«100 Fragen an Heiner Müller»
Theaterstück von Moritz von Uslar und Thomas Oberender
«100 Fragen an Heiner Müller. Eine Séance» entstand 10 Jahre nach seinem Tod aus dem Gefühl des Vermissens. Heiner Müller fehlte als Künstler und Stimme. Wie kann man ihn wieder anwesend machen, ohne das andere Menschen ihn nachspielen? Das Stück entwickelt eine Art Séance - 7 Figuren in verschiedenen Lebensaltern und Geschlechtern, sprechen über ihn und ab und an inkarniert sich der tote Dichter für Momente, vielleicht nur einen Augen- oder Stimmtrug lang, in dem einen oder der anderen. Moritz von Uslar schrieb 100 Fragen an den toten Autor, die seine Freunde und Wegbegleiter oder Begleiterinnen an seiner statt beantwortet haben. Durchbrochen werden die Dialoge von kurzen flash backs, die den Dichter in Bildern beschreiben.
Besetzung: 1D, 6H
UA: Berliner Ensemble, 30.12.2005. R: Philip Tiedemann
Stücktext vom Verlag der Autoren
Erschienen unter dem Titel «37 Grad unter Null», in: Der Tagesspiegel, 30. Dezember 2005
Thomas Oberender / Moritz von Uslar
100 Fragen an Heiner Müller
Eine deutsche Séance
Personen: Mindestens sieben, unterschiedlichen Alters, darunter eine Frau. Alle sehen aus wie Heiner Müller. Jeder ist sowohl Fragender als auch Antwortender. Ablauf: Die Darsteller können, müssen aber nicht, nacheinander erscheinen, bzw. abtreten. Sie können sich aus der Gruppensituation lösen und separate Zwiegespräche führen. Einzelne Passagen können kollektiv gesprochen werden, siehe Vorschläge. Fragen, die nicht beantwortet werden, sollten dennoch Zeit bekommen. Die beschreibenden Passagen (Ich sehe ihn…) markieren Momente, in denen sich in einem der Anwesenden der Andere zeigt. Die Situation: An einem großen Tisch, zwischen Leichenschmaus, Auditing, Raucherlounge. Im Hintergrund die Räume einer Neubauwohnung, die man nicht sieht.
1
– Ihren Ausweis, bitte!
– Warum?
– Brauche ich nicht mehr.
– Das habe ich ja ganz anders geträumt.
– Irgendwo tätowiert?
– Nein. Ich gehöre doch zum Volk der Täter.
– Das Datum und die Uhrzeit, an denen Ihr Vater von SA-Männern geschlagen und abgeholt worden ist?
– Jetzt wird man auch noch examiniert.
– Ihre Körpertemperatur?
– Minus 37 Grad.
– 32 Grad. Angenehm verlangsamt.
– Naja, unterkühlt.
– Wenn ich das wüßte.
– Immer zu warm. Immer leichtes Fieber.
– Das kann ich ja nun nicht wissen, also, regulär, 37 medizinisch betrachtet. Anders gesehen immer über 100.
– Mit welchen Worten beginnt die 1961 gemeinsam mit Helene Weigel verfasste Selbstkritik, mit der Sie nach der Absetzung Ihres Stück «Die Umsiedlerin» Ihrer Inhaftierung in ein DDR-Gefängnis zuvorkamen?
– Ich bekenne, ich habe geirrt. Sowohl in meiner Einschätzung der Lage sowie auch im Hinblick auf diejenigen – sorry, darf ich zwei Sekunden überlegen? Sowohl in der Einschätzung der Situation, wie auch in der Einschätzung der Leute, die das Stück zuerst gesehen haben.
– Das war so unangenehm! Zur Weigel hinzugehen, das war eigentlich ein Sakrileg.
– Ich hätte schreiben müssen: Ihr Idioten. Sie wissen, dass es eine zweite Fassung dieser Selbstkritik gibt. Im Archiv. Ist noch nicht veröffentlicht.
