«Immersion»
Ausstellungen, Diskursformate, Projekte für Planetarien, Theater- und VR-Produktionen 2016-2021
In der Programmreihe «Immersion» wurden unter der künstlerischen Leitung von Thomas Oberender und mit wechselnden kuratorischen Teams von 2016 bis 2021 die Arbeiten von Künstler*innen präsentiert, die die gewohnte Gegenüberstellung von Werk und Besucher*in, Bühne und Saal, Objekt und Betrachter*in auflösen. Ziel der Programmreihe war es darüber hinaus, den Begriff «Immersion» als eine Leitvokabel für ein anderes Weltverhältnis zu begreifen und zu etablieren – er stand für ein neues Genre und zugleich für ein altes Prinzip der Verbundenheit.
Im Zentrum der ersten Programmphase stand 2016/17 die Verräumlichung der zeitbasierten Kunst des Theaters. So schuf die Szenografin Mona el Gammal mit «RHIZOMAT» einen großen «narrative space», der in einem ehemaligen DDR-Fernmeldeamt die Geschichte eines kommenden Aufstands in einer zukünftigen Welt erzählte – ohne Schauspieler*innen, dafür mit Tausenden von Dingen, die von der Künstlerin in einer riesigen Installation inszeniert und zum Sprechen gebracht wurden. Ein ähnliches Worldbuilding, wobei man in eine eigene Realität eintritt und mit ihr interagiert, prägt die Arbeiten von Vegard Vinge und Ida Müller, die mit ihrem Nationaltheater Reinickendorf eine imposante Raumbühne geschaffen haben. In einer ehemaligen Munitionsfabrik am Stadtrand von Berlin gestalteten sie ein architektonisches Gesamtkunstwerk, das einen großen Theaterbau mit einer Kathedrale, einem U-Boot und einer Bar verbunden hat. Dieses «Nationaltheater Reinickendorf» war in gleichem Maße ein monumentales Environment aus bildnerischen Arbeiten wie auch eine ungewöhnliche, in Echtzeit gesteuerte Aufführungsmaschine mit diversen Bühnen, auf denen sich die 12 Stunden dauernde Aufführung aus über 120 Stunden vorbereitetem Material immer wieder neu zusammengesetzt hat. Im Oktober 2017 hatte bereits Jonathan Meese mit der Wagner-Überschreibung «MONDPARSIFAL BETA 9–23» eine Oper auf die Bühne des Festspielhauses gebracht, deren assoziative Weiterungen und Wucherungen des Stoffs in diversen Installationen im gesamten Festspielhaus in seiner ausgedehnten Installation «ERZGRÜNER TOTALSTHÜGEL DE LARGE (EVOLUTIONSPARSIFAL’S MONDRAUM)» zu sehen waren.
Der zweite Schwerpunkt des Programms widmete sich der Verzeitlichung des Ausstellungsformats, das in seiner klassischen Form darauf beruht, stillgestellte Objekte aus ihren ursprünglichen Bedeutungs- und Gebrauchszusammenhängen herausgelöst zu präsentieren. Doch was passiert, wenn diese festgelegten Ordnungen selber in Bewegung geraten und die Besucher*innen eine Ausstellung als Prozess erleben – also eher wie eine Aufführung, in der sich die «Dinge» ständig ändern? In einer Reihe von Ausstellungen entstanden im Gropius Bau daher Situationen, denen die Besucher*innen nicht mehr gegenüberstanden, sondern deren ergänzendes, manchmal sogar aktives Element sie wurden. So zeigte Omer Fast seine Kunstfilme in der Ausstellung «Reden ist nicht immer die Lösung» in Räumen, die filmsetartige Reproduktionen profaner Warteräume in Arztpraxen, Ämtern oder Flughäfen zeigten. Hier liefen seine Filme auf den dort üblichen Anzeigescreens und inmitten der Besucher*innen erschienen unangekündigt von ihnen kaum zu unterscheidende Performer*innen, die literarische Texte vortrugen.
