«RePast – Revisiting the Past, Anticipating the Future»
Interview mit Lenoard Pelz, 16. Juni 2019
Leonard Pelz: Welchen Stellenwert hat eine Institution wie die Berliner Festspiele Ihrer Meinung nach in der deutschen Erinnerungslandschaft?
Thomas Oberender: Als Institution haben wir keine Sammlung in unserer Ausstellungshalle und kein Ensemble, das einem Kanon verpflichtet wäre in unserem Theaterhaus. Die Festspiele arbeiten erinnerungspolitisch immer nur anlassbezogen, nicht strukturell.
Gibt es so etwas wie eine Philosophie oder ein Leitbild der Erinnerung für die Berliner Festspiele? Wenn ja: Wie würden Sie diese Philosophie oder dieses Leitbild beschreiben?
Für die Berliner Festspiele ist «Erinnerung» kein primäres Aufgabenfeld. Indirekt prägt sie unsere Arbeit allerdings sehr stark, da wir bestimmten Spuren in der Kunstgeschichte verpflichtet sind, insofern sie durch aktuelle Fragestellungen eine Neubetrachtung oder frische Wertschätzung erfordern oder nahelegen. Es unsere Aufgabe, die Diversität unserer Kultur zu achten und zu mehren, wozu die Wachsamkeit gegenüber marginalisierten, verdrängten oder abseitig scheinenden künstlerischen oder philosophischen Positionen, Stilen oder Praxen der Vergangenheit zählt. Unsere Philosophie ist: Die Zusammensetzung dessen, was man den «kulturellen Schatz» unserer Zeit ist, zu mehren - das meint auch Positionen der Vergangenheit zu achten und als «wertvoll» zu betrachten, die gemeinhin als trivial oder «niedrig» empfunden werden.
Wie grenzen sich die Berliner Festspiele mit dieser Philosophie von anderen Institutionen ab, die im selben Bereich tätig sind?
Wir formulieren aktuelle Fragestellungen und widmen ihnen eigene Formate (Immersion, Long Now, Thinking Together, Shifting Perspectives), die den Blick in die Geschichte und Gegenwart thematisch fokussieren.
Und wann und wo orientieren Sie sich an den Kollegen*Innen oder anderen Einrichtungen die Ebenfalls im Bereich der Erinnerungskultur tätig sind?
Wie gesagt, die Festspiele sind nicht direkt in der «Erinnerungskultur» tätig wie etwa die Topografie des Terrors oder die Stasigedenkstätte oder das Deutsche Theater.
Welches sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Projekte mit einem erinnerungskulturellen Kontext , die die Berliner Festspiele in jüngerer Vergangenheit realisiert haben?
Das war sicher der «Palast der Republik» - ein dreitägiges Festival anläßlich des dreißigsten Jubiläums der Maueröffnung.
Können Sie sich auch an Projekte/Ausstellungen/Veranstaltungen erinnern, die öffentlich in Kritik geraten sind oder gar nicht erst bewilligt wurden?
Die Berliner Festspiele waren der Veranstalter des Projekts «DAU» des russischen Regisseurs Ilya Khryzhanovski. Zu dem Projekt zählte die temporäre Wiedererrichtung der Berliner Mauer als Kunstprojekt in einem Areal rund um die Berliner Staatsoper. Dieses Projekt ist am inhaltlichen Wiederstand der Berliner Bezirsverwaltung Mitte und der gezielten Verhinderungs-Kampagne des Berliner Tagesspiegel gescheitert.
Wenn Geld keine Rolle spielen würde, welche Projekte würden Sie gerne noch realisieren?
DAU von Ilya Khryshanovski. Es ist ein Projekt über 30 Jahre Sowjetgeschichte, das zugleich eine Filmpremiere wie auch eine große Kunstaktion ist, die für eine kurze Zeit eine Stadt in der Stadt errichtet, in der sich künstlerische Fiktion, Geschichtserfahrung und die Realität eines Stadtviertels durchdringen sollen.
An wen richtet sich Ihre Arbeit? Haben Sie eine bestimmte Zielgruppe vor Augen?
Jedes unserer Festivals hat eine andere Zielgruppe. Es gibt einige Überschneidungen, die unsere Marketingabteilung direkt mit den Programmverantwortlichen bespricht.
