27. September 2005, Bochum
«Ich war Partisanin»
Gespräch mit Inge Viett und Ingo Schulze 15 Jahr nach der Wende
Auf Einladung von Gerard Mortier habe ich 2005 für die Ruhrtriennale eine Literaturreihe unter dem Titel »Die Wiedererrichtung des Himmels» kuratiert und moderiert, deren Titel zum Motto der gesamten Spielzeit wurde. Idee war die Begegnung eines zeitgenössischen Autors mit einem Gast, der selbst nicht Autor sein muss, aber lebensgeschichtlich eine Querverbindung zum Autor haben soll. Die hier protokollierte Begegnung war die dritte der Veranstaltungsreihe. Inge Viett war Mitglied der Bewegung 2. Juni und der RAF, bevor sie 1982 mit hilfe der Stasi in der DDR, in Dresden untertauchen konnte und ein zweites Leben in jener Stadt begonnen hat, die aus einer ganz anderen Perspektive der junge Schriftsteller Ingo Schulze erlebt und später beschrieben hat. Für die siebenteilige Literaturreihe wurde in der Jahrhunderthalle Bochum ein Sandstrand aufgeschüttet. Darauf standen Liegestühle, Strandkörbe, Eisverkäufer, am Rand ein Podium mit Inge Viett, Ingo Schulze, Thomas Oberender. Der Veranstaltungsort wurde zwei Stunden zuvor von der Polizei mit Sprengstoffhunden abgesucht. Die Veranstaltung begann jedesmal mit einem Ritual - die Gäste erhalten ein Geschenk, das als «Strandgut» im Sand auf sie wartet.
Check against delivery.
Thomas Oberender: So ich hoffe alle finden ihre Plätze am Strand wieder. Ihr Eis, ihr Kaltgetränk und die Gäste, die schon ein paar Mal da waren werden wissen, dass wir hier an einem bewegten Ufer sitzen. Wie an jedem Strand gibt es Strandgut von den Wellen der Weltmeere an diese kleine Insel angetrieben. Auch diesmal wieder zwei kleine Päckchen, das kleinere ist für Ingo Schulze und das größere für Inge Viett. Jetzt dürfen wir ruhig reingucken, Inge Viett - es hat nämlich was mit Ihrem Buch zu tun, und zwar hat mich so gewundert, aber auch irgendwie gefreut, dass Sie gesagt haben, Ihnen hat die DDR-Schokolade immer geschmeckt. Da hab ich mich detektivisch auf den Weg gemacht und Ihnen noch einmal einen Nachgeschmack besorgt.
Inge Viett: Vielen Dank. Ich staune ja , dass es das überhaupt noch gibt.
TO: Wieder. Wieder muss man sagen.
IV: Danke sehr.
TO: Und Ingo Schulze hat einen DDR-Ausweis geschenkt bekommen.
IV: Ich find das auch höchst ungerecht. Das wär doch jetzt eigentlich wirklich Kinderschokolade oder Kinderüberraschung gewesen.
TO: Für den kleinen Appetit zwischendurch haben wir hier noch Othello-Kekse mit viel Kakao - das ist wieder da. Mit dem Ausweis hat es etwas besonderes auf sich, den hab ich nämlich zwei Tage nach dem Fall der Mauer am Checkpoint Charly in Westberlin auf der Straße gefunden, und zwar von einem - namenlos kann man nicht sagen, der Name steht da drin - aber von einem DDR-Bürger, der sozusagen in einer spontanen Geste seinen Ausweis einfach im freien Teil der Stadt hinter sich gelassen hat. Und ich dachte mir, dass ich ihn nicht damit beschweren möchte, dass ich ihn wieder zur Polizei trage und zuschicken lasse, sondern ich hab das mal als Geste bewahrt und dachte vielleicht kann Ingo Schulze das ja irgendwann mal als ein Fundstück zum Teil einer Geschichte machen. Inge Viett, mich interessiert, wie Sie im Augenblick leben. Sie leben immer noch in Brandenburg
IV: Ich lebe in Brandenburg.
TO: In Brandenburg und Sie leben von Ihren Büchern.
IV: Ja und Nein. Ich lebe in einer kleinen Frauenkommune, Gemeinschaft. In Brandenburg. Und ich lebe teilweise von meinen Büchern, das würde aber nicht reichen, um meinen Lebensunterhalt zu bestreiten, so werde ich praktisch mitgetragen in der Wohngemeinschaft. Das ist nicht der Grund, warum wir zusammenleben, sondern weil es überhaupt mein Prinzip ist kollektiv so gut es geht zu leben und zu teilen. Gemeinsam zu leben und gemeinsam Verantwortung zu übernehmen. Das Geld darin nur einen ganz bestimmten Teil des Lebens beansprucht. Man wirft zusammen und kommt zusammen damit aus.
Ja, ist noch mehr dazu zu sagen? Also ich lebe sehr aufgehoben, das muss ich sagen und es geht mir gut. Einfach auf Grund meiner Lebensumstände, die ich mir gesucht und geschaffen habe. Ja, dann darüber hinaus mache ich natürlich auch noch andere Sachen. Ich bin nach wie vor politisch aktiv, natürlich in völlig anderer Weise/ Form wie früher. Ich mache Anti-Kriegs-Politik, ich mache Informations-Politik. Wir haben z. B. in Berlin uns zu einem Gegeninformationsbüro zusammengeschlossen, eine kleine Gruppe von Leuten und haben uns, also wir sehen es als unsere Aufgabe an, der Propaganda und den ungesagten Wahrheiten und Lügen etwas entgegen zu setzen in Praxis und in Theorie durch Analysen und Veranstaltungen, durch Aktionen, die wir machen. Das ist so der politische Teil meines Lebens. Einen anderen Teil widme ich auch nach wie vor auch meinem gesellschaftlichem Interesse. Ich verlasse hin und wieder mal Deutschland und geh in eine andere Welt, auf einen anderen Kontinent und das was ich dort sehe, erfahre, literarisch verarbeite. Das ist jetzt auch mein viertes Buch, ich weiß nicht, einige von Ihnen wissen vielleicht, ich war in Kuba. Dort habe ich auch einige Monate gelebt und meine Erfahrungen mit Kuba in einem Buch niedergelegt und dasselbe hab ich jetzt wieder oder ähnliches gemacht: Ich war in Afrika, 3 Monate in Namibia, dass ist das alte Südwest, gehörte mal zum südwestdeutschen Reich. Und daraus habe ich wieder ein Buch gemacht, also einen Teil meiner Zeit widme ich auch nach wie vor der Schriftstellerei, obwohl der Begriff Schriftstellerei für mich ein bisschen hochstaplerisch wirkt, für mich. Weil für mich ist es eigentlich Vermittlung von Erfahrung, Vermittlung von auch von Vermittlung meines Lebensbildes auch.
