«Die Evolution sozialer Verhältnisse und ihrer Spielformen»
Was bedeutet die Verflüssigung des Sehens?
von Thomas Oberender
Duane Hansons Weg
Wenn ich aus einer Duane Hanson-Ausstellung zurück auf die Straße komme, sehe ich plötzlich in den Menschen die wandelnde Skulptur einer gelebten Biographie – bewundernswert und unerschöpflich ist der Reichtum an individuellen Zeichen und Spuren, das Geformtsein des Körpers und seiner Kleidung als Reagenz der auf ihn einwirkenden Einflüsse, Selbstbilder, Resignationen und tapfer bewahrte Hoffnungen. Sie machen Menschen dick und stotternd, glamourös und eloquent. Aber – und das interessiert mich im Hinblick auf das Theater – es gibt ihnen etwas Eigenes, das zugleich etwas bezeugt, das nicht nur ihnen eigen ist, sondern sich in ihnen durchsetzt, sie formt, belädt, verstummen macht oder aggressiv. Was ist das? Richard Avedon hat es auf seinen Fotos erfaßt, Thomas Struth, Walker Evans, Thomas Ruff, William Eggleston und Rineke Dijkstra, die großen Portraitgemälde von Franz Gertsch auch und im Grunde träumt jede Aufführung von diesem Augenblick, in dem es sich zeigt – oft ist ein gesamter Abend nichts anderes als ein langer Anlauf, der sich in diesem einen Moment zu erlösen sucht. Wie fragwürdig ist die Idee, daß uns eine Aufführung einen ganzen Abend lang unterhalten oder bewegen muß, sind doch die meisten Stücke nichts anderes als Wegbeschreibungen hin zu diesen zwei, drei bewegenden Konstellationen, in denen plötzlich etwas umbricht, das uns, so es glückt, erfaßt, konsterniert und bewegt. Weil es einen Schritt über die Grenze hinaus andeutet und anbietet, der von seiten der Spielenden getan wird oder eben nicht – wir suchen das, wofür Duane Hanson jahrelang Hände, Brüste, Schenkel und Gesichter sammelte, um sie dann zu Skulpturen zusammenzusetzen, die er in Harz und Bronze goß, weil sie plötzlich das «Ganze» eines Menschen zeigen, den es so, außer in den Augen des Künstlers, nie gab.
Hansons Skulpturen schauen immer nach innen – sie leiten und führen unseren Blick in ihren Zustand und dieser Zustand ist auch ein gesellschaftlicher, er zeugt davon, was eine Gesellschaft und ein Leben mit diesen Menschen macht. Und das Theater? Hansons Skulpturen, am Anfang noch drastische Kommentare zu politischen Skandalen, prügelnden Polizisten, Babys in Mülltonnen, Obdachlosigkeit, verewigten im Laufe der Zeit scheinbar immer «harmlosere» Alltags-Sujets, Putzfrauen, Arbeiter, Einkaufende, Bodybuilder. Es ist, als ob die Geste des Protestes verschwindet und einer empathischen Betrachtung der Beladenen und Müden weicht, die gänzlich unspektakulär wirkt. Als ob das, was uns in den Bann dieser Skulpturen zieht, nicht mehr ihr sozialkritischer Kommentar ist, sondern etwas, wofür das politische Vokabular plötzlich fehlt, denn die Ausstellungsbesucher begegnen sich selbst, stehen unter ihresgleichen, seltsam stillgestellt, seltsam freigestellt und da ereignet es sich: Der Betrachter wird selbst zur Skulptur, das Flimmern des Blicks, hansonartig wirken die Besucher, und die Kunstwerke sind wir, wir, die wir erfaßt sind in einem Augenblick, da uns jede äußere Abstützung fehlt. Etwas an Hansons Weg ist symptomatisch: die Verschiebung des Politischen von der Gegenüberstellung, dem anklagenden Blick auf das andere, zur Überblendung, zur Verwandlung des Eigenen in dieses andere, dem man gegenüber steht und es selbst ist. Äußerlich betrachtet ist es Hansons Weg in das Profane, Unspektakuläre, von der Alltagssprache seiner Kultur und Zeit geprägte Inbild des «Normalen», aber die Provokation wird radikaler: Seine Skulpturen artikulieren einen spirituellen Protest, der weiter greift als der plan politische. Mir fällt kein anderes Wort ein, als diese Vokabel der «Entkleidung» des Menschlichen, das Dramatisieren einer spirituellen oder metaphysischen Existenz in der Physischen, deren Hervortreten eben dann geschieht, wenn das politische Vokabular nicht mehr ausreicht, um das Drama des Menschen zu transzendieren.
