«Horror der Relativität»
Godot-Phantasien
von Thomas Oberender
Die Provokation des berühmten Textes von einst scheint heute dem milden Lächeln über einen beliebter Klassiker gewichen zu sein. Die Erfindungen, die Beckett mit diesem Werk 1948 vorstellte, wurden Legende. Zwischen zwei Sätzen geht die Sonne auf und unter, der Ort wurde zum Raum und bleibt vage. Beckett spielt mit der Intertextualität seines Stückes, der Unschärfe seiner Behauptungen, die sich erst durch die Interpretation oder Beobachtung «entscheiden» lassen und er schafft eine Schwellensituation des Dargestellten, in dem jedes Geschehen gleichzeitig sowohl triviale wie auch erhabene, hohe wie auch niedrige Züge hat. Seine Erfindungen von Bildern und Technologien, die das «sicher» Gegebene in den persönlichen Entscheidungsraum verbannt, machen «Warten auf Godot» zu einem Urtext der sich selbst bezweifelnden, belächelnden und betrauernden Moderne. Er wirkt nicht «modernisierbar».
Doch wie sich die Zeit vertreiben in einer Zeit, in der niemand mehr Zeit hat? «Warten auf Godot» ist ein Stück pausenloser Selbstbeschäftigung, ohne auch nur eine einzige wirkliche Tat zu vollbringen. Man kennt dieses Gefühl aus dem Leben der Arbeitslosen, der Obdachlosen, der Frührentner - viele von ihnen haben keine Zeit, sind pausenlos mit Aufgaben beschäftigt, die ihnen keiner mehr stellt, außer sie sich selbst. Um die Zeit totzuschlagen, die Leere nicht zu fühlen, um weiterhin eine Rolle zu spielen wie Willy Loman, der arbeitslose Handlungreisende aus Arthur Millers Stück.
Beckett schrieb Figuren, die sich spielend an das Leben erinnern, es Runde für Runde erfinden, dazwischen lauern Leere und Langeweile. Was heißt es, lebendig zu sein? Spielchen spielen. Jedes Spielchen errichtet eine Welt, erzeugt einen glaubhaften Lebensraum für die Dauer eines Spiels. Spiele erzeugen Welten, an denen man teilhat, weil man sie erschafft. Kein Durchstoß mehr zu etwas Realem, außerhalb liegt nichts.
Der Horror der Relativität: Becketts Figuren haben nichts, woran sie sich halten können ausgenommen das, was sie erzeugen. Die üblichen Verdächtigen: Raum, Zeit, Biografie, die Geschichte im Allgemeinen, nichts davon lässt sich mehr feststellen, aufklären, heranziehen, die Komplizen unserer Gewohnheit entziehen sich dem Zugriff. Dass Godot nicht kommt, ist der Anlass für die pausenlose Welterzeugung. Die Figuren kreieren, was de facto nicht außerhalb von ihnen sein kann. Sie wären tot, könnten sie nicht spielen, dass sie lebendig sind. Das Spiel, als trostloser, da in keiner Weise über sich hinausweisender Vorgang, gibt dem sinnlosen Leben eine Bedeutung - man spielt eine Rolle. Im doppelten Sinne: Im Sinne des Vorhandenseins wie im maßgeblichen Sinne dessen, mit dem sich plötzlich eine Bedeutung verbindet. Eine Rolle zu spielen, heißt bei Beckett zunächst, sich erinnern. Er-Innern, sich ins Innere wenden und es nach außen tragen - selbstgemachte Welten zeugen. Jedes Spiel ist in diesem Sinne ein Urlaub vom Tod. Wer Spielchen spielt, lebt. Wenn Wladimir nicht gekommen wäre, wäre Estragon «nur ein Häufchen Knochen.»
Becketts Stück enthält Situationen von anderen, denkbaren Stücken, die Stück für Stück durchgespielt werden könnten, aber nie das Stück ergeben würden, wie es Beckett geschrieben hat. Becketts Kunst der übergenau erfaßten Beziehungen und der gleichzeitigen Ablösung dieser menschlichen Zwischenwelten von der sozialen Umwelt spielt mit dem Blick des Beobachters, der die kleinen Etüden wieder als soziale Realitäten erkennt. Es zählt zur Magie des Textes, dass er wie ein Schwamm unsere Projektionen aufsaugt und dennoch vollkommen unantastbar bleibt.