TO: Gibt es noch Freundschaften zu Menschen, die Sie in der Zeit von 1982-89 kennen gelernt haben, als Sie in der DDR lebten?
IV: Ja, ich bin ja auch, nachdem ich aus der Haft entlassen war zunächst wieder zurück gegangen nach Magdeburg, wo ich verhaftet worden war. Ich hab dort noch einmal zwei Jahre gelebt, z. T. in meinem alten sozialen Kreis. Aber nach zwei Jahren habe ich Magdeburg verlassen. Einfach, weil ich die Veränderung und dass, was diese Veränderung mit den Menschen gemacht hat, in diesen 10 Jahren, fast - war es, einfach auch nicht mehr ertragen konnte. Es hat mich so deprimiert, dass ich gedacht hab, also ich muss da jetzt raus, ich muß da jetzt raus! sonst werde ich depressiv. Weil die Verhältnisse, die waren so krass. Es gab eine Verelendung, ich hab ja in Magdeburg im Neubaugebiet gewohnt und das war zu der Zeit, wo ich in der DDR war, war das konform. Jetzt waren diese Neubaugebiete zu sozialen Ghettos geworden und es gab unheimlich viel Alkoholismus. Überall saßen die Bänke voll, nachts zogen die Jungen 13, 14, 15-jährigen Kids durch die Straßen «Deutschland, Deutschland, Deutschland». Also der Faschismus, der Neo-Faschismus hatte sich dort ausgebreitet unter den Jugendlichen oder unter den Perspektivlosen. Es war einfach grauenhaft und es gab eigentlich nichts, also es gab keine Aktivitäten, in denen man hätte irgendwie wieder Kraft schöpfen können, um die Ohnmacht zu bewältigen. Gab es nicht. Es gab gar nichts.
Es gab noch keine Strukturen, die sich damit beschäftigt haben oder wo man sich hätte organisieren können, um etwas dagegen zu tun. Und dann bin ich, dann hab ich Magdeburg verlassen und bin dann nach Berlin bzw. fast Berlin, ich sage ja immer ich bin jetzt fast Berlinerin, weil ich 30 km vor Berlin in Brandenburg wohne.
TO: Ingo Schulze, Sie haben die Bücher von Inge Viett im Vorfeld gelesen, wie ging es Ihnen mit diesen Büchern?
Ingo Schulze: Ja, ich war froh, dass ich sie relativ spät, also erst in diesem Jahr gelesen habe, weil ich glaube, na gut, vielleicht auch schon zum Erscheinungsdatum, aber vielleicht wenig hätte damit anfangen können. Also wenn ich so zurückdenke, dann ist natürlich mein DDR-Bild ein ganz anderes. Und ich bin auch heute noch froh, dass es das 89/90 gegeben hatte, sonst säße ich jetzt wahrscheinlich gar nicht hier an diesem Tisch. Also allein diese Tatsache schon, aber ich war sehr, sehr beeindruckt von allen drei Büchern. Das ist natürlich, also für mich war das Interessanteste beispielsweise an der Autobiographie von Inge Viett, die ersten 40 Seiten, wo Sie über Ihre Kindheit schreiben, also eine Jugend in der frühen Bundesrepublik. Und dann war für mich natürlich von großer Wichtigkeit gerade dieses, diese Zeit in Dresden. Es gibt, meiner Ansicht nach, also es gibt noch von dem von Schernikhaus? so einen Bericht, wo jemand aus dem Westen in den Osten geht, aber es gibt sonst einfach keine solche Beschreibung. Also vielleicht weiß jemand im Publikum das noch? Also ich wäre Regelrecht dankbar, da mehr zu erfahren, aber da wo jemand bewusst nach 62 in den Osten geht und versucht darüber zu schreiben. Und das hat natürlich etwas sehr verstörendes. Da haben wir also durch Zufall, ich war zu der Zeit wenig in Dresden, aber eben doch auch noch in Dresden, wir hätten uns also theoretisch über den Weg laufen können. Hätten uns wahrscheinlich fürchterlich gestritten. Weil ja unsere Wahrnehmung da doch eine ganz andere war und der für mich oder eigentlich für alle Ostdeutschen war es so, dass man sich ja nicht für die DDR entscheiden konnte. Man konnte ja nicht ja zur DDR sagen, weil man überhaupt keine Wahl hatte. Und ich hab eigentlich über DDR es gar nicht so lohnend gefunden nachzudenken, weil es einfach diese Mauer gab und das fand ich also so als eine grundsätzliche Beleidigung, wo ich sagte, wenn einem gar nicht die Alternative angeboten wird, dann ist das für mich sozusagen nicht der Rede wert. Die Praxis sah natürlich ganz anders aus und so wie es mir heute geht, dass ich ja meistens eher zu einem Verteidiger des Ostens werde - es kommt immer drauf an mit wem man sich darüber unterhält und wie die Relation und welche Erfahrung auf der anderen Seite bestehen.