– Nennen Sie drei alte Mitstreiter, die in hundert Metern Umkreis von Ihnen begraben liegen!
– Thomas Brasch, Eisler, Hermlin.
– Mitstreiter ist gut. Hans Joachim Bunge. Wolfgang Heise. Dessau.
– Brasch. Mickel und Brecht.
– Das fällt leicht, finde ich aber auch eine Zumutung als Frage. Ich sage eiskalt: Brecht, Hegel, Fichte.
– Hegel, Hermlin und auf dem Damm von meinem Grab ein paar Bombenopfer.
– Seghers. Weißkopf. Und Besson. Nee. Doch ja, stimmt. Sagen wir mal: Becher. Becher ist echt besser. Becher war ein Intimfeind.
2
– Glück gehabt, dass Sie nicht Heinz Müller heißen?
– Es gibt ja einen Heinz Müller. Der war in Bulgarien ein hoher SS-Offizier und Kriegsverbrecher. Und als ich mal nach Bulgarien fuhr, wurde ich kurzzeitig verhaftet, weil man mich für Heinz Müller hielt. Den SS-Offizier.
– Ja. Und auch Glück gehabt, dass ich nicht Wolfgang Müller heiße. So heißt mein Bruder.
– Schicksal.
– Eher kein Glück. Heiner fand er nicht ganz so schlimm wie Raimund, was sein zweiter Name ist, und der ist nun echt völlig daneben. Ich glaube, er hätte lieber Heinz geheißen.
– Von einem fremden Mann gestellt, hätte er diese Frage nicht an sich rankommen lassen. Einem Vertrauten hätte er gesagt: Ich heiße Heinz Müller, klar. Die Antwort lautet also: Ich heiße Heinz Müller. Der Heinze.
– Ein Märchen aus Ihrer Kindheit, das immer anders enden mußte?
– An Märchen erinnere ich mich nicht. Ich erinnere mich nur an diese Geschichten von dem Männlein. Das war eine mythische Figur in Sachsen auf dem Land, die Häuser angezündet, Leute umgebracht oder in den Wahnsinn getrieben hat. Geschichten, die man sich so erzählt hat.
– Da gibt es was, aber, ich will was erfinden, warte: Hans im Glück. Dass der Schleifstein am Ende sich als ein Kunstwerk herausstellt, das genauso viel wert ist, wie der Goldklumpen. Oder besser: das unendlich viel mehr wert ist als der Goldklumpen.
– Sind Sie die Kriegsgeneration?
– Ihre Grunderfahrung mit der Armut?
– Ein Reclamheft, das Sie mit knurrendem Magen gelesen haben?
– Der tollste Freiheitsrausch in Ihrem Lieblingsjahr 1945?
– Nuja, das war, als ich endlich allein durch Mecklenburg laufen konnte, weg von der Hitlerjugend, und endlich auch diesen Idioten los war, der mir immer hinterher lief. Hühnergesicht. Den habe ich wahrscheinlich umgebracht. Ein sehr penetranter, bedauernswerter Mensch, eine Klette. Einer, der einem eigentlich hätte leidtun können, für den ich aber keine Liebe empfinden konnte. Hühnergesicht. Einer von den ewig Zukurzgekommenen, von denen man weiß, dass sie, wenn sie mal Macht bekommen, bösartig werden. So einer. Den war ich dann endlich los. Frei, im Frühjahr 1945.
– Die Saufereien in den übrig gebliebenen Eckkneipen, wo die übrig gebliebenen Berliner alles hinter sich und nichts vor sich hatten und deswegen jeder Abend so schön war wie der letzte und der nächste.
– Die Erschießung von Hühnergesicht.
– Das erste massive Besäufnis mit meinem Schulfreund Herbert Richter.
