«Kunst ist kein Pflegedienst»
Kultur kann sich mit allem verbinden, Künstler nicht.
Interview
Welt am Sonntag: Seit einigen Jahren verschiebt sich das Gleichgewicht in der Kunstszene. Während die klassischen Institutionen wie Stadttheater oder städtische Museen mehr und mehr über Etatprobleme klagen, schießen gleichzeitig Festivals wie die Ruhrtriennale aus dem Boden. Was ist da geschehen?
Thomas Oberender: Die klassische Förderung, die Institutionen mit langfristigen und frei verwendbaren Etats ausstattet, ist an vielen Häusern seit Jahren eingefroren oder wird gekürzt. Große Festivals wie die Ruhrtriennale sind auch Institutionen. Aber vor allem die vielen kleinen Festivals und Spielstätten beruhen auf einer anderen Art von Förderung, die temporär, auf Antrag und entsprechend der Maßgaben einer Jury vergeben wird – die Projektförderung. Sie ist dabei längst nicht nur für die freie Szene und Festivals überlebenswichtig, sondern auch für klassische Institutionen – beide konkurrieren inzwischen um die gleichen Mittel.
Wams: Warum vergibt man Projektfördermittel? Wäre es nicht einfacher, die Etats der Häuser aufzustocken?
Oberender: Die Projektförderung ist ein zeitgenössisches und sehr nützliches Instrument. Sie darf nicht als Gegensatz zur institutionellen Förderung traditioneller Museen, Theater oder Orchester betrachtet werden, sondern als adäquates Mittel für andere Bedürfnisse. Die Kulturpolitik sollte also die Projektförderung und die Förderung von Institutionen nicht gegeneinander ausspielen, sondern muss ihr Zusammenspiel neu organisieren. Es wird immer mehr gefördert und für die vielen Akteure stehen daher immer weniger Mittel zur Verfügung, also versuchen die Geldgeber ihre Pflichten in bestimmten Bereichen zu lockern, das macht die temporäre Projektförderung so attraktiv. Wichtiger aber ist, dass sich die Bedürfnisse der Künstler ändern – die Arbeiten sind heute oft interdisziplinär und erfordern Ensembles und Infrastrukturen, die unsere klassischen Institutionen routinemäßig so nicht bereitstellen. Also gründen viele Künstler für ihre Projekte temporäre, nur dem jeweiligen Werk angemessene Strukturen, und das erfordert andere Infrastrukturen und Fördermodelle, eben jene der Projektförderung. Ohne diese Strukturen könnte z.B. Rimini-Protokoll nichts produzieren. Diese Gruppe ist inzwischen weltberühmt, jüngst hat sie auf Einladung der Ruhrtriennale mit einem umgebauten Truck sehr ungewöhnliche Erlebnistouren durchs Ruhrgebiet entwickelt. Das Stadttheater hingegen funktioniert genau andersherum. Dessen bauliche wie organisatorische Struktur steht fest - die Ideen müssen sich einfügen.
Wams: Rimini-Protokoll war auch im Düsseldorfer Schauspielhaus zu sehen.
Oberender: Die Off-Kultur, wie man frührer gesagt hätte, produziert heute als eine Szene kooperativer Produzenten einen wichtigen Teil dessen, was wir «Hochkultur» nennen. Ihr gegenüber steht das System der exklusiven Produzenten, also der Stadttheater, deren Stücke ausschließlich für ein Haus entstehen. Diese beiden Sphären werden sich, davon bin ich überzeugt, in Zukunft stärker vermischen. Ästhetisch ähneln sie sich längst.
Wams: Projektmittel sind zwar generell zu begrüßen, aber sie sind meist auch mit Vorgaben verbunden. Stiftungen, Unternehmen, ja selbst staatlichen Stellen knüpfen Bedingungen an ihre Förderung. Mal muss die Produktion mit Integration, mal mit Partizipation, mal mit Digitalisierung zu tun haben.