Duane Hansons Eintauchen in die Formensprache seiner Zeit und Alltagskultur und das gleichzeitige Auftauchen eines anderen, durchaus protestierenden, eine Erwartung und einen anderen Anspruch an das Leben artikulierenden Daseinszustands, der sich eben in der Mimikry des Sozialen ereignet, scheint mir symptomatisch für eine Entwicklung, die sich im Theater auch hierzulande vollzog und zwar gerade dann und dort, wo es auf den Kapitalismus als Kultur, als Alltagskultur in neoliberalen Zeiten reagierte. Theater zeigt, sehr grundsätzlich formuliert, eine Welt und darin, wie es Welt und Weltverhältnisse sieht. Diese Welt kann andere mimetisch reproduzieren, also repräsentieren in einem stellvertretenden, nachschöpfenden Sinne etwas im Drama des Naturalismus, oder sie kann selbst behaupten eine Welt und eigene Realität zu sein, wie dies die Stücke von Konrad Beyer oder Gertrude Stein tun. In jedem Fall aber zeigt sich in diesen spezifischen Spielformen die Situation des Sozialen – sei es in der Gruppe der Theaterleute selbst, sei es als Verweis auf ein draußen. Auf die jungen, eher kreationistisch bezogene Arbeitspraxis der neuen und frei produzierenden Theaterkollektive fällt auf, dass sie, wie man das bei Gruppen wie Gob Squad besonders deutlich beobachten kann, andere Materialien, andere Akteure ins Spiel bringen und die Erlebnissituation der Aufführung, ja des institutionalisierten Theaterdispositivs selbst hinterfragen und neu auffassen, weil sich in ihrer Arbeit die konventionelle Auffassung von Figur, von Bühnenerzählung und Zuschauerbezug neu definieren. Wenn die Welt online gegangen ist, warum soll das Theater dann nicht auch neue Programme entwickeln?
Vielleicht ist es kein Zufall, daß unsere besondere Sensibilität für das «Drama des Sehens», und man könnte hinzufügen, des Hörens und Sprechens, das in Werkformen auffällig wird, welche die Wahrnehmung selbst dramatisieren, statt eine dramatische Geschichte zu bieten, mit der Erfahrung des Neoliberalismus zusammenfällt, also mit einer Erfahrung forcierter Deregulierung, einer Entschlackung des Kapitalismus als Kultur von Regulativen, die ihn – aus anderen historischen und ethischen Zusammenhängen heraus – in seiner Entwicklung bisher moderiert und «gebändigt» haben. Die Weltabbildung erscheint in diesen Arbeiten nicht mehr als Ding und objektiv, sondern als relativ, als etwas Hergestelltes, das seine inneren Betriebsmodalitäten offenlegt und reflektiert. Vor allem dies – die Kritik der Institution, des Theaterdispositivs und Repräsentationsroutinen – haben die junge, freie Theaterszene um Nikolas Stemann oder Rimini Protokoll nach anderen Spielformen und einer anderen «Wirklichkeitsform» des sinnlichen Spiels suchen lassen. Dies läßt sich anschaulich an den Veränderungen der deutschen Theaterlandschaft seit den neunziger Jahren beschreiben, insofern diese Landschaft als eine Produktionsform betrachtet wird, die sich seither liberalisiert und gewandelt hat und wandeln wird.