Und insofern finde ich das schon sehr wichtig, dass es dieses Bücher gibt, auch gerade um auch daran die eigenen Argumente zu messen, die eigene Erfahrung dagegen zu setzen, denn das ist glaube ich das Entscheidende, dass man diese ganz egal wie man, wie gut oder schlecht und fürchterlich oder wunderbar man DDR oder überhaupt diese Ostblock-Phase ansieht. Das Wichtige ist glaube ich, dass man das nicht als eine Unterbrechung einer quasi naturgegebenen Geschichte ansieht, sondern dass man das man nicht auf diese Erfahrung dieser Zeit verzichten kann. Also wenn man, Sie beschreiben das eben mit dem Neubaugebiet, ich hab da ähnliche Erfahrungen in Altenburg? gemacht, in dem Moment, wo man glaube ich und Osteuropa ist ja voll davon, Sowjet Union, wenn man diese Geschichte des real existierenden Sozialismus aus uns rausnimmt landet man irgendwo in der Vormoderne. Es ist Sozialismus einerseits als eine Phase der Modernisierung, die für arabische Welt beispielsweise heute unglaublich, sagen wir mal, überlegenswert ist. Und andererseits ist es natürlich auch die Phase, in der das westliche System, der Kapitalismus ein menschliches Antlitz bekommen hat, zumindest in Westeuropa. Wo also Werte entwickelt wurden, die wirklich verteidigungswert sind und wenn man sich dann anschaut, also es kann ja jeder versuchen, wie euphorisch man eigentlich im Sommer 1990 war, wie man da auf die Entwicklung der Welt guckte, also ich dachte eigentlich, also die Frage der Armut ist jetzt eine Frage der Zeit und die ganzen Kriege hören auf, die Stellvertreter-Kriege hören auf. Und jetzt kommt die UNO zum Zuge. Also ich vergaloppier mich jetzt hier.
Also, es geht einfach darum, dass man diese Erfahrung nicht als etwas dazwischen weglegt, sondern eigentlich damit arbeitet. Und mein Bild von der DDR ändert sich eigentlich mit jedem Jahr, mit jeder neuen Erfahrung. Und wie gesagt, trotzdem bin ich auch froh, dass es vorbei ist und hab in dem Sinne auch versucht meinen Teil dafür zu tun, das war nicht nur ironisch gesagt mit diesem neuen Forum, ich meine keiner spricht mehr über die Angst, die eigentlich auch Ende September, Anfang Oktober noch war, wenn man auf die Straße ging. Man hatte natürlich auch wirklich rein physisch Angst, wenn was passiert. Und Grenz? hatte das ja sehr gut gefunden, was in China passiert war. Dennoch oder auch gerade deshalb sind mir eigentlich auch die Bücher von Inge Viett eigentlich wichtig, ich kenne, begrenztes Wissen ja klar, aber ich kenne keine andere Autorin, keinen anderen Menschen der das so klar formuliert und einen auch damit zutiefst irritiert und natürlich auch zum Widerspruch herausfordert.
TO: Inge Viett, wollen Sie dazu vielleicht etwas sagen?
IV: Ja, ich finde das ja auch sehr witzig irgendwie, dass Sie Ingo Schulze jetzt hier sitzen sozusagen, ein mir sehr sympathischer Vertreter der Fraktion damals ´89, denen ich damals Verantwortungslosigkeit vorgeworfen hab. Verantwortungslosigkeit, weil Sie nichts wussten. Weil Sie nicht wussten, was kommen wird. Und das Sie keine Ahnung hatten vom Imperialismus. Ich konnte es den Leuten nicht vorwerfen. Trotzdem war es natürlich mal so. Ja, Sie wussten nicht wie, für mich war ganz klar wie die Entwicklung in der DDR weiterlaufen wird, wie der Prozess sein wird bis hin zur völligen Enteignung der Leute. Ich wusste das. Ich konnte das aber natürlich keinem vermitteln. Und das war für mich einfach klar, in der DDR gab es auch unter den Intelektuellen, auch unter den politischen Leuten einfach keinen Begriff, was ist Kapitalismus, was will er, was ist Imperialismus. Diese Hoffnung die da war, die ich so grundlächerlich fand, aber sie war da, dass eine bessere DDR aufgebaut werden, das war traurig. Das war klar, dass es der Kapitalismus ist überhaupt nie und in keiner Phase daran interessiert gewesen, dass Ihr oder wir eine bessere, eine demokratische, eine noch besser funktionierende aufbauen. Nein, im Gegenteil. Der Kapitalismus ist natürlich nur an einem schlecht oder gar nicht funktionierendem oder gar keinem Sozialismus interessiert. Und mir war das so klar. Ich hab gedacht nein, dass diese Euphorie beim neuen Forum und bei vielen anderen auch, dass ist doch unglaublich, das ist Doofheit, das ist Verantwortungslosigkeit.
IV: Für uns war es natürlich und das sehe ich heute schon auch dennoch so, war es natürlich gerade ein sich Verantwortlich fühlen. Interessant ist ja bei dieser Bewegung, die dann im Herbst ´89 gipfelte, das war ja eigentlich nichts was von Intelektuellen kam, sondern das waren so kleine Umweltgruppen, Menschenrechtsgruppen, die da eigentlich so einen Vorlauf geschaffen hatten. Letztlich die Leute, die sich also schon Jahre vorher in Leipzig in der Nikolaikirche fanden und das geschah ja, das ging ja immer sozusagen aus Sorge um dieses Land und gerade in Altenburg, also wo man dann diese ganze Industrieregion drum herum hat. Schon allein die Vernichtung der Umwelt, was dort passierte, was natürlich auch mit Krebsrate usw. auf die Leute Einfluss hatte. Es war natürlich ein sich engagieren, gerade aus Verantwortungsbewusstsein. Und es ist ja letztlich wiederum gerade der DDR vorzuwerfen, dass man keinen, kein Gefühl für das hatte was kam, also wie gesagt ich bin nach wie vor froh, dass es das gegeben hat, ich möchte keinesfalls zurück, aber das Schlimme war ja einfach, wir konnten ja nicht diese Erfahrung machen. Und das ist dieser wirklich blöde unauflösbare Widerspruch der da drin steckt. Ich denke aber, dass man eben heute so allmählich beginnt und ein paar Dinge vielleicht wieder viel grundsätzlicher in Frage zu stellen, als das, sagen wir mal in der 90er Jahren, passiert ist.
