«Die Dialektik der Puppe»
Zwei Ausstellungen von Gisèle Vienne und ihre Aufführung «Crowd» in Berlin
Von Thomas Oberender
Es ist selten und noch immer ungewöhnlich, dass Künstler und Künstlerinnen, die Anerkennung und Bekanntheit in der Welt des Theaters gefunden haben, auch in der Welt der Bildenden Kunst nicht nur Aufmerksamkeit erfahren, sondern mit eigenen Ausstellungen in Erscheinung treten. Robert Wilson ist eine dieser Ausnahmeerscheinungen, ähnlich die belgischen Künstler Jan Fabre oder Jan Lauwers, die beide an Kunsthochschulen studiert haben. Zu den großen Ausnahmen zählt auch die Ausstellung des Bühnenbildners Wilfried Minks im Centre Pompidou und die Ausstellungen mit Objekten und Environments von Anna Viebrock, doch die Beispiele sind rar.
Dies wirkt um so erstaunlicher, da umgekehrt bildende Künstlerinnen und Künstler wie Tacita Dean, Berlinde de Bruyckere, Shirin Neshat, Wolfgang Tillmans oder Neo Rauch ganz selbstverständlich dazu eingeladen werden, Bühnenbilder für Opern und Theaterstücke zu gestalteten. Zudem werden Ausstellungen in Museen und Biennalen immer szenischer wie in den Möbelkunsträumen von Henrike Naumann oder immersiven Installationen von Olafur Eliasson, Pierre Huyghe und den Kunstritualen von Tino Sehgal.
Dass die Werke der französisch-österreichische Regisseurin, Choreografin und Künstlerin Gisèle Vienne in Berlin gleich mit zwei Ausstellungen im Georg Kolbe Museum und dem Haus am Waldsee präsentiert werden und zeitgleich die Sophiensäle ihr Bühnenstück «Crowd» von 2017 wieder aufgenommen hat, verleiht der Arbeit dieser 1976 geborenen Künstlerin eine enorme Aufmerksamkeit und führte zu einer kleinen Sensation in der Berliner Kunstwelt.
In der Ausstellungswelt wird Gisèle Vienne, deren Aufführungen das Pariser Festival d’Automne von September 2021 bis Januar 2022 eine umfassende Werkschau widmete, nun zuerst als bildende Künstlerin vorgestellt, und dann erst als Theaterregisseurin und Choreografin. Seit ihrem elften Lebensjahr hat Vienne gemeinsam mit ihrer Mutter Dorle Vienne-Pollak, die selbst Künstlerin ist, Puppen gebaut. Später studierte sie Philosophie und Puppenspiel, bevor sie 1999 eine eigene Theaterkompanie gründete. Seit zwanzig Jahren führt sie Regie und ihre Aufführungen waren von Beginn an stark durch Choreografien und die Präsenz von Puppen geprägt. Mehr als hundert lebensgroße Teenager-Puppen mit zartem Gesicht sind seither für ihre Aufführungen entstanden und je zwei Dutzend von ihnen werden in den beiden Berliner Ausstellungen gezeigt.
Ihre Ausstellung im Haus am Waldsee hat Vienne «This Causes Consciousness to Fracture” genannt, nach einem Track der Komponistin Catarina Barbieri. Deren ambienthafte Musik zieht wie am Morgen nach einer Party von Raum zu Raum und bringt das Vergehen von Zeit ins Spiel. Eine Ausstellung mit Musik ist selten. Durch sie verbinden sich die Kunstobjekte unterschwellig mit einer Stimmung, die anziehend und zugleich unheimlich wirkt, ganz ähnliche wie auch die Figuren von Gisèle Vienne. Ihre Ausstellung im Haus am Waldsee nannte sie «Ein Puppenspiel».