Denn den neunziger Jahren entstand in Deutschland, parallel zur Stadt- und Staatstheaterstruktur, ein Netzwerk frei produzierender Spielstätten, deren Arbeit mit der Freien Szene nicht mehr viel gemein hat. Spielstätten wie Kampnagel in Hamburg, Bockenheimer Depot und Mousonturm in Frankfurt, später das Theaterhaus Jena, die Sophiensäle in Berlin, das Forum Freies Theater (FFT) in Düsseldorf und das Theaterhaus Gessnerallee in Zürich produzierten Stücke, die eine andere Theatersprache hervorbrachten oder beheimateten. Hier entstanden vermehrt Aufführungen als «Stücke ohne Vorlage» – zunächst gab es ein Thema, dann wurde recherchiert, Material zusammengetragen, ein klassischer Text demontiert, neu zusammengesetzt. Diese Arbeit war in der Regel vom ästhetischen Gegenwartsbezug einer jungen Generation geprägt, die ihren politischen Gegenwartsbezug dadurch ausdrückte, daß sie mit der Alltagsmode und Populärkultur wie in der appropriate art Materialien ins Spiel brachte, die sozial vorcodiert waren und die Macht der Medien, der invisible hand des Marktes und der Diskurse auf der Bühne spürbar werden ließen. Viele Autoren, die in dieser Zeit zu schreiben begannen, sind Autoren von Theaterkollektiven gewesen – Gesine Dankwart, Falk Richter, René Pollesch oder Fritz Kater hatten und haben bisweilen noch immer ihre Theaterfamilie oder sind die Regisseure ihrer eigenen Stücke.
In dieser Parallelstruktur eines freien Netzwerkes entstanden Theateraufführungen, deren Material sehr stark von konzeptioneller und medienreflexiver Sicht auf das Material geprägt waren, ja – dieses Sehen des unhintergehbar vorcodierten Materials wurde in den Arbeiten von Nicolas Stemann, Sandra Strunz, René Pollesch oder Falk Richter zum eigentlichen Drama. Die neue Authentizität, nach der diese Künstler suchten, das «Wirklichwerden» ihrer Darstellung, beruhte auf einer Reflexion der Konditionierungen und Images, mit denen ihre Generation auf Stoffe und Personen schaute, die nicht mehr pur zu haben sind, nicht mehr ungesondert von der oftmals industriell hergestellten Überformung des Sozialen durch Codes und Klischees, die der individuellen Gestalt das Kostümzeug geben. Gleichzeitigen schlummert also in diesen Arbeiten die Ahnung, daß nur in diesen Fremdstoffen des Intimen, in den Fermenten des Öffentlichen, wie es sich als Mode und popkultureller Code im Privaten zeigt, eine Konfrontation mit der Macht noch erzählbar ist, da sie dem Einzelnen nicht mehr als milieubedingte Konvention oder Ordnungsregel gegenüber steht, sondern ihn auf süße Weise selbst bewohnt.
Verflüssigung des Sehens
«Es gibt heute niemanden mehr», so Thomas Meder über die Arbeiten von Bill Viola, «der noch auf ein traditionell ‚statisches’ Bild schauen und dabei die Erfahrung der ‚laufenden’ Bildern ausblenden kann. Wir alle sind, willens oder nicht, von der Beschleunigung der Wahrnehmung geprägt, die im übrigen lange vor dem Film, nämlich mit der ersten Fahrt eines Zuges, begann. Längst hat sich das Sehen verflüssigt: Es ist neben sehendem Subjekt und betrachtetem Objekt zum dritten Element der Kunst geworden.»[i] Daß diese «Verflüssigung des Sehens» in den freien Netzwerkproduktionen so auffällig thematisiert wurde, findet seine Entsprechung in jenen sozialen Veränderungen der neunziger Jahre, die letztlich auch zur Bildung dieser Produktionsstätten führten.
Die sich seither abzeichnende Liberalisierung der Theaterlandschaft und die neuen Formen der Kooperation zwischen Produzentenspielstätten, Festivals und Theatern entsprechen auch einem ästhetischen Bewußtseinswandel: Die Macht, die soziale und politische Macht der neoliberal umgeformten Gesellschaft und das Drama, das sie bewirkt, ist nicht mehr zu erfassen in einer Relation zwischen «sehendem Subjekt und betrachtetem Objekt», sondern muß andere Strategien der Darstellung entwickeln.
