelte Begriffe wie rewriting, resignifying, crossing, queering kennzeichnen durch ihr Präfix «re» die Überschreibungen zentraler Details der westlichen Normen und Referenzsysteme des Sozialen, Mentalen und Politischen. Universelle Grundannahmen - ein Sprechen «im Namen der Menschheit», wie es für Schiller oder später für die vor-woke Linke revolutionär war - verbinden sich heute nicht mehr mit emanzipativen Hoffnungen, sondern wurden selbst das Problem. Wer spricht heute noch im Namen aller, wer wendet sich noch an die Gesellschaft? «Welche genau?», lautet die Anschlussfrage. Und wer ist derjenige, der spricht? Für wen und im Namen wessen?
Die Antwort auf diese Frage weist auf unterschiedliche Modelle von Kulturinstitutionen hin, die der türkische Kurator Vasif Kortun im Bild des «Klosters» und des «Platzes» beschreibt. In seinem Vortrag «Beyond institutional hybris» hat er im Hinblick auf Museen das Kloster als einen Ort «außerhalb der Welt» beschrieben, an dem Ideen und Artefakte gesammelt und überliefert werden. Was hier bewahrt wird, kommt mitunter, so Kortun, erst Jahrzehnte oder Jahrhunderte später zur Wirkung. Artefakte und Gedanken werden hier durch die Zeit getragen und das in der Annahme, etwas Ursprüngliches und Wahres weiterzugeben.
Der Platz hingegen ist ein Ort, an dem nicht die originale Stimme bewahrt wird, sondern viele Stimmen zu einer Sprache finden. Er ist, anders als das Kloster, ein Ort der Gegenwart, der freien Verhandlung und seine Entscheidungswege sind horizontal, im Gegensatz zu den vertikalen Strukturen des Klosters. Kortun entwickelte sein Modell unter dem Eindruck von Protestbewegungen wie Occupy Wall Street, der Demonstrationen im Gezi-Park, auf dem Tahir, Syntagma oder Maidan. Für ihn war der «Platz» jener Ort, an dem das Neue sichtbar wird und nicht nur eine Leitform von Wissen, sondern eine Kultur der Verhandlung, des Widerstands und Widerspruchs entstehen lässt.
Auf das Feld der deutschsprachigen Theaterszene übertragen, entdecke ich kaum Institutionen in Kortuns Sinne des Klosters, zumindest nicht dort, wo man sie zuerst vermuten würde. Die Bewahrung originaler Formen erlebte ich in Tokio im nationalen Kabuki-Zentrum. Vielleicht lässt sich auch die Überlieferung der chinesischen «Revolutionsopern» so verstehen, doch selbst die 400 Jahre alten «Passionsspiele» in Oberammergau sind heute eine interessante Form von Regietheater.
Werktreue beobachte ich in Deutschland eher im Feld der freien Szene und der mit ihr verbundenen originären Kreationen. Pina Bauschs Stücke werden von ihrer Kompanie auch nach ihrem Tod weiter original erhalten. Kreationen wie die Stücke von Christoph Marthaler, Florentina Holzinger, Gob Squad oder Susanne Kennedy werden, ob in der freien Szene oder im Repertoiretheater, von ihren Urhebern selbst realisiert und von anderen nicht nachgespielt. Der Text ist hier nicht zwingend die primäre Quelle, sondern Teil einer umfassenderen Formfindung aus Musik, Bildern und Bewegungen.
Mit Kortuns Idee des «Klosters» ist ein essentialistisches Konzept von Werten verbunden, die sich in Werken inkarnieren, die wir durch die Zeit tragen und auf sie immer wieder zurückgreifen. Deren angenommener Universalismus steht heute, anders als in Zeiten, als große Buchreligionen das gesellschaftliche Miteinander regelten, in der Kritik durch eine zeitgenössische Form von «Stammesdenken», wie Susan Neiman in ihrem Buch «links ist nicht woke» beschreibt. Für das woke Denken ist der Universalismus der Aufklärer zunächst ein rein westlicher, ein schuldbesetzter, partikularer «Universalismus», der assoziiert wird mit Machtinteressen, Ausgrenzungspolitiken und Missbrauch. Und so wirken auch die mit dieser Idee des «Universalismus» assoziierten Werke der Klassik selbst problematisch.
Werküberschreibungen setzen heute genau an diesem Punkt an und berühren besonders durch ihre Sensibilität für Gendernormen quasi das Zentrum sozialer Konstruktionen von Macht, begleitet durch Fragen wie denen nach Besitzverhältnissen, Zugang, Identität. Diese Skripte des «Selbstverständlichen» und die mit ihnen verbundene Normalisierungsgewalt werden auf dem «Platz» im Sinne Kortuns verhandelt und als ein solcher Platz wollen sich die meisten unserer staatlichen Medien und Kulturinstitutionen gerne verstehen, sieht man einmal von Literaturarchiven oder Glyptotheken ab. Die Verhandlungen auf diesem Platz reagieren vor allem auf Gewalterfahrungen – Klassismus, Rassismus, Kolonialismus, Sexismus, Nationalismus. Glaubwürdigkeit stammt heute nicht mehr von oben, sondern von Communities. Sie wird vom Opfer her gedacht, nicht vom Helden oder der Heldin.