Nun würde ich gern überleiten zum Thema «Erinnerungskultur in Deutschland». Was fällt Ihnen dazu spontan als erstes ein?
Bernd Höcke, AfD.
Was sind Ihrer Meinung nach die größten und wichtigsten Themen?
Die größte Herausforderung unseres Landes ist sicher die fortwährende Arbeit an einer Identität ihrer Bürger, die nicht identitär ist - wie kann ich Deutscher sein, ohne es an Attribute wie christlich, deutschsprachig, weiß zu knüpfen. Es geht um eine neue Erfahrung von Heimatgefühl, das konkret in einem Territorium verwurzelt ist, aber nicht auf Blut und Boden-Ideen hinauslaufen sollte. Auf einer höheren Ebene geht es um ein europäisches Bewußtsein, das mit unserer Verbindung zur Erde verbunden ist - der Verwurzelung in konkreten Landschaften, begleitet von einem planetarischen Bewußtsein der Verletzlichkeit der Erde, des Klimas, der Ressourcen. Das auch erinnerungspolitisch neu zu formulieren ist eine große Aufgabe.
Was sind die Besonderheiten der deutschen Erinnerungskultur?
Die Besonderheit der deutschen Erinnerungskultur ist ihre Verknüpfung mit dem starken Gefühl der Scham. Das führt zu einer Verkürzung unserer erinnerten Geschichtsspanne auf die Machtergreifung Hitlers, weiter zurück reicht wenig. Der Genozid der Deutschen als Kolonialherren an den Hereros ist bis heute nicht der gefühlte Teil unserer eigenen Geschichte, was auch die mühsame Restitutionsdebatte zeigt.
Und was fehlt? Wen oder was vermissen Sie am meisten im öffentlichen Erinnerungsdiskurs?
Erinnerung bei den Deutschen heißt heute noch oft Erinnerung an Schuld. Es fehlt eine Erinnerungspolitik, die heute z.B. an die Geschichte der deutschen Sozialpolitik und -Ethik erinnert, an die deutsche Tradition der Solidarverpflichtung und Verantwortung des Staates, die deutlich anders, auch rebellischer ist als die vergleichbaren Positionen in der angelsächsischen Tradition. Es geht um einen Tiefenbezug ins Historische, der andere Qualitäten entdeckt und populärisiert, für die die Deutschen in der Geschichte schon mal berühmt waren - das wäre etwas anderes als die Geschichte der Dichter und Denker, die zu Richtern und Henkern wurden. Aber auch etwas anderes als die «Erinnerungspolitische Wende», von der Herr Höcke spricht.
Laut einer aktuellen Studie des Allensbach-Instituts empfinden viele Bürgerinnen und Bürger die deutsche Erinnerungskultur als Tabuzone. Was denken Sie: Gibt es Tabus? Worüber darf nicht gesprochen werden?
Die Geschichte der Mauer darf tendenziell nur von den Opfern der Mauer verkörpert werden - alles andere ist nahezu ein Tabu. Die Relativierung des Holocaust ist hingegen zurecht ein Tabu. Ich glaube, in Deutschland ist auch die Unterstützung des BDS ein Tabu.
Oft wird gesagt, dass die Erinnerungskultur vom Nationalsozialismus dominiert wird. Stimmen Sie zu, dass die DDR-Erinnerung zu kurz kommt?
Nicht nur die Erinnerung an die DDR kommt zu kurz. Sie wird vor allem von der Perspektive des Westens dominiert, der in der DDR-Geschichte in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung nur eine Opfer- und Tätergeschichte gesehen hat. Fast vollkommen ausgeblendet bleibt die Erinnerung an die Revolution von 1989. Ich kenne - außer der Stasigedenkstätte in Erfurt - keine Gedenkstätte für diese Revolution, keine Straße, die nach Bärbel Bohley oder Jürgen Fuchs benannt worden wäre.
Wo sehen Sie momentanen die größten Herausforderungen in der Erinnerungsarbeit in Deutschland?
Dass sie keine Arbeit ist.
Es heißt, dass Erinnerungskultur auch immer das Ergebnis von Kämpfen um die historische Wahrheit ist. Wer sind Ihrer Meinung nach derzeit die wichtigsten Akteure und Gegenspieler auf diesem Kampfplatz um die historische Wahrheit?