Unter diesem Gesichtspunkt ist einerseits die Renaissance der Familienstücke auffällig, die Dramatisierung jener letzten Insel des Sozialen, in der alte Konfigurationen von Machtverhältnissen noch aktuelle Leidensprozesse bewirken, andererseits und vor allem aber auch die Öffnung der Aufführungen für Momente des Performativen und die zunehmende Dramatisierung von epischen Stoffen, von Romanen und Filmdrehbüchern, in der soziale Kräfte wieder als Struktur faß- und erzählbar werden, eben weil diese Struktur nicht mehr auf der Personalisierung in der Figur beruht, sondern transpersonell ist und grundsätzlich mit der epischen Sicht auf Personen verbunden ist, deren Drama sich nicht mehr, um mit Peter Szondi zu sprechen, zwischen ihnen ereignet, sondern zwischen ihnen und etwas Drittem.
Der Versuch, dem Theater das Drama zu bewahren ist zum Drama des Sehens geworden, der Radikalisierung jenes «dritten Elements», von dem Thomas Meder in seiner Bemerkung über Bill Violas Installationen sprach. Es wurde im deutschsprachigen Theaterlandschaft am stärksten dort vorangetrieben, in der sich die Produktions- und Erzählkonventionen am weitesten «liberalisierten». Stilprägende Künstler wie Christoph Marthaler, der als freier Musiker seine Laufbahn in der Peripherie des etablierten Theaters begann, oder der ehemalige Theaterpartisan aus Anklam, Frank Castorf, Johan Simons, Alain Platel oder Luk Perceval sind aus einer Produzentenstruktur entwachsen, die wieder ein anderes Verständnis von Ensemble, von kollektiver Kreation beansprucht haben und die sich nun langsam auch im deutschsprachigen Raum etablieren und neue Produktionsnetzwerke treffen, die durch die nachrückende Generation geprägt werden. So entstehen sowohl an den traditionellen Theatern, vor allem aber im Bereich der frei produzierenden Orte Strukturen, die wieder die Produktion von Kollektiven fördern, von Truppen und kuratierten Projektgruppen. In dieser Produktionswelt stehen die Künstler – und Zuschauer – stehen dem Gegenstand ihrer Betrachtung nicht ‚souverän’ gegenüber, sondern entdecken sich selbst als die Hervorbringenden dieses Gegenstands und von ihm Hervorgebrachten – so, wie der Souverän der Gesellschaft verschwand und sich auflöst in der unsichtbaren Selbststeuerung des Marktes und der von ihm evaluierten sozialen Subsysteme.
Wenn es bis in die achtziger Jahre in Deutschland oder Westeuropa einem Menschen schlecht erging, war daran die Gesellschaft schuld. Heute, so scheint es, gibt er sich selbst die Schuld. Dieses Ein- und Aufgehen in etwas, das uns nicht mehr gegenübersteht, sondern man selbst ist, macht das Selbst zur Bühne, auf der wir aufgefordert sind, unsere Rolle selbst zu bestimmen und uns nach eigenem Maß selbst zu kreieren. Dies fiktionalisiert uns und macht uns zugängig und abhängig von Fiktionen, die uns das Unsere suggerieren. Diese bürgerliche Emanzipationsutopie war stets flankiert von uns und die bürgerliche Gesellschaft transzendierenden Mythen, Ideologien und Idealvorstellungen. Inzwischen sind wir, scheint es, einen Schritt weiter. Unsere spätbürgerliche Gesellschaft hat jeden Gehorsam gegenüber sie transzendierenden Institutionen aufgekündigt – keine Kirche, auch nicht in der säkularisierten Gestalt einer Ideologie, vermag noch, durch ein unmittelbares Gottesvorbild, also das Vorbild eines Gottes, der sich als Mensch zu erkennen gab, ihr bindend zu vermitteln, was das Göttliche am Menschen sei. Es ist noch zu hören bei Bach und zu erfahren in den Dionysien der Raves, aber dies durchwaltet keine Gesellschaft mehr, nur noch viele kleine Gemeinschaften. Wo das Absolute als Gegenüber verschwindet, tritt der Mensch in einen ununterbrochenen Prozeß der Autopoiesis ein: Er betrachtet sich und muss sich betrachten, um sich selbst in seiner autonomen und idealen Gestalt zu entwerfen. Vielleicht ist dies überhaupt sein Drama. Es ist ein wunderbares und gefährliches Experiment, denn er kann sich ja nicht anders als mit eigenen Augen sehen.