Die aktuellen Werküberschreibungen auf der Bühne sind stark von dieser Logik des Platzes geprägt. Und dennoch ereignen sie sich in einem Kontext, in dem immer mehr Bereiche des Lebens als Schrift und Code behandelt werden und neue Instrumente zum Vorschein bringen, die Maschinen mit uns in menschlicher Sprache sprechen lassen, unser Immunsystem gezielt umprogrammieren oder Fleisch ohne Tiere erzeugt. Der enorme, technologiegetriebene Fortschritt verändert unsere Vorstellung von «Intelligenz», deren Maß nicht mehr die menschliche Intelligenz ist. Sie bewirkt einen neuen Blick auf andere Lebensformen und die Rolle unserer Spezies und des von uns Angerichteten.
Werküberschreibungen sind ein Schritt auf dem Weg in eine Kultur des Post-Anthropozäns. Das ist ein zuversichtlicher Satz, denn viele der hier erwähnten Beispiele sind ja Hinweise auf die technischen und intellektuellen Leistungen des Menschen. Aber dieser Zuwachs begreift sich heute in einer gewandelten Weise, da das Zeitalter des Anthropozäns eben auch eines des Selbsterschreckens ist – eines Erschreckens über all das, was wir an anderen Lebensformen und Lebensweisen zugemutet haben. Und auch ein Erschreckens darüber, wie wenig überlegen, unabhängig und autonom unsere Spezies ist.
Aus der Sichtweise symbiotischer Entwicklungskonzepte ist Leben geprägt von Verwandtschaftsbeziehungen zwischen verschiedenen Akteuren und Spezies, zwischen Pilzen, Bakterien, Pflanzen, Tieren und uns. Es ist stets ein «mutural life-giving», beruhend auf gegenseitiger Lebenshilfe, wie die Anthropologin Deborah Bird Rose formulierte. Aus dieser Sicht ist die «Urheberfrage» eine spezifisch moderne Frage – aus der indigenen Perspektive erscheint sie wahrscheinlich viel weniger selbstverständlich, ist weniger menschenfixiert und erscheint letztlich im kapitalistischen System verwurzelt.
Werküberschreibungen verändern den Code der Texte. Sie sind aktuell in der Regel keine bleibenden Autorentexte, sondern Eingriffe in bestehende Werke, die neue Regeln anwenden, sich horizontal für andere Nachbarschaften öffnen und Opferperspektiven einführen. Vielleicht bald auch die von Bienen oder Pflanzen, was außerhalb der Blackbox wahrscheinlich einfacher wäre. Denn die Bühne des Anthropozäns ist noch immer eine Anthroposcene. All die anderen Akteure in unserem Lebenszusammenhang, die auf Ihre Weise intelligent und vielfältig vernetzt für Zukunft sorgen, die Mikroorganismen, Wälder oder Wasserläufe, spielen auf dieser Bühne nicht mit.
Doch während wir uns auf der Bühne des Repertoiretheaters weiter in der Sphäre des Sozialen bewegen, also des Zwischenmenschlichen und der sich darin ereignenden Krisen, entwickelt sich langsam eine alternative Kultur der Repräsentation auf einer multispecies stage – auf dieser Bühne des Post-Anthropozän spielen das Tageslicht und der Wind mit, sie verlässt das Portal, geht in den Wald, zu den Tieren und Maschinen und entwickelt neue Dramaturgien, die nicht linear sind.
Künstler wie Philippe Parreno oder Piere Huyghe bauen Ausstellungswelten, die sich als hybride Sphären zwischen verschiedenen Technologien und Ökosphären begreifen und entsprechend eigenwillig verhalten. Diese Ausstellungen sind Organismen, die mit dem Außen verbunden sind, mit Technologien, den Besuchern, der Natur, Stadt, dem Wetter, den Radiowellen im Äther und all das spricht zueinander, unvorhersehbar, aber nicht regellos. Es sind Performances, Theaterformen genauso wie es Ausstellungen sind.
Wir reflektieren heute intensiver die dominante Rolle unserer Spezies im Zusammenspiel mit einer Vielzahl von nicht-menschlichen Lebensformen, die biologischer oder wahrscheinlich bald auch technologischer Art sein können. Unser Skript des biologischen und sozialen Lebens wird von ihnen mitgeschrieben, manchmal auch überschrieben. Sie auszublenden, wird über kurz oder lang seltsam wirken. Niemand könnte heute die menschliche Geschichte im Jahr 2020 schreiben, ohne auf das Erscheinen einer nichtmenschlichen Lebensform einzugehen, die als Corona-Virus das Leben unserer Spezies weltweit umgeschrieben hat.
Rimini Protokoll spielt auf der Bühne mit einem Octopus, und Maximilian Haas mit einem Esel, ohne ihn zu dressieren. Mette Ingvartsen inszenierte Landschaften und Elemente wie Wasser, Wind und Feuer. Diese Stücke überschreiben nicht den Code des sozialen Lebens, wie er in Theatertexten formuliert wird, sondern überschreiten die Grenze dieses Codes selbst. Und die Skripte auf denen diese Werke beruhen, werden ihrerseits überschrieben von Akteuren, die nicht-menschlichen Lebensformen sein können oder stochastische Prozesse. Werküberschreibungen, wie sie im Repertoiretheater erfolgen, sind Schritte in diese Richtung, sie öffnen das «natürliche» Skript wie ein CRISPR/Cas-Verfahren, schreiben die soziale DNA um und bereiten uns so langsam darauf vor, dass wir ganz neue Skripte und Apparate des Erlebens schaffen werden.