Thomas Oberender, Inge Viett
IS: Beispielsweise ist es für mich, vielleicht einen ganz kurzen Vorlauf zu dieser Frage: Ich hab das ´89/90 insbesondere, deshalb hab ich auch dieses Kapitel «Neues Geld» gelesen, ich hab diesen Wechsel 1. Juli 1990 Einführung der DM in der DDR, das war wie ein Wechsel aus einer Wortwelt in eine Zahlenwelt, das heißt jetzt nicht, das eine gut, das andere schlecht oder umgekehrt. Aber vorher lief alles über Worte und es lief plötzlich dann nur noch über Zahlen. Also wir hatten vorher, also entweder wurde von DDR-Staat der Westen in Frage gestellt und die Bevölkerung stellte, verteidigte das entweder oder stellte eben den Sozialismus in Frage. Mit dem 1. Juli ´90 haben wir das Schweigen genossen, sind also nach ?, nach Italien gefahren, was ja auch irgendwie eine wichtige Erfahrung ist, die ich nicht missen möchte, aber im Prinzip gab es, erledigte sich bis heute eigentlich alles über Zahlen. Also wenn ein Politiker die richtigen Zahlen hat muss er nicht mehr reden und ich meine jemand der jetzt im Westen schweigen würde, würde ein bisschen komisch angeguckt werden, aber er könnte vielleicht trotzdem eine Wohnung mieten, ein Auto kaufen vielleicht sogar ein Studium irgendwie machen. Das wäre im Osten, der müsste entweder ein Attest vorlegen oder würde gezwungen zu reden oder müsste eben raus.
Was ich eigentlich zunehmend als bedrängend empfinde, dass eben bloß noch gerechnet wird und bei diesen ganzen Dingen die jetzt sozusagen, wo man vom Reformstau und diesen Sachen spricht, werden die entscheidenden Sachen wird nicht angesprochen. Nur um ein Beispiel zu sagen, hängt vielleicht auch mit meiner, also meine Mutter ist Ärztin und ich hab das damals sehr miterlebt, wir haben als Zeitung versucht die Poli-Kliniken zu verteidigen und man kann bei der Gesundheitsreform wird alles mögliche erwogen, also scheinbar wir hatten alle Möglichkeiten besprochen und die Einen sind dafür und die Anderen sind dafür. Keiner fragt aber, warum müssen Ärzte Geschäftsleute sein? Also, wenn ich zum Zahnarzt gehe, warum da weiß ich nicht, ob der jetzt das Beste für mich macht oder sie oder das was den meisten Profit bringt, vielleicht hat er wenig Patienten und braucht diese Punkte. Was natürlich die Kosten insgesamt hochtreiben würde. Und das ist so eine grundsätzliche Frage, wo man´s selbst in der Weimarer Republik, also daher kommen ja die Poli-Kliniken, das ist ja jetzt nichts was auf einem kapitalistischem Fundament völlig, das alles umkippen würde, aber das so grundsätzliche Fragen einfach gar nicht mehr ins Blickfeld geraten und das es auch keine Partei im Parlament gibt, die es wagt grundsätzlich Dinge anzusprechen. Ich meine man wirklich so vieles aufzählen, es geht aber immer darum, wie erhöhe ich das Wachstum bzw. an der Börse heißt es Gewinn. Alles läuft auf diese Frage hinaus.
Jemand aus dem Publikum… (Tumult, kann ich nicht verstehen)
IS: Ich hab einfach die große Hoffnung, dass die Umstände eigentlich praktisch gar kein anderes Verhalten mehr erlauben werden, als dass man wieder praktisch grundsätzlich etwas in Frage stellen muss. Ich meine, das ist ja im Westen auch passiert, darüber weiß ich sehr wenig, aber das ist ja nicht nur mit den 68ern, sondern auch mit der ganzen Emanzipationsbewegung, sind ja Dinge einfach in Frage gestellt - und als der Osten sozusagen zum Westen dazu kam, war das wie eine Immunisierung gegen alle Utopien. Es waren wirklich keine Experimente mehr, das war ja der große Wahlslogan. Wir waren zurück aus der Zukunft und wir wollten endlich unser Leben geniessen. Und das ist auch richtig, das ist ja auch ein gutes Recht. Und ich möchte eben - bin ich sehr froh, dass ich meiner Tochter halt wirklich eine Banane kaufen konnte, vielleicht ist die schon wieder verschimmelt, das ist die andere Frage. Und Schokolade. Und ich möchte nach Italien fahren und nicht erst wenn ich 65 bin. Und so gibt´s natürlich viel aufzuzählen, aber ich mach jetzt mal Schluss.
Thomas Oberender, Inge Viett
IV: Ja, ich möchte nur ganz kurz was dazu sagen. Ich denke, dass sich einfach, ich habe das auch in dem Buch schon mal prognostiziert, nach 13, 14, fast 15 Jahren Erfahrung bei vielen Menschen die Erinnerungen wieder melden. Also auch die positiven Erinnerungen an die DDR. Die positiven Erinnerungen - damit meine ich die Prägungen, die positiven Prägungen, die Erfahrungen, die sie dort gemacht haben. Die ja erstmal in den ersten Jahren absolut selbst verleugnet wurden oder sowieso denunziert wurden von außen. Und diese Verleugnung und diese Denunzierung die greift jetzt nicht mehr, weil sie die Menschen neue Erfahrungen haben, nämlich aus diesem System. Und dass auch in diesem System grundsätzlich Dinge vermisst werden. Und aus diesem Gefühl etwas zu vermissen - nämlich Solidarität, Konkurrenzfreiheit, relative Hierarchiefreiheit - da melden sich dann einfach auch wieder neue Wünsche an, neue Sichten an, und das Bedürfnis auch das Alte nochmal ganz neu zu sehen.