Unsere Vorstellung muss sich insofern wandeln, als es «die historische Wahrheit» nicht gibt - sie ist kein Produkt, sondern eine «Ballung» von Positionen, die sich verdichten und wieder auflösen, ständig im Fluss sind und nie zu zitieren sein sollten, ohne dass der Autor des Zitats sich zu erkennen gibt. Was ist die eigene Position in der geschichtsphilosophischen Diskussion? Wenn das bekannt ist, wird klar, wo der Kampfplatz ist und wer die Akteure sind, die immer «nur» für partikulare Themen und Milieus sprechen.
Wer hat Ihrer Meinung nach den Erinnerungsdiskurs in Deutschland am nachhaltigsten geprägt?
Hitler.
Und wer darf nicht zu Wort kommen?
Jeder darf und muss zu Wort kommen, der sich an die verfassungsrechtlichen Spielregeln hält. Volksverhetzer und Holocaust-Leugner gehören vor Gericht.
In Deutschland war Erinnerungsarbeit ja lange Zeit ein zentrales Thema der Zivilgesellschaft – vor allem mit Blick auf die Aufarbeitung des Dritten Reichs. Würden Sie zustimmen, dass die Initiative heute eher von der Politik ausgeht?
Ich denke da vor allem an die Künste, die weder dem Feld der Politik zugehören, noch der Zivilgesellschaft im Sinne «unprofessionalisierter» Akteure. Die Fernsehserie «Shoa» oder Filme wie «Schindlers Liste» oder «Das Leben ist schön» haben erinnerungspolitisch weltweit wahrscheinlich mehr bewegt an Diskurs und Erfahrung als die meisten Schulbücher. Auch Bilder wie Gerhard Richters «Onkel Rudi» sind international betrachtet sehr wirkungsvoll.
Erinnerung hat ja auch immer mit Legitimation zu tun. Wenn Sie die Interessen von Politik, Zivilgesellschaft und Bevölkerung in der aktuellen Gedächtnis- und Erinnerungsarbeit beschreiben müssten, wie würden Sie das tun?
Ich weiß nicht, ob ich solch pauschalisierende Kategorien wie «Bevölkerung» oder «die Politik» verwenden würde - eher nicht. Es gibt zwischen verschiedenen Akteuren einen Kampf, den ich als einen zwischen Vertretern des 20. und solchen des 21. Jahrhunderts empfinde. Das 20. Jahrhundert konstruierte Identität «identitär» und seine Erinnerungspolitik ist insofern auch ans Christentum, die deutsche Kultur, Sprache und Folklore gebunden. Deren Medium sind klassische Institutionen, die sich noch als «Sendeanstalten» begreifen. Die anderen Akteure argumentieren kosmopolitisch und sind in der digitalen Kultur angekommen - sie reden nicht vom Publikum, sondern von Publika, sie reden nicht von Kultur sondern Kulturen, keiner Kunst für alle sondern Kunst von allen und setzen auf Feedback und Aushandlung.
Und jetzt mal vom Ideal ausgehend: Welche Rolle sollten Ihrer Meinung nach Politik, Zivilgesellschaft und Bevölkerung spielen?
Ich kann wie gesagt in diesen Kategorien keine Antwort geben.
Wenn Sie die Erinnerungskultur von dem Zeitpunkt Ihres Eintritts in den Beruf – mit der von heute vergleichen müssten: Wie würden Sie das machen?
Von welcher Erinnerungskultur sprechen Sie? Der Ostdeutschen? Der Holocaustüberlbenden? Des Ruhgebiets, bzw. der Bergarbeiter? Eines Fussballvereins? Der Denkmalschützer? Ich würde also erstmal genau herausbekommen wollen, wer die Akteure sind. Geht es um jüdische Mitbürger mit ihren rituellen Erinnerungsfesten? Um die Erinnerung in Bayreuth? Um Kurden in Köln? Um Neonazis, die den Geburtstag Adolf Hitlers feiern? Wenn ich solche Praktiken identifiziert habe, würde ich schauen, ob sie sich eher als solche des 20. oder des 21. Jahrhunderts vollziehen - was natürlich metaphorisch gemeint ist, denn der Vergleich würde sich auf die dahinter liegenden Weltbilder und kommunikativen Strategien beziehen.
