«Im Glitch den Vorhang öffnen»
Die Regisseurin Susanne Kennedy macht das Betriebssystem unseres digitalen Zeitalters erfahrbar
von Thomas Oberender
Susanne Kennedy ist für mich die bislang wichtigste Theaterregisseurin des digitalen Zeitalters. Ich sage das nicht, weil ihre Aufführungen durch den Einsatz von Beamern, Soundsystemen oder eine Vorliebe für industrielle Kunststoff- und Medienprodukte geprägt sind, zu denen auch ein bestimmter Look von Discountermode, Interieurs aus Baumarktbaustoffen oder typisierten Serienfiguren zählt. Sie interessiert sich zwar für neue Medien, aber mehr noch für den neuen Modus, wie wir die Welt und uns selbst betrachten, den die neuen Technologien hervorbringen. Durch sie wird unser Verständnis vom Körper, von Wirklichkeit oder Narration völlig verändert, hybrider, da von mindestens zwei Wirklichkeiten gleichzeitig geprägt – der physischen und virtuellen. Diesen technologischen Übergang, der gleichzeitig, da wir an das Behaustsein in unseren Körpern gebunden sind, ein spiritueller ist, erforscht Susanne Kennedy seit vielen Jahren. Wie auch den Tod, der eine Art Passage zwischen der physischen und immateriellen Welt darstellt. Sie nutzt daher das Theater, um die Erfahrung von Sterblichkeit unter den Vorzeichen einer transhumanen Kultur neu zu betrachten. In diesem Sinne stehen Kennedys Aufführungen dem Theater Artauds näher als dem von Stanislawski, schaffen sie eher Raum und Ritual als Story und figürliche Einfühlung. Sie liebt das Alien im Menschen. Der Theaterraum, vom Saal bis zur Bühne, ist in ihren Aufführungen ein Maschinenraum, der durch die Manipulierbarkeit von Raum und Zeit andere Ansichten und Zustände der Realität erzeugt, Ansichten, die dafür das Theater und nicht nur den Körper des Schauspielers im wahrsten Sinne als Medium begreifen – als das den Durchschein Verkörpernde, wie es Botho Strauß einmal sagte.
Dabei gibt sich weniger die Regisseurin zu erkennen, als das «Betriebssystem» dieser Maschine, die das lineare Geschehen der Geschichten oft in Sequenzen zerlegt, durch schockierend willkürliche Blacks trennt. Dieses Betriebssystem macht knisternde, surrende Frequenzen hörbar oder spricht, wie in ihrer Aufführung von «Drei Schwestern» (Münchner Kammerspiele 2019) gelegentlich als eine körperlose Stimme aus dem Off über das Stück; es philosophiert über die Charaktere, die Situation und wird als Macht erfahrbar, die das, was die Zuschauenden vom Stück im Bühnenportal sehen, ständig neu faltet, anders figuriert und aus dem Nichts hervortreten lässt. Es ist in Kennedys Stücken zunehmend so, als würde ein Geist das Haus des Theaters bewohnen, der zu einer anderen Welt zählt, die chaotisch, endlos, allumfassend, strahlend und finster ist. Dieser Geist ist in Kennedys Münchner Tschechow-Transformation umgeben vom infernalischen Lärm riesiger Antriebe, vom Gewimmer eingesperrter Seelen. Aus dem finsteren Saal greift diese Macht in die Apparaturen des Theaters und zeigt im Portal den wahren Zustand der Welt. Sie zeigt sie als kaleidoskopisch im Lichtraum ausgestellte Ordnung von Dingen, die jedes Schütteln des Apparats neu strukturiert.
(…)
Auch diese Überblendung von digitaler Kultur mit der Spiritualität nativer Kulturen und philosophischer Literatur von Nietzsche über das «Tibetanische Totenbuch» bis zu James P. Carse Buch über endliche und unendliche Spiele zählt zu den Eigenarten von Kennedys Kunst. Jeder technologische Wandel war in seiner Pionierphase mit einem Traum von wahrer Begegnung, Auflösung und Transzendenz verbunden, den Susanne Kennedy wieder freilegt und in ihre Aufführungen einspeist. In ihnen erscheinen verschiedene Realitäten, spirituelle, geträumte, gestrige und zukünftige parallel, in «Faltungen», wie sie es selbst nennt. Insofern tendieren die Inszenierungen von Susanne Kennedy immer öfter zur Schaffung von «Landschaften», von komplexen, oft begehbaren Orten, in denen die Gäste den Geschehnissen nicht gegenüberstehen, sondern subtil und oft auch physisch direkt einbezogen werden. Kennedys künstlerischer Werdegang weist also in die Richtung szenischer Ökologien, die nicht mehr dialektisch funktionieren, nicht mehr auf Konflikten beruhen, sondern das Theater als einen Ort der Wanderschaft verstehen, der Gleichzeitigkeit vieler Möglichkeiten von Recht und Dasein. Das gesamte Theater wird hier als ein Inkubator verstanden, als der Ort, der durch ein zweitausend Jahre altes Knowhow wie kein anderes Medium auf Erden so versiert darin ist, die Relativität von Raum und Zeit spürbar zu machen, im Glitch die Matrix zu zeigen, die unser Bild von «Realität» erzeugt.
Nicht von ungefähr erinnern die Aufführungen von Susanne Kennedy an die opulenten Gesamtkunstwerke der Kun-Oper, deren kodifizierten Gesten und Gleichgültigkeit gegenüber der Individualität der Spielenden. In der Welt des europäischen Sprechtheaters erzeugt Susanne Kennedy «Futureoperas», die auf ähnlich rigorose Weise unsere Fixierung auf die Individualität des Einzelnen auflösen und ihn in ein größeres Spiel einordnen, eines, das den Apparat des Theaters als Reaktor braucht, in dessen Bauch die Besucher sitzen – fasziniert und ängstlich zugleich, wenn sie im Black zwischen den Szenen erahnen, in was sie da hineingeraten sind, mit ihrem Leben, ihrem Hier und Jetzt, das, wie die kurzen Bilder im White Cube von Kennedys Bühne, das Produkt so vieler anderer Kräfte ist als nur ihrer eigenen. Wie die Heiden stehen sie vor und in diesem spirituellen Raum, das Schwarz des Blacks ist das Schwarz des Alls, der Zeitlosigkeit, die Grundfarbe des Theaters.