«Welt ohne Außen»
Anne Imhofs «Faust» im Deutschen Pavillon der Venedig Biennale.
Thomas Oberender
Oft sind Ausstellungen mit einer Erfahrung von Ruhe verbunden. Die Werke stehen hell beleuchtet im Raum oder laufen im Loop hinterm Vorhang. Der Trubel der Stadt bleibt draußen und das Versprechen im Inneren lautet: Nichts läuft dir davon. Die Zeit bleibt draußen. Im Deutschen Pavillon in den Giardini der Venedig Biennale ist das anders, seit dort Anne Imhofs «Faust» zu erleben ist. Niemand sagt dort zum Augenblick die berühmten Worte: «Verweile doch, du bist so schön». Es ist eine Ausstellung voller Unruhe.
Die Künstlerin hat in der zentralen Halle des Pavillons und über den zu ihr führenden Flurflächen in gut einem Meter Höhe einen zweiten Boden aus Panzerglas einziehen lassen, der von einem schlanken Stahlgerüst getragen wird. Gläserne Geländer schließen den doppelten Boden vor den offenen Türen zum Garten und den kleineren Nebenräumen ab. Auf deren Steinboden und an weißen Wänden sind Gemälde und Objekte von Anne Imhof ausgestellt, doch wird die Atmosphäre im und um den Pavillon von einer Gruppe von Performerinnen und Performern geprägt, die in unvorhersehbarer Weise inmitten der Besuchermenge agieren. Um das Gebäude herum hat Anne Imhof stabile Drahtzäune errichten lassen, auf denen Performer und Performerinnen hocken und auf die Warteschlange schauen.
Von Goethes Werk fällt in diesem «Faust» kein Wort und keine der bekannten Figuren tritt auf. Und doch ist das Stück anwesend. So entkernt und frisch ausgekalkt der Pavillon in diesem Projekt erscheint, erinnert er an Fausts Labor, in dem die Geister einer anderen Welt herbei beschworen werden. Auf dem die gesamte Haupthalle ausfüllenden Glasboden stehen die Besucher wie Exponate auf einer Bühne. Die Performer und Performerinnen, die sich unter sie mischen, könnte man in ihren schwarzen T-Shirts und Leggins selbst für Gäste halten.
Flüchtige, von Anne Imhof choreografierte Rituale beschwören in diesem Labor diese Geister aus einer Unterwelt, die gleich unterm Glasboden liegt. Sie recken ihre Faust in die Höhe, was den Titel auf eine andere Weise erklären könnte, aber auch daran erinnert, dass sie sich, mitten unter uns, fremd dieser Welt fühlen. Sie wirken nicht wie nette und willfährige Darstellerkameraden, die uns bedeutende Texte präsentieren, sondern sie haben sich das Haus genommen und spielen mit ihm und uns als Beute. Es ist der Ort ihres Rituals und entsprechend hat der Deutsche Pavillon auch Ähnlichkeit mit einem Tempel. Der große Saal und die hohen Nebenräume des Deutschen Pavillons wirken ohne die üblichen Einbauten wie in ihre Ursprungsgestalt zurückversetzt und purifiziert. Abstrakt und tempelhaft wirken auch die Reihe von Oberlichtern, die hohe Portaltür und speckigen Steinplatten am Boden.
An der Wand befinden sich über den Köpfen der Besucher Podeste mit schrägen Glasböden, auf denen die Performern sich selbst wie eine Skulptur ausstellen, und mit dieser Pose zugleich spielen, sich niederknien und den Besuchern nur ihren Rücken zeigen. Vor allem aber wirkt das hohe Gebäude ohne Zwischenetage und jeglichen Zierrat selbst wie eine Skulptur, entkernt und klar. In diesem Super-White-Cube mit seinem doppelten Boden aus Glas wird alles zum Fetisch, selbst und vor allem die Menschen. Ihnen wird im wörtlichen Sinne der gewohnte Boden unter den Füßen entzogen und sie erscheinen so in einen unwirklichen Schwebezustand. Wo sollte man sich hier auch niederlassen und wobei verweilen, da sich doch alles ständig und unvorhersehbar verändert?
Der «Scheißfaust», den Peter Handke gerne davon erlösen würde, auf rastlose Weise immerfort tätig zu sein, kommt in Imhofs Arbeit nicht vor. Dafür ein Ensemble von Gestalten, die auch keine Ruhe finden und ihre Seele erst noch finden müssen. Sie mischen sich in den nicht abreißenden Strom der Besucher, um frisches Blut zu trinken, durstig wie Odysseusʼ Mutter am Ausgang des Hades. Ihr Blut sind die Blicke, die ihnen folgen. Die Fotos und Filme der Smartphones der Besucher sind ihre Nahrung. Wie grimmige Balenciaga Models bieten sie sich den Blicken der Gäste dar und entziehen sich zugleich jeder Form von Nähe, indem sie durch ihre Beobachter hindurchsehen und hindurch gehen, sie ignorieren und zugleich anspielen, als ihre übertriebenen Wiedergänger erscheinen oder Angehörige einer Geisterwelt, die dieses Haus gerade besetzt hält.
Diese langhaarigen, kurzhaarigen, schlanken, schmalhüftigen Geister der Jugend versuchen, sich nicht schlucken zu lassen vom üblichen Spiel der Branche, der Mode und Medien, sondern mit ihnen selbst zu spielen. Und so sind Imhofs Performer Goethes rastlosem Faust insofern verwandt, als sie immer nur werden können, und nie sein. Dieser Stimmung schafft die Künstlerin einen Raum, in dem auch die Zuschauenden nie nur Betrachtende sind, sondern die Performer begleiten und sie fotografieren, um etwas festzuhalten von diesem Augenblick, da alles so seltsam überhöht und aufgeladen wirkt mit geheimnisvollen Kräften. Irgendein Furor treibt Imhofs Figuren durch den Saal, lässt sie miteinander kämpfen und tanzen, lethargisch am Boden hocken oder den Fuß in den Nacken eines Mitspielers setzen, inmitten der Gäste, ohne Portal und Off, ohne Chance auf Rückzug und Applaus.
