«Die Waldverwandlung»
Das erste Theaterstück, in dem keine menschlichen Darsteller auftraten, sah ich im Juli 2010 bei dem «Sommerszene»-Festival in Salzburg. In der Abenddämmerung lief ich in einer Besucherinnen-Gruppe der Aufführung «The Light Forrest» von Mette Ingvartsen den zentrumsnah gelegenen Kapuzinerberg hinauf. Er ist bekannt für sein Kloster, die Stefan Zweig Villa, das Ausflugslokal auf der Bergkuppe und die Relikten alter Wehrmauern, in deren Türmchen heute Obdachlose kampieren. Obgleich dicht am Zentrum gelegen, wird dieser Stadtberg mit seinen freilebenden Gämsen selbst im Hochsommer wenig von Gästen frequentiert und ist noch immer von einem weitläufigen Rotbuchenwald bedeckt.
Der abendlichen Exkursion in diesen alten Schutzwald ging eine Aufführung in einem Salzburger Studiotheater voraus. In diesem ersten Teil der Produktion zeigte Mette Ingvartsen vier Teile ihrer Serie «Evaporate Landscapes» in einem verdunkelten Raum. Die Akteure dieser Stücke waren die Elemente des Lebens: Feuer brachte die am Bode liegenden Steine langsam zum Glühen, der Wind wirbelte einen Strom aus Tausenden Seifenblasen über die Bühne und das Wasser schob sich als glitzernder Seifenschaum weit in den Raum. Diese vergänglichen Landschaften aus Licht, Sound, Schaum und Wind zeigten Materialien, die ständig ihren Zustand wechselten, als pulsierendes Glühen und weiches Fließen. Die verborgenen Apparaturen der Bühne zeigten weniger Dinge als vielmehr Kräfte und Bewegungen. Die enorme Langsamkeit, mit der sich die Erscheinungen aufbauten und veränderten, verwandelte sie in der Blackbox des Theaters in Elemente eine Welt mit eigener Zeit und Agenda.
Im Unterschied zu diesen Szenen im Theater ist der Wald des Kapuzinerbergs für die Salzburger ein vertrautes Gelände, dessen gewundene Wege sie gut kennen. Als die Vorstellungsbesucher nach dem ersten Teil der Aufführung hinaus auf den Berg wanderten, war der Waldboden vom kräftigen Regen am Nachmittag feucht, von den Blättern tropfte noch Wasser und ein feiner Dunst lag in der Luft. Im Blick auf den ansteigenden Weg bildeten die Baumkronen am Rand des Waldes bald eine schwarze Silhouette, durch die das letzte Licht des Abendhimmels fiel.
Ein Theater ohne auftretende Menschen, wie ich es in diesem Stück mit den glühenden Steinen, dem Wind und Schaum sah, erinnert an ein älteres Verständnis von Theater. In den altmodischen Worten «Lichtspieltheater» für das Kino, «Sternentheater» für die modernen Planetarien oder «Kriegstheater» für die Planungstische der Militärs klingt noch an, dass Theater als Bauten zunächst erst einmal nur Räume schaffen, in denen etwas – z.B. Sterne, Bilder, Landschaften - in eine durch Gott oder den Menschen geordnete Erscheinung tritt und «aufgeführt» wird. Oft kommen dafür spezifische Installationen, Projektionsflächen, Modelle oder Apparaturen zum Einsatz. Das Wort «Aufführung» für die Vorstellungen des Theaters wurde, so die Theaterwissenschaftlerin Barbara Gronau, ursprünglich aus der Architektur entlehnt. Das Aufführen im Sinne von Aufrichten eines Gebäudes aus einem Haufen von Steinen und Holz nach dem Plan eines Baumeisters wurde im Mittelalter zur Metapher für im Theater errichtete Welt.