Oberender: Noch nie wurde so viel Kontrolle über Kunstproduktionen ausgeübt wie bei der Vergabe von Projektmitteln. Es ist ambivalent: Einerseits machen sie sehr viele Arbeiten überhaupt erst möglich. Andererseits schaffen sie süßsaure Bedingungen, denn sie regeln recht genau, was die Ziele und was die Modalitäten der jeweiligen Produktionen sind. Sie übertragen dabei die Logik der kapitalistischen Produktion auf die Kunstproduktion – alles wird evaluierbar und folgt den Erwartungshaltungen der Geldgeber. Aber Künstler sind keine Sozialtherapeuten, Kunst ist kein Pflegedienst, kein Reparaturprogramm sozialer Missstände. Es geht nicht um l’art pour l’art, aber wir sollten die Entscheidung über ihre Sprache und Intentionen den Künstlern überlassen. Kultur kann sich mit allem verbinden, Künstler nicht. Dieser Widerstand, diese Reserve macht uns reicher, sie sollten wir fördern.
Wams: Das setzt voraus, dass Wert von Kunst geschätzt wird. Schaut man einmal, wie leichthändig die Ministerpräsidentin Hannelore Kraft dem Verkauf der Portigon-Sammlung zu gestimmt hat, sieht man, dass Sie die Bedeutung der Kunst an ihrem finanziellen Wert misst.
Oberender: Hannelore Kraft hat verstörende Zeichen gesetzt, das stimmt.
Wams: Eine der Aufgaben liegt also darin, über zeitgemäße Funktionsweisen der Institutionen nachzudenken.
Oberender: Institutionen sind sehr wertvoll. Projekte schafft man schnell wieder ab; Häuser nicht. Sie sind Speicher von Know How, sind geronnene Erfahrung. Aber wir erleben, dass es Werkformen gibt, die andere Produktionsformen brauchen. Gérard Mortier, der Gründer der Ruhrtriennale, hat für dieses Festival gezielt Kreationen gefördert. Im Gegensatz zu den Interpretationen klassischer Werke, die meist in Stadttheatern stattfinden, hat Mortier auf originäre Erfindungen gesetzt, die etwas mit diesen Hallen und der ungewöhnlichen Begegnung unterschiedlicher Künste zu tun haben sollten. Die Kreationskultur kennt nur Originale. Wer sollte Alain Platels Stück «nicht schlafen», das in diesem Jahr in der Bochumer Jahrhunderthalle mit den Skulpturen von Berlinde de Bruyckere aufgeführt wurde, nachinszenieren? Es bleibt an dieses Ensemble und die Konstellation zwischen bildender Künstlerin, Musikern und Tänzern gebunden. Moderne Institutionen ermöglichen so etwas.
Wams: Welche Rolle nehmen dann die Stadttheater ein?
Oberender: Ich denke, wir leben in einem Epochenwechsel, der von einer Interpreten- zur Kreationskultur führt. Das Stadttheater bietet hier andere Möglichkeiten. Christoph Marthaler entwickelt seine Kreationen auch an Stadttheatern, insofern sie sehr spezielle Produktionsensembles bilden können. Stadttheater bieten eine Kontinuität der Zusammenarbeit, die Festivals niemals herstellen können. Ein Stadttheater entfaltet seine Energie auf lange Zeit, ein Festival erzeugt Explosionen.
Wams: Das Stadttheater ist aber in der Krise. Man muss nur einmal nach Düsseldorf schauen, wo bis vor kurzen keine substantiellen Entwicklungen ausgingen. Das ist bei vielen Bühnen so.
Oberender: Immerhin was das auch der Ort, wo Jürgen Gosch wiedergeboren wurde. Stadttheater überstehen Krisenjahre und berappeln sich neu, weil die gute Infrastruktur einfach noch da ist.
Wams: Ist das Stadttheater nicht in die Jahre gekommen – und das Publikum gleich mit? Oberender: Absolut! Einerseits ist das ein Erfolg, es gibt die Häuser immer noch. Andererseits kommen jetzt die Jungen, andere Stimmen und andere Akteure. Die Herausforderungen sind doch größerer Art: Das Ruhrgebiet muss einen Generationenwechsel bewältigen, genauso aber auch die Diversifizierung unserer Gesellschaft. Die Globalisierung verändert das Bevölkerungsbild und die Postinternetgeneration wurde von einer digitalen Kultur sozialisiert, die andere Erlebniswünsche und Erzählformen mit sich bringt und einen anderen Anwesenheitsmodus ermöglicht.