Szenen eines möglichen Spiels: Wladimir und Estragon heißen mit Nachnamen Roncalli. Sie sitzen in einem alten Zirkuszelt auf wackligen Schemeln, es riecht nach feuchtem Sägemehl.
Grenzposten im afghanischen Gebirge, weit entfernt ab und an Schüsse: Estragon verliert die Nerven, versteckt sich hinter einem winzigen Bäumchen, ohne sich hinter dessen Stamm verbergen zu können.
Ein großer Saal in einer Irrenanstalt, die Fenster vergittert, weiße Wände, weiße Stahlrohrbetten, weiße Jacken. Sagt der eine Verrückt zum anderen: «Wir werden alle verrückt geboren. Manche bleiben es.»
Eine Bühne von Ed Kienholz, überkleckerte, eingeharzte Realität, inmitten von Müll und Fundstücken, die festgeklebte Spontanwelt zweier Männer in einem New Yorker Hotelzimmer. Das traurige Bild voller Zufälle und schmutziger Details. Estragon schaut aus dem Fenster auf die Brandmauer eines gegenüberliegenden Hauses. Er schlägt Wladimir vor, dass es am besten wäre, wenn er ihn umbringt. Wie den anderen. «Welchen anderen?», fragt Wladimir. «Wie Millionen andere.», sagt Estragon.
Quai West, im Schatten einer Lagerhalle, von fern das Licht der riesigen Kräne am Containerhafen. Zwei kleine Hehler, Verkäufer von Kleinstdiebesgut, warten auf einen Ganoven, zweimal hat er die Übergabe bereits verpatzt. Die Hafenpolizei läuft irgendwo Streife. Der Boss hat sie geschmiert, aber man spricht lieber leise, nicht jeder kennt ihren Boss.
Eine Universitätsstadt am Neckar, Literarisches Cafe mit Blick auf den Fluss, draußen Regen, Menschen eilen vorüber, Estragon raucht filterlose Zigaretten, schaut gedankenverloren durch die Scheiben, macht Notizen in ein Schreibheft, das er, nachdem es voll ist, nun von hinten nach vorne in den Leerzeilen noch einmal beschreibt. «Du hättest Dichter werden sollen.», sagt Wladimir. «War ich doch», antwortet Estragon.
Pozzo und Lucky kurz vorm Ertrinken in einem See, unweit des Stegs; neben ihnen treibt ein Boot ohne Ruder. Auf dem Steg stehen die zwei Kellner des schäbigen Strandcafés «Zur schönen Weide», Wladimir und Estragon, in Anzügen ohne Knöpfe und Schuhe.
In einem Fernsehstudio warten Wladimir und Estragon vor den bereitstehenden Kameras. Ab und an leuchtet über der dicken, schallgedämmten Tür ein Kasten mit dem Wort RUHE. «Wie die Zeit vergeht, wenn man sich amüsiert!», sagt Wladimir und schaut auf die Uhr.
Auf einem Schiff. Rundum das Meer. Wo ist Osten, wo ist Westen? Wladimir und Estragon lagen viele Tage seekrank unter Deck. Nun atmen sie auf dem Sonnendeck zum ersten Mal durch. Es ist kalt. Sie sind hungrig. Warum sind sie eigentlich mitgefahren? Irgend jemand versprach ihnen etwas zu Essen und Geld. Sie bemerken, dass ihrem Schiff keine Möwe mehr folgt. Der Himmel ist bewölkt. Ist es das Morgengrauen oder die Abenddämmerung? Die Maschinen tief unten, im Bauch des Schiffes, dröhnen leise unter ihren Füßen. «Wir sind unerschöpflich.», sagt Estragon und schaut aufs Meer. «Um nicht denken zu müssen.», sagt Estragon.
Westernkulisse, Straße vorm Saloon, die Pendeltüren stehen still, der Barkeeper verschwindet im Dunkel, aus einem Fenster im ersten Stock schaut ein Kind, seine Mutter zieht es zurück ins Zimmer, die Jalousie wird geschlossen, eine Windböe wirbelt Staub in die Höhe, Grasballen wehen über den Sand, senkrechte Schatten: Rücken an Rücken stehen Wladimir und Estragon und schauen in die Ferne. «Siehst du nichts kommen?»
Die Raucherinsel in der Wartehalle des Provinzflughafens Catania auf Sizilien. Pozzo kommt und steckt sich seine Pfeife an, während Lucky das Handgepäck hält. «Wir schlagen uns so auch ganz gut durch, wir zwei. Findest du nicht. Wir finden doch immer wieder einen Grund uns einzureden, dass wir existieren.» Ihre Koffer gingen verloren.