Die Performer konfrontieren die Menge mit ihrer eigenen, undurchdringlichen Selbstbezüglichkeit. Sie stellen sich auf gläserne Wandsockel und müssen in diesem Labor nichts weiter tun, als nichts zu tun, um wie Skulpturen zu wirken, die über die Köpfe der Gäste hinwegschauen oder kurz darauf hinter der gläsernen Mauer und dem Zaun die großen Hunde loslassen.
Wie eine Theateraufführung ist die Ausstellung zeitbasiert, also ein Raum, in dem ständig etwas beginnt oder aufhört. Seine gläserne Bühne dient der Beobachtung von Veränderungen und zugleich, ganz anders als im Guckkasten des Theaters, wird hier auf dem gläsernen Boden auch das Publikum ausgestellt. Statt wie im Parkett des Theatersaals mit Stückbeginn unsichtbar zu werden und in kollektiver Reglosigkeit zu verharren, wandelt es hier durch die Ausstellung und bestimmt selbst, was es von wo und für wie lange sieht.
Statt des großen Skripts, in dem im Theater alle Vorgänge auf der Bühne in ihrem Ablauf detailliert notiert sind, gibt es in dieser Ausstellung keine Anfangszeit und keine fixe Aufführungsdauer, sondern das Geschehen bleibt im Gang, solange die Öffnungszeiten den Besuchern Zugang erlauben. Die über viele Stunden währenden Aktionen beruhen auf einem Set kleiner, vorgeprobter Szenen, die in ihrer Reihenfolge je nach Stimmung im Saal abgerufen werden. So mischen sich die Komponenten der Ausstellung für jeden Gast zu jeder Zeit neu und setzen sich täglich anders zusammen.
Anne Imhofs Ausstellung ist keine Ansammlung unveränderlicher Objekte, wie sonst in Museen, sondern ein sich täglich und stündlich verändernder Prozess. Das rückt die Ausstellung in die Nähe des Theaters. Die Abläufe im Deutschen Pavillon sind zwar nicht so rigide fixiert wie bei einem Theaterstück, aber doch vorgeprobt und live gesteuert und erzeugen letztlich durch die wechselnden Aktionen auf der gläsernen Bühne ein vor allem zeitbasiertes Kunstwerk. So entsteht eine sich über viele Stunden des Tages erhaltende Situation der offenen Begegnung der Performer und ihrer geheimen Ritualen mit einem Publikum, das sich unbewusst in die Rolle des Zeugen und Koproduzenten dieses Rituals begibt.
In Anne Imhofs «Faust» wird keine Geschichte im Sinn des Theaters erzählt. Es enthüllen sich hier keine persönlichen Biografien und die Konflikte zwischen den Figuren führen auch nicht zu Verwandlungen ihres Charakters oder der Welt. All das, was im Deutschen Pavillon passiert, hat mit Theater im unmittelbaren Sinne nichts zu tun. An die Stelle der dramaturgischen Handlung tritt vielmehr die Kreation einer Situation, die statisch bleibt, unverändert, ohne Peripetie. Diese mit dieser räumlich verbundene Situation verbundene Stimmung wirkt vor allem atmosphärisch und hebt die Trennung zwischen den Akteuren und dem Publikum auf. Es gibt hier keine reinen Zuschauer. Jeder ist hier auch selbst ein Exponat und Akteur, fotografiert und teilt das Geschehen auf der digitalen Bühne der sozialen Medien.
Während die Handlung im traditionellen Theater stets auf etwas zusteuert, das sich als Entwicklung und Umschlag beschreiben lässt, kreiert die Situation eine «dynamische Statik». Es passiert zwar ständig etwas, aber es verändert sich nichts. Die Situation erzeugt einen Stimmungsraum, der, wie eine Gewitterwolke, die über der Landschaft liegt und das Geschehen in ein bestimmtes Licht und Spannung taucht, eine Atmosphäre kreiert, die den Objekte, Personen und Vorgänge. Der klassische White Cube ist in gewisser Weise das Musterbeispiel eines Stimmungsraums, auch wenn die Stimmung, die von ihm ausgeht, möglichst temperiert, neutral und klar sein soll. Die Radikalisierung des Prinzip White Cube, wie Anne Imhof sie im Deutschen Pavillon wie auch in anderen Ausstellungen zeigt, begreift den Raum selbst als Skulptur, etwas, das nicht einfach ein neutraler Container für andere Objekte ist, sondern selbst wirken möchte.
Die Situation im Deutschen Pavillon ist geprägt von einer Grenzauflösung. Während die Zuschauer im Theater dem Geschehen gegenüberstehen, befinden sie sich bei Anne Imhof mittendrin in diesem Gemeinschaftsraum der Kunst. Er wird durch einen kohärenten Stimmungsraum geprägt. Die Situation läuft hier auf nichts zu, sondern bezieht jeden Anwesenden ein, führt ihn nach «innen», lässt ihn teilhaben. Die Besucher und Besucherinnen bewegen sich innerhalb dieses atmosphärisch definierten Raumes von Ort zu Ort und finden ihren individuellen Weg inmitten verschiedener, gleichzeitiger Optionen. So steht es jedem Gast in Anne Imhofs Pavillon frei, von der zentralen Halle in die Nebenräume zu wechseln, näher an eine Aktion heranzutreten oder den Saal zu verlassen.
Eine solche Situation ist, wie jede immersive Arbeit, raum-basiert, hingegen sich Theater als Handlung in der Zeit entfaltet. Theater, Tanz und Film sind daher zeitbasierte Künste. Sie setzen ihr Publikum fest. In einer Ausstellung wird das Individuum nicht «kollektiviert», sondern entscheidet selbst, wohin es geht und was es als nächstes sieht. Anne Imhofs «Faust» im Deutschen Pavillon verbindet beide Modi und kreiert ein Ritual, das durch architektonische Interventionen, Objekte und Choreografien eine alles durchdringende Stimmung etabliert, in der die Menschen auf dem Glasboden genauso zu Exponaten werden wie die großformatigen Gemälde an den Wänden. Und zugleich verändert sich ständig, was in diesem Raum zu erleben ist. Anne Imhofs «Faust» lebt selbst, bzw. ist eine lebendige Ausstellung. In ihren Turnschuhen und Sportsachen sind die Performer von den Besuchern kaum zu unterscheiden. Ungewollt werden die Gäste zum Bestandteil von wortlosen Szenen, in denen die Performer miteinander ringen, sich unter die Glasscheibe legen wie Schneewittchen, oder überfallsartig auf einer Art Catwalk durch Besuchermenge schreiten.