Laut Aleida Assmann sind die Deutschen «Weltmeister im Erinnern». Und auch in vielen Ländern Europas wird der Umgang der Deutschen mit ihrer Vergangenheit als positiv wahrgenommen. Finden Sie, das Ausland hat recht?
Dem Gedanken von den Deutschen als «Weltmeister des Erinnerns» liegt ja auch eine Kritik inne - es geht darum, wieder die besten, die Überlegenen, die Akteure von absoluter Dominanz zu sein, diesmal auf dem Feld des Erinnerns, wo man kurz zuvor noch Täter war. Wenn man diese leise Mahnung, Bescheiden zu bleiben und man die dunklen Aspekte dieses Lichtbringeraktivismus‘ im Hinterkopf hat, würde ich schon sagen, dass die Deutschen - auch im Entsetzen der nächsten Generation über die Verbrechen der Nazi-Generation - eine sehr einflussreiche Erinnerungskultur an die Verbrechen des 3. Reiches geschaffen haben. Sie überdeckt so ziemlich alle anderen Zeitebenen der deutschen Geschichte, aber ich denke, dass das für unser Land eine große Berechtigung hat und das Holocaust-Mahnmal in Berlin ist eine Tat, die den Schmerz über die eigenen Verbrechen und Leiden der Opfer so im Herzen und Zentrum der Gesellschaft wachhält, dass dies nie mehr ignoriert werden kann. Aus dem Ausland kommend ist es wahrscheinlich besonders auffällig, dass die Deutschen eine dezentralen Mahnmalkultur und verschiedenen Erinnerungsritualen Ausdruck entwickelt haben, die eindrucksvoll ist.
Was können Ihrer Meinung nach die anderen Länder in Europa von den Deutschen lernen?
Dass die Deutschen langsam anfangen, etwas von anderen Ländern in der Welt zu lernen. Siehe die von Felwine Sarr und Bénédicte Savoy angestoßene Erinnerungs-Debatte, in der es darum geht, dass Objekte für andere Völker andere Bedeutungen haben, also nicht «tote» Kunstobjekte sind, sondern lebendige Ritualgegenstände, so dass die einstigen Eigentümer sie anders verstehen und benutzen als wir, die sie ins Museum stellen. Wir können in diesem Zusammenhang von Frankreich und der Regierung Macron zum Beispiel auch eine andere Dynamik in der Frage der Restituierung geraubten Kulturgutes lernen.
Der Historiker Michael Wolffsohn hat einmal gesagt: «Das Gedenken geht an der Bevölkerung vorbei». Würden Sie dem zustimmen?
Wer ist die «Bevölkerung» und was ist «das» Gedenken? Das über den Holocaust? «Der Tag der Deutschen Einheit»? Wie gesagt - ich bemerke, dass in den Sozialwissenschaften zum Beispiel angefangen wird, die Geschichte der deutschen Soziallehre neu zu erforschen und vielleicht wird daraus einmal eine andere Art von Gedenken, die sich an die deutschen Einwanderer in den USA erinnert, die immer die Unruhe mitgebracht haben, den Hang sich zu organisieren, Gewerkschaften zu gründen und um ihre Rechte zu kämpfen. «Das» Gedenken, das Sie bei Wolffsohn zitieren, meint sicher das an den Holocaust, wie es viele Akteure gemeinsam prägen und das in seiner Thematik dominiert wird von der Shoa. Ich glaube, dass es immer noch vergleichsweise viele Menschen erreicht, wenn es auch für unser Land nicht die fast schon staatstragende Rolle spielt wie in Israel.
Welche Rolle spielt Ihrer Meinung nach die pädagogische Bildungsarbeit in diesem «Erinnerungsverdruss»?
Ich denke, dass sich pädagogische Arbeit auch verändert. Auch hier schwindet das autoritäre Verhalten. Kinder und Jugendliche lernen auf YouTube anders und selbstständig und dort haben sie keinen Verdruss, selbst wenn sie sich mit den schwierigsten Themen beschäftigen. Aber sie machen es eben auf eine Weise, die sie nicht «von oben» anspricht und zu einer Zeit, die sie selbst suchen können.
Zugleich liest man immer wieder, dass Deutschland seit einigen Jahren einen regelrechten «Erinnerungsboom» erlebt. Wie passt das zu Wolffsohns Aussage?