Mir scheint, Duane Hansons eingangs beschriebener künstlerischer Weg, der Wechsel seiner Perspektive, hat viel mit der Entwicklung der Theatersprache im deutschsprachigen Raum der letzten Jahre gemein: Von den liberalisierten Randzonen her bewegte sich eine junge Generation von Künstlern in die Zonen des Alltäglichen hinein und politisierte das Theater, indem sie den Betrachtungsmodus wechselte: Weg von der hegemonialen Einsicht der oft wohlfeilen Welterklärer im Sinne Peymanns und Rolf Hochhuths hinein in eine Erfahrung von Verflüssigung, für die es kein System mehr gibt, wohl aber systemische Konstellationen, aus denen heraus sich plötzlich eine spiritueller Kontur des Menschen, auch als Gegenbild, abzeichnet.
Denn in Gesellschaft wird er doch immer stärker selbst zum Rohstoff werden, zur letzten und eigentlichen Ressource, weil nichts von dem, was sich heute als das entscheidende Kapital erweist, noch von ihm ablösbar ist. Es sind nicht mehr natürliche Rohstoffe wie Erz oder Öl, nicht mehr die Lohnarbeit von acht bis sechzehn Uhr und das erworbene Handwerk oder die downloadbare Software, die als Ressourcen entscheiden: Von der Hardware zur Software zur wetware seines Hirns, seiner Gefühle und Gene arbeitet sich der Verwertungsprozeß unter die Haut. So entstehen Aufführungen, die eine Art Trainingslager einer auf sich gestellten Generation sind – Redeformate werden ausprobiert bei Gob Squad, Werkdispositive des Balletts und andere Begegnungs- und Austauschformen bei She She Pop, die Montage disparater Figuren bei Castorf – sie zeigen alle ein Selbst, das immer weiter fiktionalisiert und dessen Identitätsbausteine immer rigider kommerziell formatiert werden. Die Dramatisierung dieses sich selbst Sehens und Erschaffens im Übergangsbereich zwischen innen und außen ist eine der auffälligsten Strategien der aktuellen Kunst, um uns über die Schwelle ins Werk zu ziehen und zu Akteuren zu machen, ganz ähnlich wie wir zum Rohstoff einer Gesellschaft wurden, die uns über die Schwelle zieht, indem sie keine innere Reserve mehr duldet.
Die mit der Unschärfe spielenden Bilder von Gerhard Richter, oder die Konzertinszenierungen von Heiner Goebbels, die Systemchoreographien von William Forsythe – in all diesen Arbeiten stellten sich Momente ein, in denen sich ein Orchester scheinbar selbst dirigiert, Geräusche in Musik umschlagen oder auf dem Tanzboden sich die isolierten Körpergesten und das Zusammenspiel der Tänzer wie zufällig fügen und zur strengen Konfiguration einer Choreographie verdichten, sich ins Chaos steigern, kulminieren und eine neue Konfiguration hervorbringen. Wir, die Zuschauer werden zu «Dirigenten», die in den offenen Herstellungsprozess der Kreation plötzlich selbst eine Art von Struktur hineinsehen oder ihm entnehmen können, beziehungsweise sollen, denn wir sind in diesen Begegnungen nicht passive Genießer, sondern erleben eine Art tätiger Freiheit, etwas, das sich uns nicht als geschlossene Welt gegenüberstellt, sondern ständig versucht, uns «ins Bild» hinein zu ziehen. Ein Theaterkünstler wie Schorsch Kamerun perforiert die Hermetik seiner Aufführung zum Beispiel durch die Arbeit mit Musikern und Laien. Zugleich fiktionalisieren Theateraufführungen wie die von Rimini Protokoll oder Steffi Lorey städtische Räume und scheinbar authentisches Material so raffiniert, dass die Grenzen zwischen Artifiziellem und Realem zerfließen.