Und vielleicht ist das Publikum hier gar kein Publikum mehr, sondern koproduziert das Geschehen durch sein «Mitgehen» und die vielen Bilder, die es in den sozialen Netzwerken teilt. Wie bei Goethes Faust dreht sich bei Imhofs Figuren alles um sie selbst. Und doch sind sie, wie der zauberkundige Faust, mit unendlich Vielem verbunden, mit den Netzwerken der Mode, Musik, der Kunstgeschichte und des Pop. Goethes plünderte für «Faust» die historischen Mythen, lässt Helena, den Erdgeist, Philemon und Baucis, Homunkulus oder die Brockenhexen auftreten und auch Anne Imhof lässt in ihrem Werk eine nicht weniger künstliche, den Menschen und seine Idole spiegelnde Welt entstehen.
Der Mephisto in Anne Imhofs «Faust» ist das Smartphone. Immer zur Stelle und zu Diensten stellt es die Verbindung zu einem Reich unbegrenzter Möglichkeiten her. Anne Imhof trägt es im Saal bei sich und verschickt damit Anweisungen an die Performer und Performerinnen. Ohne dieses kleine, allesverbindende Gerät könnte sich diese Live-Regie nicht realisieren und so sieht man unterm Glasboden die Spieler in der kurzen Ruhephasen ihre Nachrichten checken und kurz darauf unter den Füßen der Gäste ein Feuer entfachen. Die Live-Regie bleibt dank des Smartphones unsichtbar. Die Künstlerin fällt unter den Gästen nicht auf und dirigiert die Performer im Untergrund unter dem gläsernen Zwischenboden, schickt sie hinaus unter die Bäume, lässt einen Hund im Saal erscheinen und die Performer sich unters Besuchervolk mischen.
Wie Goethes Faust sind auch Imhofs Figuren erfüllt von Emphase und Phasen dunkler Lethargie. Sie stehen zwar hautnah vor den Besuchern, doch wirken sie unerreichbar. Statt einer vierten Wand wie im Theater schützt die sie eine Aura der Fremdheit, die sie selbst errichten. Ihre Gesichter zeigen keine seelische Resonanz und ihre Art zu laufen, fokussiert zu schauen oder auf dem Boden zu kauern wirkt wie in den Medien bereits vorveröffentlicht. Jede Geste ist eine reflektierte Form in diesem Spiel. Auch Goethes Texte sind viel künstlicher, als es zunächst scheint. Sie spielen mit literarischen Konventionen und Motiven seiner Epoche, reagieren als Literatur auf Literatur, mindestens so sehr, wie sie auf persönliche Empfindungen oder Beobachtungen reagieren.
Imhofs Figuren sind androgyn, energisch und radikal jung. Sie lehnen, gefühlt, das System ab, das sie in diesem Pavillon bedienen. In ihren Gesichtern zeigt sich ein zeitgenössisches Verständnis von «Natürlichkeit», wenn sie scheinbar aus einer anderen Welt herüber schauen. Anne Imhofs Performer-Figuren wirken unversehrt, frisch und zugleich übercodiert selbst noch in ihrer Nacktheit. Sie wirken wie urbane Athleten, sind im globalen Sportlook gekleidet und doch ist es nicht die Marke, die sich einprägt, sondern die spezielle Körperlichkeit, die von dieser Kleidung bedeckt ist. Die Welt der Mode verkehrt sich hier in den Auftritten der Performer – es scheint nicht bedeutsam, welche Kleidung sie tragen, nur wie sie sie tragen. Wie die Models einer Balenciaga-Kampagne produzieren sie eine Abweichung von der Norm, die Schönheit anders definiert. Ihre Haare sind entweder sehr kurz oder sehr lang. Sie tragen ein schwarzes Shirt, unisex, nichts Privates sticht hervor, höchstens ein Tattoo. Sie sind Menschenähnliche, Oberflächen auf der Suche nach Tiefe und Intensität, etwas, das auch Faust zu finden hoffte und ihn nie zur Ruhe kommen ließ.
Juliane Rebentisch verbindet in ihrem Essay «Dark Play» im «Faust»-Begleitbuch den ständig auf Produktion ausgerichteten Daseinszustand des faustischen Menschen mit jener «Performance», die der Projektkapitalismus dem Individuum auferlegt. In ihm genügt es nicht, nur smart zu funktionieren, sondern das Individuum muss eine spezifische Abweichung vom Üblichen produzieren, die gerade im Dysfunktionalen potenzielle Reserven anzeigt, die in der Zukunft zur Entfaltung kommen können und so Zukunft schaffen.
Es ist diese feine Differenz und Rätselhaftigkeit von Imhofs Figuren, die ein verborgenes Potenzial verspricht. Etwas ist anders an diesen Leuten. Sie sind Gesichter unserer Zeit, aber auch Produkte unserer Zeit, der Medien und Industrie. So ist die Coolness des abweichenden Subjekts auch ein laszives Kapital und körperpolitischer Einsatz im Spiel um Bedeutung und Einfluss. Dieses Kapital entsteht nur dort, wo es «Reserven» gibt, etwas, das sich nicht sofort und offen der Gesellschaft ausliefert. Anne Imhofs Gang im Deutschen Pavillon besitzt diese Reserve.
Seltsam, wie diese Weigerung, alles zu zeigen, einem im Ausstellungszusammenhang sofort in die Augen springt und anziehend wirkt. Denn in der Regel zeigt sich gerade im White Cube alles offen und schattenlos. Die Installation des gläsernen Bodens verstärkt diesen Effekt der Fetischisierung sogar noch. Und so reagiert die Ausstellung auf den Konsumismus des Kunstbetriebs, indem sie auch die Gäste wie Exponate erscheinen lässt und in der Situation der lebendigen Ausstellung die ständige Gier nach dem Neuem, nach frischen Impulsen und jungen Gesichtern hautnah an sich selber spüren lässt.