Jemand aus dem Publikum - nicht zu verstehen -
IS: Ich denke einfach, dass die Schwierigkeit ist die Dinge sozusagen miteinander zu vergleichen. Natürlich, dass was Sie sagen ist ja dass, was die ersten 5 Jahre eigentlich bestimmend war. Das war ja eigentlich der Tenor, dass ist genau an diese Dinge ging, das was Wahlbetrug und Staatssicherheit und und und. Und ich bin auch sehr, sehr froh, dass man heute nicht mehr unbedingt 1 1/2 Jahre oder eben kürzer zur Armee muß, sondern eben, auch wenn man sich anders entscheidet, trotzdem ein Studium machen kann. Das sind aber Dinge wo ich denke oder andersrum, wenn man in der DDR was Kritisches sagt, dann musste man vorher immer sagen «Ja natürlich wir sind für den Sozialismus und das ist auch gut und das wird auch so, aber…» Und ich nehm mir schon heute die Freiheit raus nicht immer irgendwie aufzuzählen das und das und das und das ist, aber, sondern ich denke, dass was den Alltag heute bestimmt sind eben diese Dinge die in der DDR quasi nicht existierten. Sie kennen wahrscheinlich diesen Witz, ich erzähl den immer wieder: Vor ´89 konnte ich, durfte ich nichts gegen Honecker sagen, aber konnte alles gegen meinen Chef sagen. Heute darf ich alles gegen den Bundeskanzler sagen, aber nichts mehr gegen meinen Chef. Also die Abhängigkeiten haben sich natürlich in gewisser Weise gedreht, dass heute einfach durch den Arbeitsplatz und durch das Geld verdienen ist natürlich eine Abhängigkeit da, wo ich jetzt sagen würde, in so einer Provinzstadt kann man das immer sehr gut, also beobachten, wenn man sozusagen in das Rathaus geht oder in das Landratsamt, das Duckmäusertum hat sich - würde ich denken - eher fast noch vergrößert, weil also wenn jetzt ein Wahlwechsel ist, wer darf bleiben, wer darf nicht bleiben. Also so die unmittelbare Reaktion. Auch wenn es ganz andere Ursachen sind und auch wenn ich das richtig finde, dass also es steht ja überhaupt nicht in Frage, das war ja die Forderung freie Wahlen usw. Aber was im Endeffekt an der Persönlichkeit ist, ist manchmal eben einfach eine unglaubliche Bedrückung, wo sich eben alles um diese Zahl und diesen Arbeitsplatz dreht.
Es ist alles so lange gut, wie ich irgendwie ein halbwegs gesichertes Einkommen hab, in dem Moment, wo das in Frage gestellt wird und das wird, ja, jeder weiß es ja, es wird in der Zukunft immer nur schwieriger werden, also wir haben unsere besseren Jahre hinter uns, das ist ja eigentlich definitiv, das weiß auch jeder, wenn er nachdenkt. Und vielleicht ist es sogar auch gut, weil es möglicherweise ein Stück Gerechtigkeit für die ganze Welt bedeutet. So könnte man´s ja auch sehen. Das wird sich verschärfen, denke ich. Insbesondere am 1. Januar nächsten Jahres und da kommen natürlich plötzlich wieder Sachen hoch; bei meiner Mutter als Ärztin ist ihr die Putzfrau auf Knien hinterhergerutscht, dass sie sagte: Bitte kündigen sie nicht, bleiben sie bei uns. Also Arbeit zu finden irgendwo, dass war ja nie ein Problem, eine bezahlbare Wohnung zu finden war auch nie ein Problem. Und wenn plötzlich solche Dinge heute so zentral werden, dann kommt natürlich so eine Erinnerung. Die Frage wär, dass ist natürlich nur theoretisch, natürlich möchte keiner darauf verzichten Espresso trinken zu können, solange der halbwegs bezahlbar bleibt oder eben zu sagen ich gehe nach Namibia oder ich fahr mal in den Jemen oder nach Kanada.
TO: Ich glaube, dass das, was Sie hier sicher zu Recht ansprechen, diese plötzliche Aufwertung und Betonung des Positiven, das sich mit der DDR ja auch verbindet oder plötzlich wieder erinnert wird, natürlich auch eine Gegenreaktion auf die Nach-Wende-Erfahrungen der Entwertung und der radikalen Auslöschung jener Leistungen und Aspekte des Lebens in DDR war, die früher eine Quelle des Stolzes und der Freude darstellen. All das hat einmal das Gefühl der Heimat gebildet. Es war ja auch keine nur von außen aufoktruierte Entwertung, sondern war eine täglich subjektiv empfundene Verlusterfahrung - das Auto, die Ausbildung, der eigene Wohnrat, das Ersparte - über Nacht schien das alles plötzlich nichts mehr zu taugen in der neuen Zeit. Sind die Menschen fünfzehn Jahre später jetzt sentimental geworden? Ich glaube nicht, sie haben das Zerstörende, das sich mit der DDR verbunden hat, keineswegs vergessen. Aber gleichzeitig gibt es natürlich diese für jedes Menschenleben existierende Augenblicke des Glücks, die sich für jeden mit der DDR verbinden, der dort aufgewachsen ist. Mich würde interessieren …
Herr aus dem Publikum: »Meine Frau kommt aus Leipzig…” Rest unverständlich
TO: Ich glaube, Sie werden ja viele von diesen Erfahrungen, die man in Leipzig gemacht hat, auch in Ingo Schulzes «Simple Storys» als ein Art von Hintergrundgeschehen entdecken können. Ich finde es jedenfalls sehr interessant, dass inzwischen auch wieder mehr über vitale, persönlichkeitsbildende Erfahrungen gesprochen wird, statt ausschließlich über diesen Blick auf das Depravierende der DDR-Verhältnisse, ihre finstere und triste Seite, die es zweifellos gab.