Auf eine ganz andere Weise präsentierte das Künstler*innenduo Lundahl & Seitl eine Ausstellung, die eine Reise des Publikums durch verschiedene Räume des Gebäudes war, deren Architektur sich mit einer ganz anderen Geschichte verbunden hat. Mit ihrer «Symphony of a Missing Room» schufen sie eine ungewöhnliche Museumsführung durch reale und imaginäre Räume und Zeitschichten, die im Museum plötzlich zwischenmenschliche Vorgänge ausstellte anstatt Dinge. Eine Fortsetzung dieser Arbeit entwickelten Lundahl & Seitl mit der Uraufführung ihres Projekts «Unknown Cloud on Its Way to Berlin», das den Mythos eines Naturphänomens zum Anlass nahm, um eine Gruppe von Menschen via Smartphone nicht nur untereinander, sondern auch mit anderen Menschen zeitgleich an einem anderen Ort in der Welt in Berührung zu bringen. Die seltsame Unmittelbarkeit der technologisch herbeigeführten Gemeinschaftssituation auf dem Tempelhofer Feld in Berlin schuf so für kurze Zeit eine utopische Gemeinschaft – nichts an diesem Werk war materiell, außer die Gestalt des sozialen Verhaltens, zu der es einlud.
Im Juli 2017 entstand im Gropius Bau unter dem Titel «Limits of Knowing» ein Ausstellungsmodell, dessen Thema Grenzerfahrungen waren – nicht nur hinsichtlich neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse wie der Entdeckung der Gravitationswellen, sondern auch der Auseinandersetzung mit dem Thema Tod und Selbstauflösung. So entstand ein Cluster aus drei Ausstellungsmodulen, die in ihren Räumen unterschiedliche Formen eines affektiven Verstehens ermöglicht haben: Für die szenische Installation «Nachlass – Pièces sans personnes» erarbeiteten Rimini Protokoll gemeinsam mit sterbenskranken oder todesmutigen Menschen acht Räume, die nach ihrem Tod an sie erinnern sollen. Sie schufen eine szenische Situation, in der sie weiterhin anwesend blieben und ihre Besucher*innen begrüßten, auch wenn sie selbst inzwischen aufgehört hatten zu leben. Die Grenzen des eigenen Körpers und der Wahrnehmung standen auch im Zentrum der multisensorischen Rauminstallation «Haptic Field (v2.0)» von Chris Salter + TeZ, in der die Besucher*innen durch Ganzkörperanzüge und gescriptete Räume voller musikalischer, olfaktorischer und farblicher Reize geleitet wurden, die die Grenze zwischen innen und außen tendenziell auflösen wollten. Das von Isabel de Sena kuratierte Ausstellungsmodul «Arrival of Time» erkundete schließlich in Zusammenarbeit mit Künstler*innen und Wissenschaftler*innen des LIGO California Institute of Technology ein neues Verständnis von Zeit, wie es durch die erstmalige Messung von Gravitationswellen im Herbst 2015 entsteht. Kurz vor der Verleihung des Nobelpreises an diese Forscher konnten die Besucher*innen miterleben, wie diese an der «Übersetzung» von Wissensmodellen arbeiteten, die nicht mehr intuitiv verständlich sind, und daher gemeinsam mit Künstler*innen nach neuen Wegen der Vermittlung von wissenschaftlichen Erkenntnissen suchen.
Als ein «Kammerspiel» bezeichnete Ed Atkins seine für den Gropius Bau entwickelte Ausstellung «Old Food». In ihr standen seine computergenerierten Arbeiten auf großen Monitorwänden 6000 Kostümen aus dem Fundus der Deutschen Oper Berlin gegenüber, die als Objet Trouvé so ausgestellt wurden, wie sie dort eingelagert sind. Als die physische Hülle literarischer Phantasien kontrastierten sie die Frage nach dem Realitätsstatus von Atkins CGI-Figuren, deren Aktionen über die fünf Räume hinweg synchronisiert und musikalisch verbunden waren, sodass eine Komposition aus physischen Objekten, filmischen Phantasien und intellektuellen Kommentaren auf den hölzernen Wandtafeln entstanden.