Alte Nationalgalerie in Berlin, Wladimir und Estragon als Aufsichtspersonal, lange Nacht der Museen, keiner kommt. Vor einem Gemälde von C.D. Friedrich stehen die Wärter und vertreiben sich die Zeit. Sie schauen sich das Bild an. Lauschiges Plätzchen. «Heitere Aussichten.», sagt Estragon. «Komm, wir gehen.» Sie haben Dienst. Wladimir schaut aus dem Fenster. Draußen: Ein Hohlweg, knorrige Eiche im Gegenlicht. Sie sehen vor dem Fenster ein Bild von CD Friedrich und der Mond verblasst. «Sag doch was.», sagt Wladimir. Estragon fragt, «Was?». «Ist doch ganz egal.» Plötzlich hören sie einen Schrei in den etwas weiter entfernten Sälen. Sie sorgen sich.
Beim Angeln. An einem toten Gewässer. Unter einem toten Baum. «Wir sollten lieber auseinandergehen.», sagt Estragon. «Das sagst du immer», antwortet Wladimir und steckt einen neuen Köder an den Haken. «Sag doch mal was.» «Ich suche.» «Sag doch mal irgendwas.»
Vor einer Moschee in Istambul. Inmitten der Schuhe der Gläubigen, die sich zum Mittagsgebet in der Moschee befinden. Estragon hat seine Schuhe ausgezogen und nun weiß er nicht mehr, welche die seinen sind.
Auf einem Fußballfeld, Lucky und Pozzo als Schiedsrichter, am Rand in schwarzen Trikots mit gelben Hosen die Gehilfen, Estragon sitzt an der Eckfahne und hat Probleme mit seinen Stollen. In der Stadt ist ein Unglück passiert, sagt man, aber das Spiel soll doch stattfinden, oder nicht? Die Mannschaften auf dem Weg. Die Ränge menschenleer. Zeitungspapier flattert zwischen den Reihen, das Flutlicht wirft Schatten, der Rasen ist feucht. «All die toten Stimmen, die flüstern.» «Die Rauschen.» «Wie Blätter.» «Wie Asche.» Sie warten an der Mittellinie, zupfen an ihren Strümpfen, kontrollieren ihre Schuhe, vergleichen die Uhren. Pozzo pfeift, Lucky erschrickt. «All die vielen Stimmen.» Vielleicht ist dieses riesige Stadion in Santiago de Chile oder Kabul, der grüne Rasen über Leichen. «Es genügt ihnen nicht, tot zu sein.», sagt Wladimir.
In einer Installation von Vanessa Becroft. Ein heller Ausstellungsraum, Parkettboden. Wladimir und Estragon stehen unter unzähligen Landstreichern, die alle mehr oder weniger an sie selbst erinnern - verschlissene Anzüge, zerbeulte Melonen, keine Strümpfe unter den staubigen Schuhen. Inmitten ihrer Kopien steht ein seltsames Paar. Denn der eine Mann sitzt herrisch auf einem Stuhl, der andere trägt eine Leine um den Hals. Wenn Wladimir und Estragon sich umdrehen, drehen sich ihre Clone oder Double oder Brüder auch um. Wenn sie sich setzen, setzen sich die anderen auch. Außer der Mann mit der Leine um den Hals und sein Herr im Klappstuhl mit dem Glas Wein in der Hand.
Estragon und Lucky in einem ICE-Abteil, Geschäftsreisende. Sie telefonieren, der Schaffner bringt Tee. «Wo waren wir gestern Abend?», fragt Wladimir. In einem anderen Zug, sagt Estragon.
Ein deutsches KZ in Frankreich 1943: Pozzo ist ein deutscher Wachsoldat mit dem Namen Otto, der den französischen Lyriker Peron, auch genannt Lucky, dessen Sträflingsanzug ihm aufgrund von akuter Unterernährung dauernd über die Hüften herabrutscht, abends gelegentlich ins Quartier der Mannschaften holt, um vor den betrunkenen Soldaten Gedichte zu rezitieren. Lucky lebt in Ottos Lager und wird von ihm vor dem baldigen Tod bewahrt. Otto ist der Beschützer von Lucky und Lucky muss für ihn schöne Worte finden, jede Nacht, nach dem Kasino, meist hat Otto viel getrunken. Wladimir und Estragon denken noch immer darüber nach, ob sie sich umzubringen, aber sie finden keinen Baum und es ist schade um den Strick.