Normalerweise würde beim Hereinbrechen der Nacht die Wanderung in umgekehrter Richtung verlaufen – weg aus der Natur zurück ins Tal und die Gassen Salzburgs. Doch während die kleine Gästegruppe langsam den bergauf lief, leuchtete unweit des Pfades in der finsteren Waldsilhouette ein Baumwipfel auf, angestrahlt von einem verborgenen Scheinwerfer. Vor dem letzten Blauschimmer des abendlichen Himmels wirkten die fächrigen Zweige im kalten Kunstlicht wie nachgebaut aus Papier. Man lauschte unwillkürlich in den Wald, ob sich andere Dinge ereignen, aber außer dem Geräusch, das die Gruppe selbst verursachte, war es still. Wenig später erschienen in den hohen Ästen einer Lärche dünne Leuchtschnüre aus kleinen LED-Lampen, deren Lichtfäden sich im Wind bewegten. Ihre einzelnen Leuchtpunkte waren so programmiert, dass es Vorübergehen schien, als ob ihr Licht wie Wasser von den nassen Zweigen zu Boden zu tropft. Etwas weiter hing zehn Meter über dem Waldboden eine einzelne Neonröhre zwischen den Stämmen, ein fragiles, gläsernes Objekt, um das die Falter schwirrten. Es war ein Sommernachtstraum mitten im Stadtwald, der das Unheimliche des nächtlichen Berges durch die Präsenz der Technik mit der Präsenz all dieser aus dem Dunkel hervortretenden Lebewesen verband.
Je tiefer die Gruppe in den Stadtwald lief, um so mehr verlor sich der eigentliche Weg und bildete sich eine Gänsemarschkette, die einem unscheinbaren Pfad folgte, der am Boden, zwischen Laub und Gras durch eine Spur aus schwach phosphoriszierenden Steinchen markiert wurde. Jedes war kaum größer als ein Kiesel. Diese bei Tage unscheinbaren, das Sonnenlicht speichernden Kunststeine werden vom Militär zur Markierung von Wegen bei Nachteinsätzen verwendet. Hier, in dieser Aufführung, schufen sie eine geisterhafte Leuchtspur zwischen Farnen und Heidelbeersträuchern. Die Stämme der alten Lärchen, Bergahorn und Buchen glänzten feucht vom Regen und spiegelten das kalte Licht herabhängender Leuchten, die Mette Ingvartsen unter einige Baumkronen montiert hatte. Sie ließen den Wald wie ein «Bühnenbild» erscheinen, das nicht von Menschen gebaut, sondern aus der Flora herausgeleuchtet und erblickt wurde und offensichtlich lebendig war. So entstand eine Szene ohne Auftritte, alles war schon da, nur wir, die Gäste, traten hier auf.
In diesem nächtlichen Waldtheater verwandelte sich das Natürliche stellenweise in etwas Fremdartiges und zugleich intensivierte diese Inszenierung der Künstlerin die Präsenz dessen, was an diesem Ort immer da ist: die alten Fichten, Nachtvögel, die Kälte des Abends, die Feuchtigkeit auf den Blättern und Pfützen am Boden, das Geröll und Laub. Eine angestrahlte Lärche zeigte sich vor dem Hintergrund des Waldes wie eine mächtige Skulptur - ein großes, schweigendes Lebewesen, mit abgestorbenen Ästen und toten Zapfen zwischen den feinen Nadelblättern, die aus ihrem Stamm wachsen. Plötzlich wusste ich um den Platz dieser Lärche, an dem sie seit Jahrzehnten wächst und sah in dieser fremdartigen Beleuchtung auch das Einmalige dieses Baumes.
Am Ende des Stückes führte der Weg auf eine Lichtung, über der ein großer Beleuchtungsballon schwebte, wie er an Filmsets verwendet wird. Nach und nach trafen hier die Teilnehmer dieser Wanderung und Waldverwandlung ein und schauten noch eine Weile auf die Pflanzenkulisse, die sich rundum aus dem Dunkel löste. Mir war, als hätte ich die Realität dieses Berges und seines Waldes so noch nie erlebt. Dann erhielt unser Grüppchen von den Guides, die den Gänsemarsch bislang wortlos angeführt hatten, eine Beschreibung des kurzen Weges zur Fahrstraße, die hinab in die Altstadt führt. Wir waren nur fünfzig Meter entfernt von einem mir gut bekannten Terrain, doch der Wald erschien an diesem Abend in einem völlig anderen Licht.