So schafft Anne Imhof auf dem gläsernen Boden eine Art Bardo, ein Zwischenreich und eine Wartezone, in der niemand nur Zuschauer ist, sondern auch Verursacher. Was hier passiert, führt nirgendwo hin und hört auch nie auf. Es ist nicht Teil einer Erzählung, aber es ist auch nicht nichtssagend. Vielmehr entsteht eine tagraumgleiche Atmosphäre, in der man irgendwo mittendrin ist, aber nicht weiß, wo. Es ist ein liminaler Raum, etwas zwischen Traum und Wachsein, Ausstellung und Performance, Zuschauen und Mitwirken. Anne Imhofs Stück ist in gleicher Weise Performance wie auch eine Ausstellung betrachten – als ein Hybrid von beidem und so entsteht ein neues Format, etwas, das die Kunsthistorikerin Dorothea von Hantelmann einen «individualisierten Aufführungsraum» nennt.
Er hat einerseits etwas mit der baulichen Situation dieser Ausstellung zu tun, anderseits aber auch mit der «Verflüssigung» dessen, was dort zu sehen ist. Denn es sind ja weniger Objekte, die still in der Zeit stehen, als Prozesse, die hier von Zeit zu Zeit in Gang gesetzt werden, indem Objekte aktiviert und die Aktionen dieser Pavillon-Besetzer gestartet werden. Die Bühne ist an diesem Ort überall, es gibt kein Theaterportal, das die Vorgänge rahmt.
Etwas zu verbergen ist sicher das Gegenteil der Idee einer Ausstellung. Dennoch scheinen Imhofs Figuren das Geheimnis ihres Rituals nicht preis zu geben. Sie agieren in dieser Situation wie in einem Vivarium, offensichtlich «leben» sie hier, aber ihr Leben und die unheimliche Ordnung dieses Raumes folgt einem Code, der sich nicht entschlüsselt. Die kühle Klarheit im Inneren des Deutschen Pavillon stellt die Idee über das Leben. Weder für die Gäste noch für die Performer gibt es hier ein wirkliches Off. Diesen Zustand bewusst herzustellen und das Ausstellungshaus wie ein Vivarium zu verstehen, in dem nacktes Leben und Ausstellung in eins fallen, erzeugt eine latent bedrohliche Stimmung.
Durch die Lichter im oberen Geschoss, die erhöhten Fenster auf der Meerseite und die offenen Türen unter dem Portal zu den Gärten des Biennale-Geländes fällt mildes Licht in den zentralen Raum, an den sich zwei weitere Räume anschließen, die man als Besucher durch breite Wandöffnungen sehen, aber nicht betreten kann. Der gläserne Boden zieht sich durch die Eingangshalle und den zentralen Saal. Von ihm aus schaut man in die Nebenräume wie in offene Backstage-Räume. Alles bietet sich dar, aber nichts ist wirklich zu berühren. Die Besucher und Besucherinnen teilen in Imhofs Welt die Situation der Objekte und Performance. Statt ihr konsumierend gegenüberzustehen, produzieren sie die Show mit. Der Boden aus Panzerglas bewirkt, dass die Besucher auf ihm selbst wie Skulpturen stehen, quasi im Nichts.
Von dort aus schauen sie auf die Performer unter ihren Füßen, wenn sie durch das schlanke Podestgestell kriechen, oder die wenigen ausgestellten Objekte, Bilder und Instrumente, die ähnlich freigestellt wirken wie sie selbst. Schon auf dem Weg vom Garten zum Haus sieht der Besucher auf der Dachkante des Pavillons drei Figuren kauern. Sie wirken im Gegenlicht wie Hausbesetzer, die den Ausblick genießen und als Einzige in diesem ruhelosen Biennale-Getümmel Zeit haben. Ab und an erscheinen hinter hohen Stahlzäunen und Panzerglasscheiben, die den Pavillon wie eine transparente Mauer umgeben, vor dem Pavillon zwei Dobermann-Hunde und bellen in Richtung der endlosen Warteschlange.
Diese subtilen Eingriffe lassen das hohe und saubere Haus gefährlich wirken. Die Hunde, die Hausbesetzergestalten, der dunkle Schriftzug «Germania» unterm Vordach, irgendwer treibt hier sein Spiel. Wer ist diese Gang, die den Deutschen Pavillon gekapert hat? Dieser Ort kreiert ein Geheimnis, indem er alles herzeigt, sein Panzerglas, die Stahlträger des Unterkonstruktion, die Geländer aus Inox. Die offenen, vorhanglose Fenster und Türen lassen das Drinnen und Draußen ineinanderfließen. Die Besuchermenge drängt von draußen herein, zerstreut sich, teilt sich in Einzelgruppen und strömt dann wieder hinaus, jeder wie er will.
Anders als ein klassisches Theaterstück ist Anne Imhofs «Faust» kein fixes Werk, dass einmal aufgeschrieben und nach vielen Wochen der Proben auf der Bühne eine «Maschine» erzeugt, in der sich alles wiederholt und auf die immergleichen Zeichen die gleichen Sätze fallen. Bei Anne Imhof reagiert die Ausstellung auf das Publikum und baut sich je nach der aktuellen Lage im Pavillon neu zusammen und um. Es besteht aus einer Vielzahl vorbereiteter Module und Szenen, die sich durch die Live-Regie von Anne Imhof und die unberechenbaren Reaktionen der Besucher jederzeit neu mischen und also niemals gleichen.
Da die Performer den Besuchern auf diesem Glasboden zum Greifen nahe sind und viele der Gäste ihnen ihre Smartphone-Kameras direkt vors Gesicht halten, wirken die Künstler in dieser Situation sehr schutzlos. Im traditionellen Theater sind die Darsteller durch die vierte Wand der unmittelbaren Begegnung mit den Zuschauern entzogen. Im Ausstellungszusammenhang sind die Zuschauer aber Besucher und empfinden sich als Gäste der gleichen Situation. In ihr stellen sie sich ihre vierte Wand selbst durch eine Aura der Unberührbarkeit und präsentischen Ferne her. Durch etwas, das keine Beziehung zu anderen eingeht und nur innerhalb der eigenen Gruppe kommuniziert.