– Ich sehe ihn: Die Uhr trug er immer an der rechten Hand. Er trug das Zifferblatt nach unten, das waren immer so kurze, flinke Bewegungen, wenn er auf die Uhr guckte. Dieser Blick hatte etwas Privates.
– Ich neige immer nach links. Ob von der Hand, der Hirnhälfte oder dem Herzen. Aber inzwischen weiß ich nicht mehr, wo das ist: links. Es ist eine Anmaßung zu wissen, wo heute noch links ist. Das funktioniert nicht mehr. Links – das ist heute eher Afrika oder Asien. Eine andere Welt, aber die interessiert sich nicht für unsere Begriffe von rechts und links. Meine Erfahrung als Linkshänder: Stumme Hand und stumme Gehirnhälfte. Links als Denkrichtung – das ist mir nahe, wenn man etwas bewegen will, aber dahinter zurückbleibt. Ich schäme mich und bringe es nicht leicht über die Lippen zu sagen: Ich bin links. Mittlerweile finde ich es auch lächerlich, wenn das als Haltung von der Bühne kommt – man sich da spreizt und eine pathologische Pose einnimmt. Das ist nur noch linkisch.
– Ihre Erfahrung als Linkshänder?
– Sich mit der rechten Hand nicht den Hintern abwischen zu können.
– Wir haben in Berlin ein Interview gemacht. Heiner war müde und ihm fiel nicht viel ein. Er wollte sich dann mit einem Pantherfeuerzeug eine Zigarette anzuzünden. Im Interview passierte nichts. Plötzlich stand seine Hand in Flammen, seine linke Hand, weil er, als er mit dem Feuerzeug hantiert hat, sich das Benzin über die Hand gekippt hatte. Plötzlich stand da seine Pfote in Flammen. Eine merkwürdige Konstellation – diese brennende Hand und die Lethargie davor.
– Ihre Erfahrung als Linkshänder?
– Mein Vater hat mir das Schreiben beigebracht. Ohne Druck. Beidhändig. Ich kann flüssig spiegelverkehrt schreiben. Das konnte ich von frühauf. Alle Linkshänder können das. Spiegelschrift ist wie eine Geheimschrift. Aber ich konnte sie selber nicht lesen. Ich musste das Blatt umdrehen und gegen die Lampe halten, um meine eigene Schrift lesen zu können.
– Es gibt eine Doktorarbeit von einem Kolumnisten der Welt über meine Hände, mit vielen Fotos. Ich selbst habe dieses Thema vollkommen vernächlässigt, und kann nur trivial antworten: Meine Hände sind Außenseiter.
– Eine verschüttete Erinnerung, bitte!
– Inge Müller.
– Ich sehe ihn: Er steht auf dem Balkon seiner Wohnung im vierzehnten Stock der Neubausiedlung am Tierpark in Friedrichsfelde, Ostberlin. Die Zigarre in der linken Hand, unter ihm eine Kaufhalle, Parkplätze, Grünflächen zwischen Straßen. Er stützt sich mit dem rechten Ellenbogen auf den breiten Rand des Betongeländers, die Finger der linken Hand tippen im Rhythmus einer inneren Melodie oder Ungeduld auf den Beton, und schieben, in einer mechanischen Geste, die schwere Brille, die Zigarre dabei mit gestreckten Fingern von sich haltend, mit einem Rutsch über den Nasenrücken hinauf zur Wurzel. Auf dem Balkon steht ein Wäscheständer, dahinter, unter dem Fenster, zwei Sessel. Er schaut in die Tiefe, auf die Betonplatten der menschenleeren Gehwege; zwischen den Autos laufen zwei Polizisten mit Fellmützen auf dem Kopf Streife, die Hände im Rücken verschränkt. Vom 14. Stock aus wirken die Passanten ameisenklein, das Land dreckig. Ich sehe ihn rauchen. Ein diesiger Tag.
– Eine verschüttete Erinnerung, bitte!