Wams: Wie kann ein Theater oder ein Museum dem gerecht werden?
Oberender: Ich weiß es nicht. Man muss es ausprobieren. Kay Voges hat in Dortmund das Stadttheater neu belebt, indem er viel experimentiert und junge Leute ins Haus geholt hat, die im Theater andere Erlebnissituationen schaffen. Bei den Berliner Festspielen starten wir ein neues Programm, das sich mit immersiver Kunst beschäftigt, also Werkformen, denen man nicht mehr gegenüber steht, sondern in die man eintritt, die einen umgeben, in die man eintaucht. Jeder, der schon mal eine VR-Brille aufhatte, kennt das. Aber das gibt es nicht nur in 360-Grad-Filmen oder Computerspielen, sondern auch bei den Theaterstücken ohne Bühne der dänischen Kompanie SIGNA, die Sie aus Köln kennen, oder Konzerte, bei denen das Orchester uns umgibt.
Wams: Es reicht also nicht, ein riesiges Video an die Wand zu projizieren und die Musik voll aufzudrehen, wie viele Regisseure meinen?
Oberender: Vielleicht für bestimmte Geschichten, aber neu ist das nicht. Neu ist, dass wir Gewohnheiten annehmen, die von der Struktur des Internet geprägt sind, der parallelen Wirklichkeiten, die das Smartphone ermöglicht – all das wirkt auch in der physischen Welt weiter und führt zu neuen Sehweisen, einem anderen Verständnis von «Figur», «Wirklichkeit» und «Erzählung». In der digitalen Welt werden wir mit jedem Klick wahrgenommen und wollen als «Zuschauer» daher auch im Theater oder im Museum anders vorkommen. Es ist eine Zeitenwende. Hinzu kommt die soziale Diversifizierung der Gesellschaft – sie wird internationaler und vielfältiger. Im Ruhrgebiet ist diese Veränderung besonders stark zu spüren. Es ist das Ende der Bergleute-Romantik.
Wams: Was bedeutet das für die Institutionen?
Oberender: Sie müssen sich fragen, wen sie eigentlich noch repräsentieren? Das Retro-Kumpel-Revier ist passé, das Ruhrgebiet ist divers, eine Grenzregion geprägt von Landflucht und kreativen Freiräumen – diese interkulturelle Situation einer neuen Bürgerschaft ist faszinierend. Es geht um andere Akteure, die nicht unbedingt in die alten Strukturen drängen. Man muss ihnen Raum geben, eigene Strukturen zu bilden.
Wams: Das heißt, die Spielpläne müssen sich umstellen?
Oberender: Genau. Es wird immer seltener darauf hinauslaufen, zum 812. Mal «Maria Stuart» zu sehen; wir sehen statt dessen ein Stück über die Begegnung mit Maria Stuart. Es geht um andere Formen von Autorenschaft. Yael Ronens Stücke entstehen nicht am Schreibtisch. Theater verhalten sich heute z.B. oft wie Archive, denken Sie an Milo Rau. Und ja, die aktuelle Lebensrealität spiegelt sich leider zu wenig in den Institutionen.
Wams: Eine Feststellung, die nicht neu ist.
Oberender: Es geht nicht nur um neue Stücke. An die Stelle der Meisterwerke treten langfristig neue Formate. 30 Stunden Musik statt einer Uraufführung. Man darf es eigentlich nicht benennen. Es gibt kein Rezept. Es geht um andere Realitäten, auch soziale. Orchester und Tanzkompanien haben sehr multikulturelle Ensembles. Vorderhand sind Opernhäuser viel konservativer im Programm, aber offensichtlich sehr integrativ. Ist das Theater ein Bollwerk? Theater werden nie mehr nur Theater machen. Wir brauchen andere Abosysteme, Bündnisse mit anderen Milieus und das alles geschieht schon. Die Projektförderung wird nie mehr verschwinden – sie ist die andere Seite unseres Systems und wir müssen lernen, beide Seiten entsprechend zu gestalten.