Erst diese ungewöhnliche Nähe zum Publikum erzeugt und erzwingt die Unnahbarkeit der Figuren. Ihre langgliedrigen, androgynen Körper und ihre sportliche unisex-Kleidung entziehen sie ein wenig der traditionellen Zuordnung zu sozialen Rollen. Sie bewegen sich «flüssig» zwischen den Geschlechtern und Altersgruppen und strahlen eine enorme Stärke aus, eine große Unabhängigkeit und Melancholie. Ihr Modell-Blick sieht nichts, sondern will gesehen werden. Er fängt die Blicke, statt selbst etwas zu erblicken. Was die Figuren sehen, ist sich selbst von außen – ihr Außenblick auf sich in den Objektiven der Smartphone-Kameras erzeugt ihre seltsame Form von Präsenz. Sie sehen und zeigen sich in Bildern, die sich wiederum in ihnen selbst verkörpern und zu neuen Bildern führen, die von ihnen gemacht und von den Betrachtern geteilt werden.
So fließt durch Imhofs Figuren ein vorfabrizierter Code, eine Erinnerung an Posen, in die man sich kleidet wie in ein Kostüm. Die in die Luft gereckte Faust der Performer zitierte das Protestfoto eines Aktivisten und geht über in ein Defilee auf dem gläsernen Catwalk, in Gesten, die emotionale Zustände mit einer medial vorgeprägten Ikonografie zeigen und doch auch eine unmittelbare Energie freisetzen, so, wie jemand, der lange laut schreit, nicht ruhig bleiben kann. Die gläserne Bühne potenziert die Erfahrung einer alles sehenden und verschlingenden Öffentlichkeit, die auch draußen, im Leben jenseits des Pavillons, der Wirklichkeit ständig die Haut abzieht und daraus Posts und Likes generiert und die soziale Situation zur Zone eines Aufmerksamkeits-Wettbewerbs macht.
Die ausgestreckten Arme der Fotografierenden, die über die Köpfe der Nachbarn hinweg ihre Aufnahmen machen, formen eine kollektive Andachtshaltung. Anne Imhofs Figuren kreieren Gesten, die unwillkürlich erkannt und mit einer Aufnahme beantwortet werden. Im Akt des Fotografierens wirkt scheinbar ein kurzer Moment des Erkennens, das die Beobachter an das Geschehen bindet. Wenn die Besucher ihre Kamera direkt vor das Gesicht des Performers halten, frage ich mich, ob dies im Theater auch geschehen würde? Vielleicht ist das Verhalten an Ausstellungsorten anders konditioniert, vielleicht passiert es hier leichter, dass Menschen die Performer einfach auch als Ausstellungsobjekte betrachten. Dieser unheilige Umgang mit den Performern gehört zum verstörenden Reiz der Inszenierung. Das Sehen selbst ist in dieser Situation nicht unschuldig. Doch ist die Situation nicht nur schamlos, sondern auch von größter Zartheit, wenn zum Beispiel die Performer erschöpft sind, aufeinander achten oder ihre Finger nach oben durch die Ritze zwischen dem Panzerglas neben die Schuhe der Besucher schieben.
Warum nennt Anne Imhof diese Performer «Figuren» und nicht Darsteller? Vielleicht weil Darsteller Medien sind, die reflektieren, dass sie nicht die Rolle sind, die sie spielen. Darsteller machen etwas sichtbar, das in ihnen erscheint, aber sie nicht sind. Darsteller wechseln ihre Rollen, aber Figuren bleiben. Auf der Bühne und in Texten kristallisieren bestimmte Konzepte vom Leben in einer menschlichen Gestalt. Sie können durch die Zeiten wandern als Medea oder Jago und sind immer wieder aufs Neue ein Gegenstand der Ausdeutung und Neubetrachtung. In diesem speziellen Sinne sind wirkliche Figuren äußerst selten inmitten der enormen Menge an Charakteren, die die Kunstgeschichte bevölkern. Und ganz ähnlich ist dies in der bildenden Kunst. Hier sind Figuren tatsächlich ein Objekt, ein physischer Körper, der eine Statue sein kann oder eine bildhafte Erscheinung mit typischen Insignien, die aus dem Mythos in die Zeit des Künstlers treten. Diese Doppelnatur der Figur, Bild einer Idee und Körper zugleich zu sein, prägt auch Anne Imhofs «Faust».
Wenn Ihre Performer sich als Figuren in zehn Meter Höhe auf einen schmalen Sims stellen, erinnert dies an christliche Heiligenfiguren, auch wenn sie über ihren Shirts und Jeans ein Sicherheitsgeschirr wie Bergsteiger tragen. Gefahr ist in Imhofs Welt stets anwesend – die Gefahr abzustürzen, die eigene Behauptung implodieren zu sehen, wenn der habituelle Schutzschirm, den die Akteure um sich aufrichten, sich plötzlich auflöst. Die Gefahr spielt auch physisch mit, wenn die Performer hoch oben auf dem gläsernen Wandsockel stehen und auf ihr Kirchenvolk schauen. Sie Menschen, deren Leben an einem kleinen Karabiner hängt.
Wie lange die Besucher des Pavillons ihnen zuschauen, oder weitergehen, sich andere Räume anschauen oder nach anderen Performern und Objekten suchen, ist hier jedem selbst überlassen. Während im Theater der Zuschauer im dunklen Saal stillgestellt wird und durch das Portal auf die ferne Bühne schaut, wird er in der Ausstellung zum Besucher dieser Bühne. Die Aufführung wird hier besucht wie eine Ausstellung, denn jeder schlendert hier auf seinem eigenen Weg. Zudem reagiert die Aufführung hier auf ihn, langweilt und umgarnt das Publikum mit Kalkül, aber richtet sich bei Anne Imhof an jeden einzelnen. Die Begegnung zwischen Werk und Besucher bleibt ungezwungen. Statt fixer Aufführungszeiten gibt es Öffnungszeiten und man taucht als Besucher ein ins laufende Geschehen. Das ist untypisch für Ausstellungen, da hier ja in der Regel alles feststeht auf den Böden und Wänden. Aber es ist auch ungewöhnlich für das Theater, da es traditionell darauf beharrt, wie eine Zugreise darauf beharrt, dass nur derjenige mitfährt, der am Anfang eingestiegen ist.