Ein Stück für Mitspieler – eine Passage
Es war das Stück QUIZOOLA! von Forced Entertainment, das ich zum ersten Mal Ende der neunziger Jahre in Berlin sah und sofort als etwas verstand, das vielleicht gar kein Stück mehr ist, sondern eher ein Spiel oder Ritual, jedenfalls bildete es nichts mehr ab, sondern stellte eine eigene Wirklichkeit her, die völlig anders funktionierte als klassiche Theaterabende und dennoch eine grandioser Theaterabend, oder genauer noch, eine bewegende Theaternacht schuf. QUIZOOLA! bewegt sich im Hinblick auf das in diesem Werk angereicherte Material ähnlich wie Duane Hanson weit in die Trivial- oder Privatsphäre des sozialen Lebens hinein und wirkt so völlig unprätentiös und zugangsoffen, jeder versteht diese Theatersprache sofort, sie ist populär, unterhaltsam und abgründig zugleich. Ja, mit der Dauer des auf eine lange Dauer angelegten Spiels wird es immer spiritueller, denn es organisiert in einem Übergangsbereich von Text und Improvisation, Spiel und Stück, Folter und Spaß, Zitat und Schöpfung eine so selten zu erlebende Begegnung mit Darstellern, die sich kaum mehr durch Rollen schützen können und wollen und uns im Laufe der Aufführungszeit eher als Kreaturen begegnen denn als klassische Figuren.
Quizoola! vereint in sich mehrere Ambivalenzfelder, überlagert sie und schafft eine Aufführungssituation, welche die Zuschauer und die Akteure in eine permanente Entscheidungssituation versetzt: Was ist Lüge, was Geständnis, was ist Spiel und was nicht – diese Frage bleibt offen. Der Text von Tim Etchells etabliert eine Schwelle, eine Unsicherheitszone, in die man sich nicht allein als Könner oder souveräner Spieler hineinbegeben kann, sondern er provoziert eine extreme Ausstellung oder das Ausstellen von Extremen - ein Entkleiden und gleichzeitiges Überspielen, das uns als unentwegtes Spiel am Rand zum Himmel wie zur Hölle in den Bann einer Erfahrung zieht.
Quizoola! ist ein Text für Mitspieler, es ist nicht dafür geschrieben, von jemandem inszeniert und «aufgeführt» zu werden. Die siebenundzwanzig Seiten, die der Autor und Regisseur von Forced Entertainment, Tim Etchells, mit Fragen gefüllt hat, und die Regeln, die er zu ihrer Beantwortung setzt, etablieren ein hermetisches Spiel: Zwei Darsteller in der Situation des Duells – der eine hat einen fast endlosen Bogen mit Fragen vor sich, der andere sucht nach Antwort. Vermittels einer knappen Formel können beide Darsteller jederzeit ihre Rollen tauschen.
Der Autor spricht im Vorwort seines Textes abwechselnd von «Stück» (piece) oder «Spiel» (game). Als Stück ist es tatsächlich das, was der Wortsinn auch im Deutschen nahelegt – der Bruchteil eines Ganzen. Das «Ganze» ist in diesem Text aber lediglich die Summe des Vielen, der vielen Sprachen, Räume, Dimensionen, die in diesem Spiel miteinander in Berührung kommen und für wenige Augenblicke eine Überschreitung provozieren. Das Stück läßt sich kaum auf herkömmliche Weise aufführen – es legt uns vielmehr nahe, es zu sein oder sein zu lassen. In diesem Sinne ist Quizoola! eine Tortur, ein Spiel, wie auch die Jagd ein Spiel ist. Es navigiert die Spieler unvermeidlich in eine Zone der Ängste, Geheimnisse und Erinnerungen, in der man sich ausgesetzt fühlt und sich fragt: was liegt dahinter? Die Welt von Quizoola! ist als Puzzle urbaner und provisorischer Welterfahrungen angelegt – es offenbart keine bessere Welt als die, die in uns liegt und sich durch unsere Antworten aus uns schafft. Der Subtext aller großen Dramen – die Frage: «Wer führt wen?», wird in Quizoola! zum Kennzeichen einer Situation, in der sie unbeantwortbar geworden ist.
