«Die Evolution sozialer Verhältnisse und ihrer Spielformen» 

Was bedeutet die Verflüssigung des Sehens?
von Thomas Oberender

 

 

Duane Hansons Weg

Wenn ich aus einer Duane Hanson-Ausstellung zurück auf die Straße komme, sehe ich plötzlich in den Menschen die wandelnde Skulptur einer gelebten Biographie – bewundernswert und unerschöpflich ist der Reichtum an individuellen Zeichen und Spuren, das Geformtsein des Körpers und seiner Kleidung als Reagenz der auf ihn einwirkenden Einflüsse, Selbstbilder, Resignationen und tapfer bewahrte Hoffnungen. Sie machen Menschen dick und stotternd, glamourös und eloquent. Aber – und das interessiert mich im Hinblick auf das Theater – es gibt ihnen etwas Eigenes, das zugleich etwas bezeugt, das nicht nur ihnen eigen ist, sondern sich in ihnen durchsetzt, sie formt, belädt, verstummen macht oder aggressiv. Was ist das? Richard Avedon hat es auf seinen Fotos erfaßt, Thomas Struth, Walker Evans, Thomas Ruff, William Eggleston und Rineke Dijkstra, die großen Portraitgemälde von Franz Gertsch auch und im Grunde träumt jede Aufführung von diesem Augenblick, in dem es sich zeigt – oft ist ein gesamter Abend nichts anderes als ein langer Anlauf, der sich in diesem einen Moment zu erlösen sucht. Wie fragwürdig ist die Idee, daß uns eine Aufführung einen ganzen Abend lang unterhalten oder bewegen muß, sind doch die meisten Stücke nichts anderes als Wegbeschreibungen hin zu diesen zwei, drei bewegenden Konstellationen, in denen plötzlich etwas umbricht, das uns, so es glückt, erfaßt, konsterniert und bewegt. Weil es einen Schritt über die Grenze hinaus andeutet und anbietet, der von seiten der Spielenden getan wird oder eben nicht – wir suchen das, wofür Duane Hanson jahrelang Hände, Brüste, Schenkel und Gesichter sammelte, um sie dann zu Skulpturen zusammenzusetzen, die er in Harz und Bronze goß, weil sie plötzlich das «Ganze» eines Menschen zeigen, den es so, außer in den Augen des Künstlers, nie gab.