Licht schafft, wie die Dunkelheit und Sound, einen gemeinsamen Raum, etwas, in dem man sich, wie Gernot Böhme es in seinem «Atmosphären»-Buch formulierte, befindet, statt ihm gegenüber zu stehen. Die Bespielung dieses Berges schuf eine Situation, in der die Besucher dem Wald nicht, wie zuvor den Objekten auf der Bühne, von draußen betrachten, sondern von ihm umgeben waren. Das Licht schuf Inseln der Fremdheit und Verwandlung in dieser Pflanzenwelt und das gesamte Stück vermittelte sich rein atmosphärisch, als emotionale Tönung des Raums - die ein, wie Böhme sagt, schwebendes Zwischen erzeugte, zwischen den Dingen und den wahrnehmbaren Subjekten. In diesem Fall verband das Zwischen einen Raum zwischen verschiedenen Dingen, Pflanzen und Tieren. Mette Ingvartsens Stücke zeigten eine Welt ohne uns. Eine Welt, die auf jenen Brettern, die für Schiller die Welt bedeuten, in der Regel nicht erscheint.
Die in der Renaissance entstandene Guckkastenbühne zeigt die Welt in ihrem Portal als ein perfekt organisiertes Bild. Der Blick vom Saal fällt innerhalb dieses damals entstandenen Portal-Rahmens auf eine selbstgemachte Welt, in der alles von Menschenhand erschaffen ist, für Menschen, durch Menschen und mit Menschen. Diese im Italien des 16. Jahrhunderts konstruierten Bauwerke sind Raumschiffe: In sich geschlossene Welten, die mit jeder Aufführung abheben von der Welt, in der sie stehen. Mit diesen neuen Apparaten träumt sich der Mensch an andere Orte und in andere Zeiten. Gleiches ließe sich auch über das antike Theater sagen, oder über die Mysterienspiele des Mittelalters. Aber diese neuen Apparate waren anders, waren von einem neuen Geist erfüllt und schufen einen neuen Typus von Raum. Nicht mehr die Götter lenkten die Geschicke wie in der archaischen Zeit, nicht mehr der christliche Gott bezeugte das Geschehen wie im Welttheater Calderons, sondern diese neuen Theaterwelten waren erfüllt vom Renaissance-Geist von Architekten, Kaufleuten, Mathematikern oder Musikern. Sie waren Mitglieder jener Akademien, die sich damals in einigen reichen Städten Italiens gründeten und jene Guckkasten-Theater schufen, deren Grundprinzip der Black Box bis heute beibehalten wurde.
Zum ersten Mal wurde ein solcher Theaterbau neuen Typs 1579 von der «Olympischen Akademie» in Vicenza an den Architekten Andrea Palladio in Auftrag gegeben. Das Motto der jungen Akademie lautete «hoc hopus hic labor est» («hier sind die Schwierigkeiten, hier ist die Herausforderung») und ihr Ziel war, in dieser neuen Institution alle Künste zu kultivieren – von den Waffenkünsten über die Mathematik und Philosophie bis zum Theater. Mit ihrem neuen Theaterbauwerk reisten diese Akademiker 1585 in Sophokles Antike, doch die Maschine, die sie dafür erfanden, führte in eine ganz andere, neue Zeit. Ihr Raumschiff war klang- und lichtdicht. Kein Ton von draußen drang mehr herein, kein Tageslicht, kein Zufall, die lebendige Stadt blieb draußen, genauso der Wind, der Regen; doch dafür landete das Raumschiff auf einmal mitten in Sophokles Theben, einer durchs Portal täuschend echt erscheinenden Stadt, das im teatro olympico 1585 auffällig den Straßenzügen des Vicenza jener Tage ähnelte.
Gaia Theater bei Theater der Zeit