Diese Experimente mit dem verzeitlichten Format der Ausstellung haben wir im Sommer 2018 mit zwei großen Ausstellungen fortgesetzt. Seine erste große institutionelle Einzelausstellung in Deutschland gestaltete der französische Künstler Philippe Parreno als einen lebendigen Organismus, der durch Licht, Klänge und Bilder in Bewegung versetzt wurde. Hierbei ging es weniger um das einzelne Objekt, als um das choreografierte Zusammenspiel der verschiedenen Komponenten. Die Anwendung von Zufallsmethoden erlaubte der Ausstellung, sich über einen bestimmten Zeitraum zu entwickeln und zu verändern, sodass das Werk zu eigenem Leben erwachte. Ein neues Format zwischen Gruppenausstellung und Aufführungskunst entwickelten die Kuratoren Thomas Oberender und Tino Sehgal für «Welt ohne Außen. Immersive Räume seit den 60er Jahren». Ausgehend vom Light and Space Movement der späten 60er-Jahre über Arbeiten zeitgenössischer Künstler*innen wie Dominique Gonzalez-Foerster und Cyprien Gaillard bis hin zu Performances und Workshop-Angeboten spannte die Ausstellung ein Panorama unterschiedlichster immersiver Praktiken, durch die Kategorien wie Betrachter*innen und Werk verschwammen und Subjekt und Objekt an Distanz verloren.
Einen ganz anderen Weg gehen wir in der Reihe «The New Infinity», in der wir Planetarien als neue Orte der zeitgenössischen Kunst verstehen. Planetarien, die vor knapp 100 Jahren in den deutschen Großstädten gebaut wurden, als der natürliche Sternenhimmel über den Städten, wie Hans Blumenberg bemerkte, durch die Lichtverschmutzung, aber auch den Rauch über den Häusern nicht mehr zu sehen war. Die von der Firma Zeiss entwickelten Planetarien ermöglichten erstmals eine Fulldome-Projektion, die jene halbrunde Architektur aus Beton in dem Moment zum Verschwinden brachte, da die künstlichen Sterne zu leuchten begannen. Bis heute bieten Planetarien eine der wenigen Möglichkeiten, immersive Erfahrungen im Sinne eines «Rundum-Geschehens» gemeinsam mit anderen Menschen zu erleben. Zudem waren Planetarien die Orte, an denen bereits um die Jahrtausendwende digitale Projektionsverfahren und Raumklangsituationen geschaffen wurden, in denen jene filmischen Verfahren getestet und neue Standards entwickelt wurden, die später für VR-Filme so bedeutsam wurden.
Mit «The New Infinity» wollen die Festspiele in ihrer Reihe Immersion daher diese exzellente Hardware von Planetarien und das dort vorhandene technische Wissen dezidiert Künstler*innen zur Verfügung stellen, um neue Arbeiten von Filmemacher*innen, Gamedesigner*innen und Klangkünstler*innen zu fördern, die dieses immersive Genre der Fulldome-Projektionen ausprobieren wollen. In Koproduktion mit dem Planetarium Hamburg produzieren wir von 2018 bis 2020 neue Arbeiten für die digitalen Fulldome-Systeme von Planetarien. Fulldome beschreibt den technisch maximalen Bildeindruck unserer Zeit, der als Gruppe erleb- und teilbar ist. Die weltweit verbreite Hardware der Planetarien wird somit erstmals als Raum für die Künste erschlossen.
In einem Mobile Dome auf dem Mariannenplatz eröffnete im Herbst 2018 die neue Programmreihe mit Arbeiten von David OReilly, Holly Herndon & Mathew Dryhurst und Fatima Al Qadiri & Transforma sowie einem Abschlusskonzert mit William Basinski, Evelina Domnitch & Dmitry Gelfand. Sämtliche bisher produzierten Arbeiten werden auf Festivals rund um die Welt gezeigt. Der zweite Werkzyklus von «The New Infinity» mit neuen Arbeiten von Agnieszka Polska, Metahaven und Robert Lippok & Lucas Gutierrez feierte seine Weltpremiere im August 2019 in Kooperation mit dem Internationalen Sommerfestival Kampnagel im Planetarium Hamburg. Im September und im Rahmen der Berlin Art Week wurden die neuen Arbeiten dann erneut in unserem Mobile Dome gezeigt, der an seinen angestammten Ort auf dem Berliner Mariannenplatz zurückkehrte.
