«Dieses Staunen»
Thomas Oberender
Peter Handke, der Sohn einer slowenischen Mutter, die sich 1942 in einen deutschen Offizier verliebte, der sein unbekannter Vater wurde, ist ein Kind der Liebe und des Krieges, wie man nur das Kind eines Zeitalters sein kann. Seit mehr als fünfzig Jahren ist er der große Epiker seiner eigenen Lebenszeit, aber mehr als das ist er, wie Goethe, einer, der im großen Stil den kulturellen und literarischen Transfer seines Sprachraums prägt, Autorinnen und Autoren entdeckt und dabei selbst der erfindungsreichste Dramatiker des deutschsprachigen Theaters wurde. Auf der Bühne ist er ein Epiker, ein an seinen Übersetzungen antiker Stücke geschulter Erzähler und wurde, nach und anders als Brecht, der Dichter des sich selber als Theater herzeigenden Spiels.
Von der «Publikumsbeschimpfung» bis zu «Immer noch Sturm» hat Handke Erzählformen für die Bühne ersonnen, mit denen er der Theaterpraxis stets einen Schritt voraus war. Er, der Kleinhäuslersohn aus Kärnten, konnte lebenslang nicht kleinlich sein und wurde ein Weltbürger, ein Bürger der Welt im Bruno Latourschen Sinne - down to earth, verbunden mit den Wäldern, ein Pilznarr, ein Wanderer. «Überhör keinen Baum und kein Wasser», sagt er im vielleicht schönsten Bühnenmonolog deutscher Sprache des zwanzigsten Jahrhunderts, einer Verkündung seiner Figur Nova in «Über die Dörfer»: «Vergiss die Angehörigen, bestärke die Unbekannten, bück dich nach Nebensachen, weich aus in die Menschenleere, pfeif auf das Schicksalsdrama, missachte das Unglück, zerlach den Konflikt.» Seit über fünfzig Jahren geht er diesen Weg der produktiven Abschweifungen, und nicht jeder mochte ihm folgen. Wenn der Nobelpreis aus den deutschsprachigen Ländern heraus vergeben worden wäre, hätte Peter Handke den Nobelpreis wahrscheinlich nicht gewonnen - so wenig hat man ihm seine Treue zu Serbien und dem Neunten Land, dem einstigen Jugoslawien, bis heute verziehen.
Ich verstehe die Nobelpreis-Ehrung Peter Handkes nicht als Anerkennung des reinen Dichters, die vom politischen Menschen Handke absieht. Aber auch nicht als dessen Rehabilitierung, sondern als die Würdigung eines komplizierten Lebens, das kein Heldenleben im glattgebügelten Sinne ist, sondern empathisch und sensibel nicht nur für das, was uns allen lieb ist, sondern auch für die von uns Angegriffenen. Die Entscheidung des Nobelpreiskomitees ehrt für mich die Fähigkeit eines Künstlers, sich ins Abseits zu stellen, sein Zuhause in der Fremdheit zu finden, und zugleich ein durchlässiger Mensch zu bleiben. Wie Shakespeares Prospero schuf sich Peter Handke mit seinen Stücken eine Insel, auf der er freisetzen konnte, was er zwischen Alaska und Slowenien, der Vorstadt und den Begegnungen mit den eigenen Ahnen aufgesammelt hat.
SZ Online 10.10.2019