Die Macht, so zeigt dieses Stück, ist nichts Personifizierbares mehr, nichts Ständiges, keine Größe, sondern ein Prozeß, der offen bleibt durch die Akteure und Zuschauer immer wieder neu beeinflußt wird. Quizoola! radikalisiert Momente unseres alltäglichen Lebens zwischen TV und Telefonaten, Momenten gegenseitiger Entdeckungen und des Alleinseins – Erfahrungen von Intimität wie auch der Öffentlichkeit, der Gewalt wie der Zärtlichkeit geraten hier sprunghaft an- und ineinander. Aber nicht nur die Darsteller werden durch die Spielregeln von Quizoola! in eine jederzeit veränderbare Situation gebracht, auch die Zuschauer. Es ist gut möglich, diese Performance über die Dauer von Stunden mitzuverfolgen – wie bei jeder Tortur ist die Dauer, die Last und Vergleichgültigung der Zeit ein wesentliches Element. Man kann sie aber auch nach Minuten wieder verlassen und bleibt als Betrachter dennoch affiziert vom Prinzip, erregt von der Idee dessen, was sich da unter dem Regime strenger Regeln an menschlicher Freiheit abspielt. Die Freiheit der Zuschauer ist ein Teil seiner Regeln.
Ich höre dir mit Blicken zu.
Es gibt ein Inbild für dieses «Drama des Sehens», das ja auch ein Drama der individuell zu verantwortenden Antwort auf das zu Sehende ist, der Entscheidungslast, die einem nicht abgenommen wird und so die eigene Reife prüft. Es ist für mich jene Szene in Schillers Don Carlos – in ihr betrachtet der König mit «finsterer Miene», unsicher, ob seine Tochter nicht die Tochter seines Sohnes ist, das Gesicht der kleinen Infantin, denn: «Meine Züge, / Sie sind die seinigen nicht auch?» Der Abgrund der Undeutbarkeit dessen, was er sieht, droht ihn zu vernichten.
Und so wirkt jene kleine Szene paradigmatisch, denn jenes unentscheidbare oder nur durch ihn zu entscheidende Moment, das den König in der Ausdeutung des Sichtbaren umtreibt, wurde zum Nukleus vieler Aufführungen und Kunstwerke neueren Typs. In dieser Unschärfezone ereignet sich das Drama der Wahrnehmung, das zum Drama jener Bürger wurde, die da gekommen sind. Sie müssen entscheiden, wie sie die Dinge sehen. Vor einer Stadtansicht, gemalt von Gerhard Richter, stehen sie wie der König vorm Kind: Treten sie dem Bild nahe, sehen sie ein abstraktes Gemälde von wildem Farbauftrag. Treten sie zurück, erscheinen die Straßenzüge von Paris. Es ist, als ob sie in einen Blickfänger geraten, der sie ihr Sehen sehen lassen will und eben dies zur dramatischen Erfahrung macht: Wie Welt, Macht, Ordnung, Sinn oder Gefühl entsteht. Duane Hansons Weg führte von der Gegenüberstellung des Politischen in diesen – das Kollektiv vereinzelnden und den Einzelnen transzendierenden – Raum einer unscharfen Identifikation. Die Kunstwerke öffnen sich und ziehen uns durch die Strategie der Unschärfe, des scheinbar nicht mehr sichtbaren Dirigats und der aufgegebenen Zentralperspektive über die Schwelle in ihren Innenraum der Ambivalenzen. In ihm, in den Videoinstallationen von Sam Taylor-Wood, in der Neustadt des Bühnenbildners Bert Neumann oder den Choreographien von William Forsythe ist eine Geschichte und ihre Wahrheit nicht mehr anders zu haben, denn als eine Entscheidung, die man persönlich verantwortet. Wie der König aufs Kind schauen wir auf Heiner Müllers Bildbeschreibung. «Ich höre dir mit Blicken zu» – ich wüßte, für das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft, im Augenblick keine bessere Formel als jenen Satz von Don Carlos, der beschreibt, wie Politik zur Vorstellung wird und unsere Vorstellungen zu Politik.