Wie in jeder Ausstellung sind auch bei Anne Imhof die ausgestellten Dinge unberührbar. Durch die skulpturale Ästhetik des Ausstellungsraums, seine weißen Wände, nackten Steinböden, Stahlträger und Glasböden erscheinen die Objekte selbst als Industrieprodukte. Stahlkugeln, Spraydosen, Verstärker, all das hat etwas Unsentimentales und doch Romantisches. Der Wunsch nach Berührung, Aktion, Pathos und gleichzeitig die größtmögliche Distanz zum Kitsch, wie geht das? Schauspielkunst, sagte der Dramatiker Botho Strauß in seinem Roman «Der Turm», ist eine einmalige Mischung aus Prostitution und Keuschheit. Alles wird auf der Bühne hergezeigt und ans Licht gebracht, aber um den Preis der Unberührbarkeit. Das betrifft die Menschen auf der Bühne, insbesondere auf dem gläsernen Boden in Imhofs Faust-Pavillon und zugleich auch die ausgestellten Dinge in jeder Form von White Cube.
Die Objekte in Anne Imhofs Ausstellung sind schattenlos ausgeleuchtet wie die Vitrinen-Ware in Flagship Stores. Es sind Gegenstände reiner Latenz: Stahlschleudern und Metallkugeln als Munition, Energydrinks, E-Gitarren mit Verstärkern, Ladestationen für Mobiltelefone und Laptops. All diese Dinge befinden sich auf der Schwelle zur Aktion und vermitteln die unterschwellige Botschaft, dass es an diesem Ort jederzeit zur Entladung dieser Energien kommen kann. Hinterm Panzerglas erscheinen die Dinge und Körper als Ware, Fetisch und Produkt.
Die von Anne Imhof installierte Architektur zitiert und adaptiert die unpersönliche Macht eines Systems aus Apparaten und Technologien, zu dem das nackte Lebewesen einen merkwürdigen Kontrast bildet, fragil wirkt. Die Performer umgeben sich deshalb selbst mit der Aura eines Produkts, dem Anschein großer Selbstbeherrschung. Und gleichzeitig stehen sie bei Anne Imhof nah am Feuer, Wasser, Wind, den Wolken und umherstreifenden Hunden. Und so berührt sich in diesem Pavillon die technische «Vitalität» komplexer Technologien mit der biologischen Lebendigkeit, die von den Aktionen der Performer ausgeht, ihrer physischen Präsenz und ihren Werkzeugen des Widerstands, die eine E-Gitarre oder eine Schleuder sein können.
Anne Imhof «bespielt» den Deutschen Pavillon also nicht, wie sie im Interview mit der Kuratorin Susanne Pfeffer sagt, sondern «besetzt» ihn und schafft so eine temporäre Zone anderer Regeln. Denn etwas zu bespielen hieße, auf die eine Sache eine andere zu legen. Etwas zu besetzen meint, die eine Realität durch etwas anderes zu ersetzen. Etwas zu bespielen bleibt ein Spiel. Etwas zu besetzen ändert die Welt wirklich. Und tatsächlich etabliert Imhofs «Faust» ein Ritual, das nur Beteiligte kennt und ihnen eine Erfahrung von Widerstand vermittelt, hautnah, physisch wie ein Schlag. Wie von Zauberhand erscheinen und verschwinden die Figuren, entkleiden sich, singen, rennen oder erstarren, spielen verschiedene Instrumente und entzünden immer wieder Feuer unter den Füßen der Gäste.
Das Geschehen hat kein Zentrum, es gibt keinen Ort des Überblicks. Die Performer kriechen auf dem Boden unter den Füßen der Gäste und klettern auf schmale Podeste über den Köpfen der Besucher. Sie sind draußen und drinnen zugleich, genauso wie Anne Imhofs selbst, die durch die Räume schweift, ihren Anweisungsposten immer wieder verlässt, unbemerkt in die Besuchermenge eintaucht und die Aktionen der Performer und Performerinnen durch ihre SMS live steuert. Immersiven Situationen, in denen sich die Modi von Ausstellung und Aufführung gegenseitig durchdringen, sind stets von der Bemühung geprägt, eine unsichtbare Steuerung der Vorgänge zu realisieren, die auf sofortigem Feedback beruhen. Der Augenblick soll nicht verweilen, sondern so gut wie möglich unter Kontrolle sein.
Die Besucher und Besucherinnen besitzen in Anne Imhofs «Faust» zwar das Gefühl, dass sich die Vorgänge spontan ereignen und doch findet die in diesem Raum eine subtile Lenkung ihrer Aufmerksamkeit und Bewegungen statt, die so weder im Theater noch in Ausstellungshäusern stattfindet.
«Was ist denn nun!», brach es aus einer Besucherin neben mir hervor, weil für kurze Zeit «nichts» passierte, bevor die Performer wie ein Überfallkommando in den Raum stürmten. Die fünf jungen Männer und Frauen rannten mitten durch die Menge, die sich um sie teilte und wieder schloss und verharrten abrupt und reglos in einer chorus line. Die Figuren schauten mit frontalem Blick durch die Besuchergruppe hindurch. Hinter ihnen kauerte unterhalb des Glasbodens ein Performer an der Wand und schob seine ausgestreckten durch den schmalen Spalt zwischen Scheibe und Mauer nach oben. Dann legte er seine Finger flacht aufs Glas, nahe den umherlaufenden Gästen, die durch ihre fotografierenden Nachbarn auf ihn aufmerksam wurden. Einige der Besucher beugten sich direkt über den Kopf des unter ihnen kauernden Mannes, knieten sich auf dem Panzerglas nieder und fotografieren sein Gesicht aus unmittelbarer Nähe.