IS: Für mich ist das Schwierige an diesem Thema, ich bin sehr dafür, dass man auch wenn das sehr ambivalent ist, in diese Akten gucken kann. Ich hatte selbst eine Begegnung als Schüler mit der Staatssicherheit, wo plötzlich, die dachten wir wollen abhauen, was wir überhaupt nicht wollten und plötzlich wurde einem aufgetischt, was man in der Pause gesagt hat so, der von dem ich mit 99,9 % Sicherheit weiß, wer daran Schuld war, gut, wir waren 16, 17 Jahre, der ist heute im Westen gefeierter Professor, im Osten hätte der das nie werden können, weil der da eben auf Stasi untersucht wird. Und der ist im Westen die große Koryphäe. Ich spüre in mir plötzlich ein unglaubliche Missgunst, also ich hab ein ganz hässliches Gesicht, ich bin richtig nicht neidisch, aber richtig missgünstig. Und das ist natürlich auch irgendwo furchtbar, weil ich mir persönlich hat´s überhaupt nicht geschadet in dem Sinne, ich weiß, dass es viele Leute gibt, für die das natürlich wirklich Sachen kaputt gemacht hat. Die große Schwierigkeit an so etwas ist, ich bin von einer Stern-Reporterin gefragt worden «Waren Sie IM?» Sag ich: »Bitte?” Also, war ich Spitzel. Wie kommen Sie denn zu so einer Frage, arbeiten Sie für den BND? Das hat sie sich verwahrt und ich dachte, wieso fragen Sie mich das ich IM bin. Ja sie kommt auch aus der DDR. Und das war natürlich, das ist wirklich ein großes Problem. Einerseits finde ich muss man natürlich darüber reden, andererseits ist es so, dass man natürlich, dass es auch sehr bequem ist vom Westen zu sagen: «Ja, du bist IM.» Es ist immer irgendwie so beides, so eine Grundsatzunterstellung und das hat gerade in diesen Anfang der 90er Jahre eine unglaubliche Rolle gespielt, weil jeder war praktisch schon allein durch diesen Verdacht irgendwie erpressbar. Und ich muss sagen, dass man das Schlimme war, was mich schockiert, dass eigentlich so wenige von sich oder kaum jemand von sich aus gesprochen hat. Das finde ich eigentlich das Entsetzliche.
Aber es war natürlich auch, ich sag das nicht zur Entschuldigung, vielleicht nur um zu Verstehen, es war natürlich auch ein unglaubliches Klima, dass sofort! wenn einer sagte ich war IM, der war eigentlich zum Abschuss abgegeben. Während wir in Dresden lebten spionierte Putin, der war KGB-Leiter in Dresden, er ist heute unser großer Partner und das werden sie auf andern Ebenen natürlich auch. Also richtig KGB das war ja auch nicht schlecht. Das ist einfach, wo ich wirklich glaube, darüber ist sehr viel gesprochen worden, muss man auch weiterreden, aber es darf andere Diskussionen nicht einfach zudecken. Und die kommen natürlich jetzt, die kommen jetzt. Und man muss da auch sehr genau gucken, also jemand der dort war, aus welchen Motiven war und dort, und eventuell jemand der dann nach 3 Jahren wieder rausgekommen ist oder nach 5 Jahren vor dem hab ich fast mehr Respekt, als vor mir, der nie gefragt worden ist. Sich selbst aus so einem Zeug selbst wieder zu befreien und zu sagen, ich mach da nicht mehr mit ist wirklich eine große Leistung ja auch.
Frau Publikum: »Andere Kontexte ist vielleicht auch noch ein Stichwort. Also ich bin Bundesrepublikanerin und meine Kindheit ist geprägt worden durch das Terrorismusthema. Was uns in Angst und Schrecken versetzt hat, damals. Und ich möchte ganz gerne, da eine leibhaftige Terroristin anwesend ist….”
IV: Wen meinen Sie?
Frau: »…sie einmal Fragen, was Sie zu diesem Thema sagen können, wie Sie das damals empfunden haben, die Geschichte der RAF…
IV: Erst einmal: Ich bin keine Terroristin.
Ansage: Die Frage ist nicht verstanden worden.
TO: Ich kann Ihnen leider kein Mikrophon reichen. Daher wiederhole ich das kurz: Die junge Frau aus dem Publikum hat sich an ihre Kindheit erinnert und sagt, dass Sie die Phase des Terrorismus ihre Biographie das sehr geprägt hat und nun Inge Viett fragen möchte, wie Sie diese Zeit erinnert?
IV: Ja, ich möchte es nochmal wiederholen: Ich bin keine Terroristin. Ich begreife mich eher als Partisanin als Guerilla-Kämpferin. Was Terrorismus ist? Ich denke, das ist in den letzten 10 Jahren auf ganz anderer Seite klar geworden, nämlich was wir gemacht haben, dass hat nichts mit Terrorismus zu tun.
Das Sie in der Zeit, mir ist das unvorstellbar, dass Sie Angst und Schrecken gefühlt haben, wenn Sie den Begriff oder wenn sie meinetwegen unserer Fotos gesehen haben, dass kann ich mir gar nicht vorstellen. Ich weiß natürlich die hingen überall. Aber warum Sie, wenn Sie so ein Bild sehen in Angst und Schrecken versetzt worden sind. Ich glaube es Ihnen so auch, ich kann´s mir zwar nicht vorstellen, aber ich glaube es Ihnen natürlich, weil das ist die Wirkung der Propaganda. Denn
Frau aus dem Publikum - unverständlich -
IV: Ja, das muss man doch mal erkennen. In wie weit waren Sie davon betroffen? Haben wir Sie angegriffen? Ich möchte mal sagen: Wir haben immer Funktionäre des Staates angegriffen.
Publikum - unverständlich -
IV:Ich sage doch nicht, dass es keine Menschen sind. Wir haben einen bewaffneten und militärischen, politischen Kampf geführt. Da gab es Gegner.
Publikum - unverständlich -
IV: Sicherlich. Durch die Polizei, aber nicht durch uns.
Publikum - unverständlich -
IV: Ja. Aber Sie haben doch keine Angst vor mir gehabt. Ja, sondern von dem Bild, was die Propaganda von uns verbreitet hat und von den Maschinengewehren der Polizei. Warum sollten wir Sie erschießen? Haben Sie Verantwortung, verbrecherische Verantwortung für dieses System? Wir haben doch niemals irgendwelche Bürger angegriffen.
Publikum - unverständlich
TO: Einen Moment.
Publikum - unverständlich - Tumult -
IV: Ja, natürlich.
TO: Ich würde gerne…
IV: Ich würde gerne verweisen auf andere Regionen in der Welt, aber das will ich gar nicht mal.