Neben diesen Fulldome-Produktionen, die bewusst im öffentlichen Raum gezeigt werden, produzieren die Festspiele seit 2016 zudem Filme für VR-Brillen, um auch in diesem Medium künstlerische Arbeiten zu entwickeln, die Positionen zeitgenössischer Künstler*innen erlebbar machen. Im Rahmen einer Kooperation mit ARTE entstanden bisher zwei in der kostenlos erhältlichen ARTE360 VR-App und auf der ARTE-Website verfügbare 360°-Filme, die analoge Kunsträume in virtuelle Welten verlängern. Der gemeinsam mit INVR.SPACE produzierte 360°-Film «RHIZOMAT VR» von Mona el Gammal feierte im März 2017 beim SXSW (South by Southwest) Festival in Austin, Texas seine Weltpremiere und versteht sich gleichermaßen als Experiment mit den künstlerischen Möglichkeiten wie auch als Kritik am Medium Virtual Reality.
Im April 2018 führten wir die Kooperation mit ARTE mit «Mutter und Sohn = Realität trifft Kunst (Z.U.K.U.N.F.T. der Unendlichkeit)», der ersten Virtual-Reality-Produktion von Jonathan Meese und seiner Mutter Brigitte Meese, fort. Im virtuellen Atelier des Künstlers erleben die Betrachter*innen die Entstehung eines 360°-Gesamtkunstwerks der Zukunft. Für die Erstpräsentation im April 2018 wurde der von Jonathan Meese während der Dreharbeiten gestaltete Raum im Gropius Bau wieder aufgebaut. Besucher*innen konnten dort die Entstehung eines Kunstwerks im Kunstwerk selbst erleben.
Das künstlerische Programm von Immersion wird auch durch diskursiv-performative Formate begleitet, die den Gropius Bau auf ungewöhnliche Weise bespielen und unerwartete Perspektiven auf das Ausstellungshaus und seine Räume eröffnen. Die von Cornelius Puschke kuratierte «Schule der Distanz» gestaltete im November 2016 den Konferenzraum, Vorplatz, die Treppenhäuser und Garderoben des Ausstellungshauses zu Kunstorten um, und im Januar 2018 verwandelte Eva Veronica Born für «INTO WORLDS. Das Handwerk der Entgrenzung» den Lichthof in einen Konferenzort.
An einem 110 Meter langen Tisch begaben sich Künstler*innen und Wissenschaftler*innen in einen Austausch mit dem Publikum, während in den umliegenden Ausstellungsräumen u. a. Videokunst aus der Julia Stoschek Collection, eine Virtual-Reality-Experience und eine Sound-Installation zu erleben waren. In Zusammenarbeit mit der Bundeszentrale für politische Bildung forschte die von dem Theater- und Medienwissenschaftler Andreas Wolfsteiner konzipierte internationale Konferenz und Ausstellung den Künsten der Immersion in drei Bereichen nach: in spektakulären Unterhaltungsformaten, spirituellen Praktiken und handwerklichen Körpertechniken.
Im dritten Jahr der Projektreihe Immersion wenden wir den Begriff ins Gesellschaftliche: Was bedeutet es, wenn politische Grenzen verschwinden, wenn Menschen soziale Systeme bilden oder stürzen? Wie können wir andere Formen von Gesellschaft testen und uns künstlerisch damit auseinandersetzen?
Mit der Wiederkehr des Palast der Republik als dreitägige Performance erinnerten wir im März 2019 an die Geschichte der Revolution vor 30 Jahren, an alternative Konzepte von Politik, Ökonomie und Umweltschutz, wie sie damals von Bürgerrechtler*innen und Expert*innen entwickelt und in einem neuen Verfassungsentwurf formuliert wurden. Die Aktivist*innen dieses Umbruchs im Osten vor 30 Jahren haben wir mit den Reformagent*innen einer jüngeren Generation von heute in Berührung gebracht und ein «Empowerment Ost» begonnen. Im symbolisch neu errichteten Palast als soziale Skulptur wurde mit parlamentarischen Ausschüssen und paraparlamentarischen Panels, Konzerten und Performances drei Tage lang der Übergang und das Denken anderer Verhältnisse diskutiert, praktiziert und gefeiert.