So produziert das Geschehen in diesem Pavillon flüchtige Momente der Unschuld und zerstört sie zugleich. Das Unvertraute der Vorgänge, die sie begleitenden disruptiven Sounds und plötzliche Stille erzeugen zugleich eine latente Unsicherheit und Anspannung auf Seiten der Besucher. Was ist erlaubt? Worum geht es hier? Was ist das Werk? Über eine gläserne Schwelle treten die Besucher und Besucherinnen hier plötzlich ins Innere des Werkes. Anne Imhofs Regie liest deren Verhalten und reagiert darauf mit ihren verborgenen Instruktionen. Wer führt und wer folgt in diesem Spiel? Man kennt diese Frage vom Tangotanz und es ist die Grundfrage zwischen Schauspielern auf der Bühne. Sie prägt die Situation im Pavillon und man weiß nie, ob das Publikum auf die verborgene Regie von Anne Imhof reagiert, oder die Regisseurin auf das eigenwillige Publikumsverhalten.
Die Dramaturgie der Performance ist hier kein feststehendes Gesamtskript, das sich mechanisch abspult, sondern eine flüssig bleibende Abfolge von Anweisungen, die situativ erfolgen. Die szenischen Elemente, die Anne Imhof in ihrer Reihenfolge immer wieder neu variiert, ergeben insgesamt ein Konvolut verschiedener Arrangements, die aus vorgeprobten Choreografien und Musikeinsätze bestehen und als ein Set von Mikro-Skripten stets anders abgerufen und kombiniert werden können. So entsteht ein unberechenbar wirkendes Spektakel.
Der amerikanische Philosoph Norman Klein hat für solche Räume den Begriff «scripted space» geprägt. Er umschreibt damit «Wirkungsräume», die sich nicht passiv, sondern aktiv verhalten, mitspielen, sich verändern und einer oft verborgenen Agenda folgen, einem Skript, das die in ihnen stattfindende Spektakel steuern. Solche Räume entstehen durch Spezialeffekte in der Welt des Films, Cartoons und Entertainments und Norman Klein ordnet sie in die Tradition der Kreation einer «verkehrten Welt» ein, durch die eine andere Ordnung etabliert wird, eine karnevaleske Verkehrung und Unterwanderung des Vertrauten. Die Realität ist in diesen geskripteten Räumen ein geschichtetes Phänomen, in dem sich Reales mit Imaginärem vermischen und die Situation bodenlos wird wie auf Imhofs Panzerglasboden. Hier bleibt alles ständig im Fluss wie in den Zeichentrickfilmen von Disney.
Ausstellungen von Künstlern wie Philippe Parreno oder Pierre Huyghe sind eher an der Herstellung von solch geskripteten Räumen interessiert, d.h. mehr an zeitbasierten Prozessen, als an der Präsentation von statischen Objekten. Sie kreieren, ähnlich wie Anne Imhof, scripted spaces, in denen ein unsichtbares Protokoll ständig dafür sorgt, dass sich wie von Zauberhand Vorhänge öffnen, Skulpturen und Filme scheinbar miteinander kommunizieren und ein abgestimmtes, interaktives Verhalten entwickeln, das auch auf die Präsenz der Besucher, das Gebäude selbst, andere, nichtmenschliche Spezies, die sich in ihm befinden, oder auf das sich wandelnde Tageslicht und Radiowellen in der Luft reagiert. Die Ausstellung wird hier in gewisser Weise zu einem Organismus, der eine eigene Lebendigkeit entwickelt und mit vielen Lebensformen direkt in Berührung steht. Tatsächlich sind es bei Parreno oder Huyghe oft Mikroorganismen in laborartigen Exponaten, deren Vitalfunktionen die Vorgänge in der Ausstellung steuern.
Für Norman Klein verwischen sich in diesen «scripted spaces» die Grenzen zwischen privat und öffentlich oder imaginär und industriell. Eine Situation, in der man als Beobachter selbst beobachtet wird und mit Systemen verbunden ist, deren Verlinkung mit einem selbst sich selten offen zeigt, ist heute typisch für unser Leben in hybriden Welten, sozialen Medien und medialen Wirklichkeiten. Wir leben in einer «scripted culture», die unsere Verhaltensweisen ständig vermisst, protokolliert und mit anderen Protokollen in der digitalen Realität verbindet. Dieser Realität hat Anne Imhof einen Tempel gebaut. Ihr «Faust» schafft eine Umgebung, in der die Ausstellungswelt ihre Besucher liest. Sie werden mit spektakulären Aktionen überrascht und erleben Momente von Offenheit und Unsicherheit, die von inszenierten Vorgängen und Bildern abgelöst werden.
Die Posen und Choreografien, in denen sich die Performer dabei zeigen, verweisen ihrerseits auf etwas medial Gemachtes, ikonisch gewordene Bilder aus den Nachrichten und der Popkultur, der bildenden Kunst und Mode, in die nun die Körper und Bewegungen der Performer im Pavillon schlüpfen, bevor sie wieder zu Bildern werden. Ohne Smartphone wäre dieser venezianische «Faust» nicht denkbar. Nicht nur, weil das Fotografieren und Filmen der szenischen Ereignisse ein wichtiger Teil des Imhofschen Rituals und seiner Reproduktion in den sozialen Netzwerken ist. Das Smartphone ist auch technisch die Basis der Live-Regie im Saal. Jeder Performer trägt das Gerät in der Ausstellung bei sich und ermöglich so eine Veränderung des Geschehens in Echtzeit. Es sind diese Echtzeitprozesse, die solch situative Aufführungsformate überhaupt erst ermöglichen.
Schon die Erfindung des Videos hat führte auf der Bühne zu einer neuen Ästhetik und Spielweise, die klassische Filmbilder nicht leisten konnten. Denn nur das im Augenblick entstehende Videobild kann den realen Leib auf der Bühne durch sein Bildschirm-Bild verdoppeln. Die Präsenz des Schauspielers wird so gesplittet. Einerseits steht der Schauspieler live auf der Bühne und zugleich agiert er im «Film» und erscheint dort in Großaufnahme, bzw. überlebensgroß auf der Leinwand. Das Videobild splittete nicht nur seine Präsenz, sondern auch den Raum und macht gleichzeitig anwesend, was räumlich unter Umständen weit entfernt passiert. Das Video ermöglicht auf der Bühne eine oft konkurrierende Sichtweise auf die Situation der Figur und diese Möglichkeiten, Räume und Situationen porös werden zu lassen, haben sich mit der Echtzeitkultur des Internets und virtuellen Realität noch gesteigert.