– Paradoxe Frage. Mein verlorenes Gedächtnis? Wie soll ich das beantworten?
– Verschüttete Erinnerung? Habe ich keine.
– Es gab mal ein Gelage mit russischen Soldaten, 1946, irgendwo, und da hat ein Soldat Müller eine in die Schnauze gehauen, ohne Ansage, einfach so, grundlos – vielleicht ist auch nur durch den Alkoholkonsum unklar, woher dieser Impuls kam, denn es gab zuvor keine verbale Auseinandersetzung. Fakt ist, dass dieser Soldat Müller eine reingehauen hat, ganz plötzlich, ansatzlos, einfach so. Diese Erfahrung von Gewalt, so unsinnig sie ist, hat ihn bis kurz vor seinen Tod beschäftigt.
– Ja. Wie war das? Das war eine Fahrt von Potsdam nach Berlin, im Sputnik, so hieß die Bahn. Als mir das erste Mal der Gedanke kam, dass ich im Osten eigentlich nichts mehr zu verlieren hatte. Das war 1968. Die sind mit meinen Arbeiten richtig beleidigend umgegangen. Richtig beleidigend.
– Verschüttet war die Erinnerung, dass und wie oft ich mich getroffen habe mit den Leuten von der Staatssicherheit. Selbst für die erste Ausgabe meiner Memoiren ist mir das – obwohl mich drei Leute systematisch befragt haben – einfach nicht eingefallen.
– DA würde man jetzt gerne nachfragen. Geht aber nicht.
– Jetzt würde man gerne mehr hören, aber – SORRY.
– Nachfragen ist verboten. Nachfragen mit Höchststrafe geahndet.
– An dem Tag, an dem Inge Müller starb, standen die Katzen, die sie und ich vorher nach Schildow gegeben haben, nachts vor meiner Tür. Das habe ich noch niemandem erzählt.
– Eine verschüttete Erinnerung ist die höchst peinliche Geschichte mit der Kusine. Es gibt ein Gedicht, in dem die eine Rolle spielt. Weil sie Heiners Lieblingsholzpferd nahm und hinter ihrem Rücken meuchelte. Sie machte nicht nur das. Sie hat ihm zweimal in die Schuhe gepinkelt. Die Kusine.
– Es gibt keine verschütteten Erinnerungen, das ist mein Problem, das ist sein Problem. Das ist das Elende im Dasein eines Menschen wie Heiner Müller, dass er selbst bei größtem Bemühen keine Erinnerung vergessen kann, zumindest kein Trauma. Ging nicht. Er hat lange geglaubt, seine Schmerzen und sein schlechter Zustand wären auf die Nebenwirkung der Chemotherapie zurückzuführen. Als die Ärzte ihm gesagt haben, nein, das, was Sie jetzt leiden, hat nichts mit Nebenwirkungen zu tun, da sah er in den Augen der Ärzte, dass es vorbei war. Er war dann ja noch mal, nach dieser Nachricht, in München und wollte, dass ich ihn da besuche. Ich bin aber nicht hingefahren, weil ich Angst hatte, ihn anzustecken. Deshalb habe ich ihn zwei Tage vor dem Tod besuchen dürfen, da war ich immer noch erkältet. Und ich mache mir immer noch Vorwürfe, denn er ist ja an Lungenentzündung gestorben. Aber keine ernsthaften Vorwürfe, denn bei der Krankheit stirbt man oft an Lungenentzündung. Wir haben uns verabschiedet mit Händedruck, mit der festen Zuversicht, dass wir uns noch mal wiedersehen. Zwei Tage später kam der Anruf, er sei tot.
(…)
Hörspielfassung und Regie: Johannes Mayr, Musik: Jörg Köppl
Produktion Schweizer Radio DRS, 2008, Dauer: 60’, 12. Dezember 2005
Theater der Zeit, 12/2005
(c) Barbara Köppe