In der Europapremiere seiner 24-stündigen Pop-Odyssee durch die amerikanische Geschichte inszeniert der Performer, Autor und Aktivist Taylor Mac eine queere Bühnenshow, die zugleich ein gesellschaftliches Ereignis kreiert: «‚A 24-Decade History of Popular Music‘ ist ein Reenactment, das zeigt, warum Individuen auf lange Sicht Verlierer sind, während Gemeinschaften und Bewegungen, wenn sie kontinuierlich zusammengeführt werden, das Potenzial haben, zu gedeihen und immer gerechter zu werden», so Taylor Mac. Die in New York entstandene Show wurde in Berlin durch Künstler*innen der lokalen Szene erweitert und entwickelte mit Elementen aus Musical, Kabarett, Burlesque, Drag Show und Happening eine vielstimmige und groß orchestrierte Gegengeschichte der USA.
Eine «Testgesellschaft» ganz anderer Art entsteht in Mariano Pensottis Stück «Diamante», in dem er eine Werksiedlung, die im argentinischen Dschungel angesiedelt ist, ins Berliner Festspielhaus bringt und die Geschichte einer Modellstadt erzählt. Die Besucher*innen unserer Koproduktion mit der Ruhrtriennale, den Wiener Festwochen und dem Grand Theatre Groningen laufen in dieser Aufführung durch ein Dorf, von Haus zu Haus, und «sammeln» so, umgeben von den Darsteller*innen und den schleichenden Veränderungen ihrer Umwelt, verschiedenste Impressionen eines Gesellschaftswandels, der schließlich in den Untergang dieses utopischen Gesellschaftsprojekts führt.
Die dritte Runde von Immersion zeigt – neben der Programmreihe «The New Infinity» – Testgesellschaften, die Veränderungen aus der Nähe erfahrbar machen, aus dem Dabeisein, wenn Menschen über Grenzen gehen und so etwas Neues entsteht. Über den künstlerischen und wirkungsästhetischen Rahmen immersiver Erlebnisse hinaus bewegt sich das Programm damit in das Feld politischer und aktivistischer Prozesse. So wird Immersion als Strategie politischen Handelns, als Praxis der Auflösung verfestigter Denkmuster und Identitätsentwürfe sowie als Suchbewegung nach anderen Gemeinschaften neu befragt. Mit ungewöhnlichen Formaten setzen die Festspiele die Reihe ihrer experimentellen Gast- und Eigenproduktionen fort, die sie 2016 mit Mona El Gamals narrative Space «Rhizomat» im ehemaligen Ostberliner Fernmeldeamt, Jonathan Meeses «MONDPARSIFAL BETA 9–23» im Festspielhaus oder dem «Nationaltheater Reinickendorf» von Vegard Vinge / Ida Müller in einer ehemaligen Munitionsfabrik begonnen haben. Die Idee der «Testgesellschaften» bezieht sich 2019 auf Stückformate, die bewusst andere Formen der Begegnung mit der Aufführung eröffnen und den Besucher*innen die Möglichkeit einer frei gewählten Perspektive oder Partizipation ermöglichen.
Die Programmreihe Immersion widmete sich 2020 jenen Ökologien, in die der Mensch eingebettet ist und die aus Maschinen, Pflanzen, sozialen Praktiken, anderen Spezies und Landschaften bestehen.
Das Projekt «Down to Earth. Klima Kunst Diskurs unplugged» untersuchte das Klima als das größte immersive System, dem wir nicht gegenüberstehen, sondern das wir beeinflussen und von dem wir beeinflusst werden. Anstatt eine weitere Ausstellung mit künstlerischen Positionen zum Klimawandel zu machen, versuchte das Sommerprojekt im Gropius Bau das Betriebssystem des Ausstellungs- und Festivalmachens offenzulegen und partiell zu verändern. Grundregeln für das kuratorische Team und für die ca. 200 beteiligten Künstler*innen, Wissenschaftler*innen und Expert*innen des Alltags waren: keine Flüge, Transparenz bezüglich der verbrauchten Ressourcen und der nachhaltigen Strategien sowie ausschließlich analoge Werke in einer Schau, die keinen Strom verwendet. Um verschiedene Öffentlichkeiten zu verbinden, die sich sonst selten begegnen, bestand das vierwöchige Klima-, Kunst- und Diskursprojekt aus mehreren Clustern. Neben 2000 Quadratmetern zeitgenössischer Kunst gab es mehrere Räume für ein Performance- und Musikprogramm unplugged, die Working Spaces einer aktivistischen Akademie aus Athen und des Pariser Kollegs SPEAP unter der Leitung von Bruno Latour und Frédérique Aït-Touati sowie öffentliche Expert*innengespräche mit Pionier*innen der solidarischen Landwirtschaft, der Repair-Cafés oder der Tiny-House-Bewegung. Down to Earth nahm die Grenze zwischen Natur und Kultur in den Blick und machte sie porös, wobei der Check unseres eigenen «Betriebssystems» – des Modus, in dem wir arbeiten, uns ernähren, reisen oder Ausstellungen machen – ein zentrales Element bildete.