Obgleich Anne Imhofs «Faust» im Deutschen Pavillon nicht mit Videoaufnahmen arbeitet, ist ihr Einsatz des Smartphones und ihre Einladung an die Besucher, davon obsessiv Gebrauch zu machen, ein wichtiges Element dieses Werkes. Es ist das Medium unserer Selbstinszenierung und hat Verhältnis zur Welt erschaffen, das stärker auf das Bild bezogen ist als auf die Welt. Die Formatierung und Normierung von Körperbildern hat sich durch die sozialen Medien radikalisiert und ist ohne Smartphone nicht denkbar. Zugleich «leuchten» heute in vielen Ausstellung klassische Gemälde an den abgedunkelten Wänden, als seien sie eigentlich Bildschirme, weil die leuchtenden Screens für die meisten Menschen ihre primäre Begegnung mit Bildern wurde. Nie zuvor war das «Sehen» und «Zeigen» so unmittelbar verbunden mit der direkten oder indirekten Monetarisierung unseres Blicks auf uns selbst und die Welt. Diese Bildproduktion ist daher bei Anne Imhof unschuldiger Vorgang, sondern ein aktiver, selbst ausgestellter Prozess.
«Ausstellen» hieß lange Zeit, ein Objekt als unverfälschtes Gegenüber in einer möglichst neutralen Umgebung zu zeigen. Immersive Räume verändern diese Konstellation. Sie schaffen Situationen, die nicht davon ausgehen, dass so etwas wie eine neutrale Umgebung möglich ist. Auch in klassischen Ausstellungssituationen leiten unterschwellig wirksame Dispositive den Blick und die Verständnisweise der Besucher, pädagogisieren die Betrachtenden durch Standards und Regeln, denen zufolge z.B. in diesen Räum nichts angefasst wird und dem Original eine einzigartige Aura beigemessen wird.
In immersiven Räumen besteht eine beiderseitige Wechselwirkung zwischen Betrachtenden und Betrachtetem. Nichts ist hier nur passiv, nur Objekt der Anschauung, sondern alles auch Sender und reagiert dementsprechend auf die Vorgänge in seiner Umwelt. In Anne Imhofs Show sind diese reaktiven Komponenten der Ausstellung die Performer, aber auch das Tageslicht, das durch die weit geöffneten Fenster und Türen fällt, oder die Hunde, die durch den Raum unterm Glasboden streifen.
Immersive Situationen entfernen das Portal und anstelle der Rahmung des Geschehens begeben sich die Zuschauer auf eine Reise in eine Umwelt, die das Werk ist, sie umgibt und teilweise aktiviert wird. Der Sound, die Bespielung der Objekte durch Tänzer oder das Feuer unterm gläsernen Boden erschaffen einen poetischen Raum, dessen Licht und Sound sich wandelt und von fremdem Leben erfüllt ist. Dafür hat Anne Imhof alles aus dem Pavillon entfernen lassen, das an die übliche Ausstellungsarchitektur erinnert. Übrig blieb die saubere Skulptur eines Raums, der selbst von innen und außen als Werk betrachtet wird.
Die Künstler, die diesen Raum besetzt haben, betrachten den «Konsum» der Ausstellung durch die Gäste selbst als bewussten, latent aggressiven Akt. Sie begegnen ihm mit der Kreation eines Rituals, das die Gier der Ausstellungsbesucher, aus ihrem Besuch etwas «mitzunehmen», zum Teil und energetisierenden Moment des Rituals macht. Dieser Gier liefern sie Nahrung, weil auch sie selbst sich von medialen Bildern nähren. Die Defilees und Kämpfe der Performer inmitten des Publikums lassen kurz eine fremde Ordnung aufblitzen, die sich sogleich wieder auflöst. In diesem Ritual verbinden sich Menschen mit Kräften, die aus der Erde stammen, dem Licht, Tieren, den Anlagen und Produkten der Industrie, Stahlkugeln, Farbsprays, elektronisch verstärkter Musik.
Die «Exponate» wirken durch die Abstraktheit des nackten Raumes unsentimental und klar. Und selbst die Besucher und Besucherinnen entwickeln auf dem gläsernen Boden die Aura eines Exponats. Sie scheinen zu schweben und wirken wie Skulpturen von Duane Hanson, müde Figuren, deren Blick, wenn die Perfomance sich nach draußen verlagert oder pausiert, für Momente reglos nach innen in sie selbst schaut.
Inmitten der Biennale ist diese Situation im Deutschen Pavillon eine große Überraschung. Ausstellen bedeutet hier, sich mit Hausbesetzern auseinander zu setzen, die für ihre Gäste eine interessante Falle gebaut haben. Einmal drin, werden sie selbst zu Exponaten und in den Strudel der Referenzen geworfen. Sie treten ein in Gesamtkunstwerk, das sie verspeist. Sein Ritus kennt nur eine Bühne und nur Beteiligte. Anne Imhofs Figuren sind romantisch, weil sie einer Idee folgen und das Leben als etwas ganz Künstliches sehen und zeigen. Sie sind romantisch im Sinne ihres Wunsches, sich verbunden zu fühlen mit etwas Größerem und gleichzeitig zu wissen, dass dies nur im Bewusstmachen der Form geschehen kann. Wie bei Caspar David Friedrich ist auch die Konstruktion von Anne Imhofs Werk vollkommen konzeptionell und von dem Versuch geprägt, den Betrachter in den emotionalen Raum des Bildes hineinzuziehen. Auch ihre Werke sind im Dunkeln gemalt, obgleich der deutsche Pavillon nie zuvor so licht und offen wirkte.
Die hier lesbare Fassung des Essays ist die ausführliche Version des Textes, veröffentlicht hier