Damit kenne ich mich nicht aus. Man? Wer? Wo? Boom welcher Erinnerung?
Es gibt ja Leute, die sagen, dass wir in Deutschland zwei Erinnerungskulturen haben: eine ostdeutsche und eine westdeutsche. Wie sehen Sie das?
Das stimmt. Sie wird westdeutsch und ganz allgemein westlich dominiert. In der DDR wurde sie staatssozialistisch und sowjetisch dominiert. Die westdeutsche Dominanz betrifft aber auch - als eine weiß, männlich und deutsch geprägte Kultur - die parallel stattfindenden Erinnerungsformen anderer kultureller Milieus und Communities, seien es die der people of color, Türken, Kurden, Russen usw.
Welcher Zusammenhang besteht zwischen der Erinnerungskultur und dem Rechtsruck in Ostdeutschland? Beziehungsweise: Gibt es Ihrer Meinung nach einen solchen Zusammenhang?
Ja, ich sehe da einen Zusammenhang. Er ist wunderbar in dem Buch «Zonen des Übergangs» von Boris Buden beschrieben. Es gab ja zwei Revolutionen - die von 1989 im Osten, und danach die neoliberale Revolution, die in Ostdeutschland stark mit der Treuhand, in einem allgemeineren Sinne aber auch mit einer «Treuhand des Geistes» assoziiert wird und die emanzipativen Leistungen der Ostdeutschen in der Wende durch durch die anschließende Kahlschlagpolitik in ein Gefühl der Wehr- und Nutzlosigkeit verwandelt haben. So blieb bei den Akteuren, die gerade noch eine Diktatur gestürzt hatten, statt Stolz plötzlich das Gefühl zurück, ewig zum Nachholen verdammt zu sein und die Demokratie erst noch lernen zu müssen - das führte, in der Summe sehr viel weiterer Elemente, zu einer enormen Bitternis und politischem Ressentiment. Aber der Rechtsruck ist ein europäisches Phänomen - er ist das Ergebnis eines im Westen nach 1989 ganz allgemein aufkommenden Verlustgefühls, das durch die sich verschärfende Soziale Frage bedingt ist, wie sie durch dreißig Jahre Neoliberalismus entstand. In Osteuropa und der ehemaligen DDR ist diese Ankunft auf der entwerteten Seite der Geschichte nur besonders unabgefedert und allumfassend gewesen.
Stichwort: «Wohin treibt die DDR-Erinnerung?» – haben Martin Sabrow und Kollegen einmal gefragt (Sabrow et al. 2007). Was meinen Sie, wohin treibt sie?
Die DDR-Erinnerung wird sich immer mehr ablösen von den Menschen, die die DDR selbst noch erlebt haben. Die Perspektive auf die DDR-Forschung wird immer internationaler werden - schon heute sind, leider, die meisten Forscher und Forscherinnen z.B. zur Geschichte der DDR-Kunst und Literatur und Architektur nicht von deutschen Hochschulen und Universitäten. Auf Twitter gibt es immer mehr englischsprachige Kanäle, die sich mit DDR-Geschichte beschäftigen, weil sie so schön abgeschlossen ist. Das macht sie auch für diverse Sammler attraktiv. Die DDR-Erinnerung, was immer «die» jetzt meinen soll, wird jedenfalls zunehmend von zeitgenössischen, internationalen, modischen, blasenhaften Milieus geprägt und sich weiter weg von den Autoritäten an klassischen Institutionen bewegen – sie wird, im guten Sinne, zur Sache der Crowd werden. Und der Künstler.
Und was würden Sie sich wünschen?
Ich wünsche mir kluge Formen für die Erinnerung an das Geglückte - die Revolution 1989, die Solidaritätswelle mit den Flüchtlingen 2015, an die vielen vergessenen Schriftsteller der DDR, von Gabriele Stötzer bis Jürgen Fuchs, an die stillen Akteure des Umweltschutzes oder der Frauenrechte in der DDR, die man nicht zu Helden stilisieren sollte, sondern eher - wie «Gundermann» in der Betrachtung von Andreas Dresen - als Beispiele einer kulturellen und intellektuellen Differenz betrachten kann. Wie Hubert Fichte im Westen. Auch seine Zeit wird kommen.