Unser planetarisches Format «The New Infinity» war erstmals im Zeiss-Großplanetarium in der Prenzlauer Allee zu Gast. Neben der neuen Spielstätte gab es auch eine neue Programmlinie, die klassische Avantgardefilme der «Visual Music» für den Kuppelraum adaptiert. Der Ausdruck «Visual Music» bezieht sich einerseits auf die Verwendung und Übersetzung musikalischer Strukturen in visuelle Bilder und darüber hinaus auf Methoden oder Geräte, die Töne oder Musik in eine verwandte visuelle Präsentation übersetzen können. Den Beginn der neuen Programmlinie bildeten in diesem Jahr die meditativen, nordlichtartigen Farbsymphonien des Lichtkünstlers Thomas Wilfred (1889-1968). Zum diesjährigen Programm gehörten außerdem eingeladene Arbeiten von Jan Kounen und Joanie Lemercier, die Weltpremiere von Caterina Barbieris und Ruben Spinis audiovisueller Show «Aurora Wounds» sowie eine retrospektive Werkschau ausgewählter TNI-Classics.
Mit einer Reihe von «Features» knüpften wir 2021 an das nachhaltig konzipierte Sommerprojekt «Down to Earth» (2020) an, um diese Expedition ins Ganze fortzusetzen und neue Praktiken der Nachhaltigkeit und der systemischen Erfahrung sowie marginalisiertes Wissen wie das der indigenen Kulturen zu stärken. So realisierte eine Community von Spinnenwahrsager*innen aus Somié im Kamerun gemeinsam mit dem Künstler Tomás Saraceno und der «Arachnophilia»-Community das Webportal «Nggàm dù», um ihre Praxis des Wahrsagens mit anderen zu teilen. Das Webportal widmet sich den unzähligen Kommunikationsprozessen zwischen Mensch und antwortender Spinne – jenseits der Begrenzungen durch Sprache, Zeitzonen und Spezies. Auf der Suche nach einem besseren Gleichgewicht zwischen Menschen, Techno- und Biosphäre wurde so ein Dialog mit unseren arachniden Verwandten eröffnet. In einem weiteren «Feature» sprach der Regisseur Bartosz Żurowski mit Hushahu Yawanawa, der ersten Frau in der Geschichte der indigenen Gemeinschaft der Yawanawa aus dem Nordwesten des heutigen Brasiliens, die zur spirituellen Führerin ernannt worden ist und auf diese Weise mit der patriarchalen Tradition ihrer Gemeinschaft gebrochen hat. Und für die Publikation «Down to Earth» versammelten wir 14 Entwürfe für eine Kultur der Nachhaltigkeit aus Kunst, aktivistischen Kontexten, Wissenschaft und Politik, die sich der Praxis einer ökologischen Wende verschreiben: weg von einem westlichen Denken, das die Elemente des Lebens isoliert, extrahiert und verwertet, hin zu Strukturen, die ganzheitlich und respektvoll funktionieren. Die Beiträge arbeiteten auf je eigene Weise am Update des menschlichen Betriebssystems, dessen bisheriges Programm «Anthropozentrismus» mit dem Klimawandel an ein Ende gelangt ist: Unser Weltbild kippt von einer Epoche, in der der Mensch zur Naturgewalt wurde, in Richtung eines neuen Bewusstseins für unser Eingebettet-Sein in ein Ökosystem aus anderen Lebewesen neben, in und mit uns.