TO: Die Idee dieser Begegnung heute war nicht, dass sich Inge Viett für Ihre Biographie, die sich mit der Bewegung 2. Juni und der RAF verbindet, rechtfertigen muss, sondern ich war neugierig auf die Erfahrung, die sie in einer anderen Etappe Ihres Lebens in der DDR gemacht hat. Ich finde, dass Ihre Fragen nachvollziehbarerweise auftauchen. Ich würde nur gerne in diesem Gespräch einen anderen Fokus setzen. Ich will nicht, dass sich hier jemand für etwas rechtfertigen muss, für das wir ihn nicht zum Gespräch gebeten haben. Deshalb möchte ich Inge Viett in Schutz nehmen und denke, dass Ihre Fragen ein anderes Gespräch erfordern, das Sie vielleicht direkt mit Ihr suchen können - heute aber ist dieses Thema nicht die zentrale Idee dieser Reihe und dieser Zusammenkunft.
Um zu dieser Idee zurückzukehren: Mich würde aus der anderen Sicht natürlich sehr interessieren, was Inge Viett aus dieser Biographie heraus weiter für Erfahrungen bezogen hat, die über die Zeit in der DDR hinaus Ihr Leben prägen und die vielleicht sogar eine Schnittmenge bilden mit dem Leben der vielen Figuren, die Ingo Schulze in seinen Büchern beschreibt. Inge Viett - können Sie sich vorstellen, jemals wieder im westlichen Teil Deutschlands zu leben? In Gegenden der alten Bundesrepublik? Frank Castorf kam ja aus Berlin mit seinem Theater ins Ruhrgebiet und sagte: «Endlich zu Hause! Tief im Westen, ganz im Osten.” Hat sich vielleicht auch bei Ihnen im Laufe der Zeit ein ganz anderer Blick auf diese Bundesrepublik herausgebildet, der es Ihnen erlaubt etwas zu sehen, was Sie in der früheren Bundesrepublik nicht mehr sehen konnten, aber im Osten gefunden haben. Um es zuzuspitzen - können Sie sich vorstellen, dass Sie z. B. hier im Ruhrgebiet leben können?
IV: Also meine Heimat ist eigentlich immer da, wo ich mich mit Menschen verbinden kann mit denen ich leben kann, mit den ich soziale Beziehungen, freundschaftliche Beziehungen aufbauen kann, die einen ähnlichen Blick auf die Welt und auf die Geschichte haben wie ich. Und von daher kann jetzt meine Heimat auch überall sein, das könnte auch in Bochum sein. Das hängt einfach von sozialen Beziehungen ab. Nur davon und das kann überall sein. Das war, im Jemen hätte das sein können und das hätte im Irak sein können. Auch da war ich. Das war in der DDR und jetzt hab ich mir auch wieder mal mein soziales Umfeld irgendwie so geschaffen, dass ich da gerne lebe. Heute ist das nicht mehr so, es ist außerdem, ob ich nun in Brandenburg, also in Falkensee lebe oder in Berlin, das ist heute nicht mehr so ein großer Unterschied.
Außerdem ich lebe auch ganz viel mit Menschen die in Kreuzberg wohnen, arbeite viel mit ihnen, wohne zusammen, gehöre zusammen mit ihnen. Das ist nicht mehr so bedeutend jetzt. Wenn Sie mich aber fragen, ob ich heute dem gesellschaftlichen System der Bundesrepublik mehr abgewinnen kann als damals, ich weiß nicht ob das so hintergründig die Frage war, dann kann ich sagen, dass sich die kapitalistischen Verhältnisse in der Bundesrepublik genauso verschärft haben wie überall. Das die Sympathie zu so einem System gar nicht wachsen kann, sondern das man nach wie vor, dass ich nach wie vor davon überzeugt bin, man muss dieses System, man muss versuchen etwas anderes zu schaffen, als das was jetzt auf Jahrhunderte unserer Perspektive sein soll.
TO: Ich würde Sie gerne beide fragen, was die Überschrift dieser Veranstaltung »Die Wiedererrichtung des Himmels» für sie bedeutet? Löst das einen Gedanken in Ihnen aus?
IV: Ich habe darüber lange nachgedacht. Sie haben mir auch viel dazu erklärt. Was ich nicht alles verstanden hab, was Sie mir dazu erklärt haben. Für mich die Wiedererrichtung des Himmels?
Das kann man ja einmal sehr individuell für sich verstehen.
TO: Ja, das würde mich auch sehr interessieren.
IV: Und eigentlich hab ich nie den Himmel über meinem Leben verloren oder aus dem Auge verloren. Niemals. In keiner Situation. Dieser Himmel ist einfach dafür zu arbeiten, zu leben, in einer Welt zu leben, in der man souverän sein kann, wenn man selbst sein kann und gleichzeitig auch kollektiv sein kann. In einer Gesellschaft zu leben, in der es Freude macht ohne Konkurrenz mit den Menschen zusammen zu leben und zu arbeiten. Und das man fähig wird Mechanismen in der Gesellschaft zu erkennen, die man einsortieren kann auf diese oder jene Seite, auf die Gute oder Böse meinetwegen, aber die Richtige oder die Falsche. Und diesen Überblick oder diese Souveränität nicht zu verlieren. Dieses Wissen du bist in der Lage zu differenzieren. Ja?
Du verlierst deine Orientierung in deinem Leben nicht, du verlierst die Orientierung nicht in den Verhältnissen in denen du jetzt lebst. Das nenne ich Souveränität und ein Stück Glück auch, weil ich einfach auch die Erfahrung gemacht hab, dass, wer die Orientierung und die Souveränität nicht verliert, kann immer dazu beitragen eine verlorene Orientierung wieder aufzurichten. Das ist die Erfahrung in meinem ganzen Leben und vor allen Dingen auch in den Jahren, nachdem ich aus der Haft entlassen worden bin. Das ist ein Stück Glück für mich. Also sich selbst nicht zu verlieren, um mit den anderen zusammen bleiben zu können oder helfen zu können. Dafür zu sorgen, dass Sie auch in diese Zustände der Souveränität und des Glücks versetzt werden.
Und von daher ist es keine Wiedererrichtung, sondern eher es ist eher eine ständige Behauptung. Ja, des Himmels.