Anlässlich ihres 70. Jubiläums öffneten die Berliner Festspiele vom 7. bis 17. Oktober das seit Jahren stillgelegte Internationale Congress Centrum Berlin (ICC) und bespielten diese Architekturikone von 1979 gemeinsam mit der Programmreihe Immersion mit Performance, Artistik, Musik, Filmen und Installationen. Unter dem Titel «The Sun Machine Is Coming Down» wurde ein Veranstaltungskonzept fortgeführt, das bereits mit «Palast der Republik», «Welt ohne Außen. Immersive Räume seit den 60er Jahren» und «Down to Earth» Umsetzung fand. So generierten unterschiedliche, parallellaufende Programm-Module einen künstlerischen und sozialen Raum, der durch die Verbindung von ästhetischen und politischen Prozessen neue Erfahrungswelten kreierte. Nach «Down to Earth», das das Klima als größtes den Menschen umgebendes System betrachtete, rückte mit «The Sun Machine Is Coming Down» das Bewusstsein in den Fokus – und damit einhergehend ein Bewusstseinswandel hinsichtlich unserer Konzepte von Zukunft und Leben. Der dafür ausgewählte Ort, das stillgelegte ICC, wurde mit seiner auf Simultaneität ausgerichteten High-Tech-Architektur zehn Tage lang zum Begegnungsraum und Transporteur anderer Zeiten. Hier setzte die letzte Etappe der Programmreihe Immersion an und untersuchte alternative Wissenskonzepte: indigene Wissensformen und eine radikale Medientheorie, die von den technischen Implikationen der Medien auf unser Denken und soziales Verhalten rekurriert und Literatur sozusagen als Werke ohne Autor untersucht, als Ausdruck spezifischer Technologien und Verfahren. Dieser «Dezentralisierung des Menschen» ging unter anderem Joulia Strauss in ihrem Diskursprogramm nach, das sich dem Wirken des Philosophen und Vordenkers Friedrich Kittler widmete. Zugleich wurden Kunstformen in den Blick genommen, die sich dem begrifflichen Diskurs entziehen, weil sie körperlich sind – Körperkünste wie Circus und Tanz. So stellte die Tänzerin und Choreografin Grace Tjang (Grace Ellen Barkey) ihre eigene Identität im Zuge eines längst überfälligen Dekolonialisierungsprozesses infrage, während Tino Sehgal den Besucher*innen mit «This Joy» eine Begegnung mit dem Momenthaften ermöglichte. Als weiteres Immersionsprojekt im Rahmen von «The Sun Machine Is Coming Down» lotete Alexander Vantournhout / not standing mit «Screws» die Beziehung zwischen Körper und Objekt aus und begab sich auf die Suche nach einem unbekannten kinetischen Potential. Auf gesellschaftspolitischer Ebene ist dieser umschriebene Bewusstseinswandel ebenso mit einem neuen Denken über den Umgang mit Ressourcen verbunden. So veranschaulichte Cyprien Gaillard mit seiner Arbeit «Suspire (for ICC’s control room)» die ressourcenbildende Transformation von toxischen Materialien, und materialisierte dabei die bezüglich des ICCs geführte Debatte um die Wiederbelebung schadstoffbelasteter Gebäude. Eine Herausforderung, die sich ebenso in der Einladung der Floating University Berlin spiegelt, die als unabhängige Institution alternative, biodiverse Formen des Zusammenlebens erprobt. Der von Künstler*innen geführte Verein entwickelte in seiner auf kollektives Lernen und kooperierendes Forschen ausgerichteten Praxiskultur neue Impulse für eine Aktivierung sowie Umnutzung von städtischen Räumen und ein anderes Verhältnis von Mensch, Natur und Technik.
«The New Infinity» fand 2021 erstmals außerhalb der Programmreihe Immersion als eigenständiges Festival statt – als Kooperation der Berliner Festspiele und der Stiftung Planetarium Berlin – und eröffnete mit einer Auswahl an Arbeiten die diesjährige Berlin Art Week im Zeiss-Großplanetarium in der Prenzlauer Allee. Vom 4. bis 6. November ging unser planetarisches Format auf Tour und präsentierte in Athen zusammen mit Onassis Culture und der Eugenides Foundation sowie im Rahmen der 7. Athen Biennale ECLIPSE «The New Infinity Athens». Spielort war das New Digital Planetarium, eines der größten und modernsten Sternentheater weltweit.
Dank an das Team 2016-2021 - wir sind eingetaucht und weit gereist