TO: Ingo Schulze, Sie haben ein Buch geschrieben, das heisst «33 Augenblicke des Glücks». Aber diese Geschichten berichten natürlich auch sehr viel vom Unglück und ich glaube, dass die «Simple Storys» Geschichten sind, die Lebenswege verfolgen, die häufig durch die Wende einen Knick oder die Abbiegung eine andere Richtung nehmen und z. T. sehr traurige Geschichten sind. Gleichwohl ist es so, dass, wenn man dieses Buch liest, es einen nach der Lektüre merkwürdigerweise doch eher gekräftigt zurücklässt. Ich würde Sie gerne fragen, was für Sie die «Wiedererrichtung des Himmels» wäre?
IS: Ganz kurz, also weil man immer sagt ist es denn tatsächlich so schlimm im Osten, wie Sie das beschreiben. Ich denke, dass natürlich Literatur, immer die Sonne immer eher durch den Schatten zeigt. Mir fällt kein wirklich großes Buch ein, womit ich nicht sagen will, das ist ein großes Buch, weder «Berlin Alexanderplatz» endet sehr optimistisch, noch «Der Zauberberg», noch «Die Buddenbroks». Literatur geht eben erst einmal so auf den Schattenriss und versucht von daher vielleicht eine Sonne zu zeigen. Als ich nach St. Petersburg ging, am 1./2. Januar ´93 gab´s so 2, 3 Wochen später merkte ich das erste Mal, dass die Sonne wieder durch die Wolken gekommen war, also ich hatte 2, 3 Wochen ohne Sonne gelebt und merkte eigentlich erst in dem Moment, wo die Sonne wieder da war, dass ich das eigentlich so hingenommen hatte. Gut, man konnte auch nichts anderes machen, aber ich hatte das irgendwie auch so, gar nicht nach dieser Sonne gefragt. Also in sofern ist es immer sehr schwierig in sich selbst so ein paar Punkte zu finden, wo man sagt, dass, wo du dich jetzt bewegst ist vielleicht nur etwas sehr Begrenztes. Du merkst vielleicht gar nicht, dass da eine Sonne fehlt.
Für mich ist das, was ich vorhin versucht habe anzudeuten und was ja eigentlich auch der Versuch von diesem Gespräch hier ist, dass man weiß, dass es unvereinbare Gegensätze gibt und das man aber vielleicht trotzdem nicht einfach, also wenn man dann sagt gut und bös, dann hat sich das erledigt, dann muss man nicht, sich nicht weiter miteinander beschäftigen, dann gut, das ist eine Entscheidung. Ich glaube bloß, dass im Kleinen wie im Grossen, das einfach, ob das jetzt Kränkung durch Staatssicherheit ist oder wenn man, ich meine wenn man in Jugoslawien geht, was Leute oder in Afrika, oder wo auch immer Leute erlebt haben und mit welchen Bildern und Erfahrungen sie fertig werden müssen, dann gibt es vergleichsweise, muss ich jetzt sagen, einfach in Deutschland, ohne irgendwas relativieren zu wollen, dann ist es eigentlich so ein Land wie unseres, müsste eigentlich dann am ehesten bereit sein so etwas auszuhalten und einfach auch ohne sich gegenseitig was zu schenken. Aber sich doch aneinander, an den Fragen der anderen zu relativieren und dadurch halt etwas möglich zu machen wovon ich glaube, dass es für uns sehr, sehr wichtig wird, jetzt und vor allem für die Zukunft. Das klingt jetzt sehr abstrakt vielleicht, aber ich denke einfach, dass man lernen muss Dinge grundsätzlich in Frage zu stellen, auch bei sich und eigentlich die Fakten, die Fakta, das sind ja gemachte Sachen, dass man das, womit man lebt - das eigentlich nicht als naturgegeben - sondern dass man fragt, wie ist das gemacht worden? Ist es gut oder ist es schlecht gemacht worden? Das wäre für mich so eine Wiedererrichtung des Himmels, wenn so etwas gelingt. Weil ich hab so dieses Gefühl, dass ich mich selbst auch sehr gut in diesem Schweigen eingerichtet hatte, obwohl ich Bücher schreibe und das ist auch, dass man das Schweigen auch sehr genießen kann und das es eigentlich erst in dem Moment wo man versucht wieder zu sprechen, das bedeutet wirklich grundsätzliche Fragen zu stellen, wird´s wirklich ungemütlich und das man dass, aber vielleicht kriegt man als Geschenk oder im Tausch für diese Ungemütlichkeit wieder so ein Stück Himmel.
-Applaus-
T0: Sie werden das vielleicht auch so empfunden haben, dass dies eine Art Schlusswort gewesen ist, das nicht zu überbieten ist. Für mich war eine der Klammern zwischen Ihren Büchern und der darin aufgehobenen historischen Erfahrung die Vermutung, dass in diesem Schreiben über so unterschiedliche Figuren doch stets auch die Suche nach Menschenwürde zu finden ist. Wie lebt ein Mensch auf der Suche nach dem was ihm gemäß ist, wo sehen wir und können wir eine Erfahrung machen, was es heißt, als Mensch in Würde zu leben. Ohne dass dies jemals von Ihnen offen formuliert würde, scheint dies in meinen Augen den Figuren Ihres Buches eine eigene Würde zu geben, sie nehmen diese verdeckte aber treibende Kraft ihrer Lebenswege sehr ernst. Ich würde Sie jetzt am Liebsten einladen uns am nächsten Sonntag wieder zu besuchen. Da werden die Stories eines ganz anderen Autors gelesen. Andreas Meyer hat zwei wunderbare Bücher geschrieben, die auch Kleinstadtbücher sind - Bücher sind über die kleine Welt die sehr groß wird, in dem man in zwei Dörfern, eins in Hessen, eine Kleinstadt in Südtirol, sehr genau hinschaut. Und wir werden als zweiten Gast haben Kurt Flasch - einen Philosophen, der 30 Jahre lang in Bochum gelehrt hat, der Boccaccio und Dante ins Deutsche übersetzt hat, der aber als Transzendentral-Philosoph bestens über das Auskunft geben kann, was der Himmel für die Menschen vom Mittelalter bis in die Gegenwart bedeutet hat. Ich hoffe es wird eine ähnlich anregende Begegnung wie heute und danke meinen Gästen und würde mich freuen, wenn wir uns Wiedersehen.
-Applaus-