Das Spiel beginnt im Vorraum mit der Rückenansicht einer langhaarigen Mädchenfigur, die auf einem Podest nahe der Wand sitzt und den eintretenden Gästen den Rücken zeigt. Es braucht einen Augenblick, diese Figur als Puppe zu erkennen. Da Gisèle Vienne ihre Bühnenfiguren für den szenischen Gebrauch voll beweglich konstruiert, kann das Mädchen auf dem Podest eine natürliche Haltung einnehmen. Hinter ihrem Rücken kommen und gehen die Besucher, während sie reglos auf einen zerknitterten Brief in ihrer Hand herabschaut und scheinbar ihren Gedanken nachhängt.
Wie alle Theaterfiguren in diesen Ausstellungen vollzieht auch diese lebensgroße Puppe in den Räumen des Museums einen Wandel zur Skulptur. Sie blickt nicht nach außen, sondern ist in ihrer eigenen Stille versunken und ruht an einem Ort, den die Betrachtenden nicht erreichen. Das erinnert an die Müden und Beladenen des Bildhauers Duane Hanson, aber Gisèle Vienne zeigt ausschließlich junge Menschen in einem Alter zwischen Kindheit und dem Eintritt in die Erwachsenenwelt.
Die Spuren dieses Übergangs mischen sich. Das Mädchen auf dem Podest trägt ein himmelblaues Sweatshirt und Wollstümpfe in schwarzen Ballettschuhen, während ihre Rückenansicht mit dem graublonden Langhaar bereits eine Erwachsene zeigen könnte. Ihr stark geschminktes Gesicht hat Gisèle Vienne wie bei all ihren Figuren aus Ton modelliert, von dem sie einen Harzabguss anfertigt und die Maske mit Acrylfarbe bemalt. Der Gesichtsausdruck des Mädchens erinnert an die Kinderportraits des belgischen Malers Fernand Khnopff, die ähnlich maskenhaft und unnahbar wirken, obgleich sie aus ihrer puppenhaften Pose den Betrachtern offen in die Augen schauen.
Gisèle Vienne modelliert gut hundert Jahre später ihre Gesichter nach Fotos und ergänzt die Puppenkörper aus Holz und Glaswolle mit den Abgüssen von Händen und Füßen realer Teenager. Später, nach dem Verlassen der Ausstellung, fallen mir diese jungen Teenager mit ihren Fast Fashion-Klamotten, Halloween-Shirts und Baseball-Caps plötzlich überall in der Stadt auf. Man sieht ihnen ihre eigene Schönheit an, wie sie dem Druck ausweichen, der sie in bestimmte Formen des sozialen Lebens presst und wie sie mit den widersprüchlichen Kräften im eigenen Inneren ringen.
Gleich neben der lesenden Torwächterin Rose öffnet eine Tür den Blick auf zwei hintereinanderliegende Räume, zu denen ein Absperrband den Zutritt verwehrt. Im ersten Raum liegt wie auf einer Bühne ein Mädchen mit verdrehten Beinen auf dem weiß ausgelegten Kunststoffboden. Ihre Haltung und ins Leere schauenden Augen wecken den Verdacht, dass sie nicht mehr lebt, was angesichts einer Puppe ein seltsamer Gedanke ist. Im Erkerzimmer dahinter zeigt Vienne das stumme Tableau einer Teenagerparty. Die Figuren liegen auf und vor einer Liege, hocken am Boden zwischen Chips und Konfetti und scheinen für einen Moment nur der Musik von Caterina Barbieri zu lauschen.
Diesem intimen Stillleben dieser Party und Toten folgt im nächsten Raum eine Serie von 13 Schneewittchensärgen, in denen bei einigen Puppen an den Sohlen ihrer Schuhe Schmutz und an ihren Beinen blaue Flecken auffallen. Vielleicht können diese Glassärge ihre kindliche Reinheit bewahren, doch die Welt hat an ihnen schon ihre Spuren hinterlassen. Es sind fast ausschließlich Puppen von Mädchen, deren Hautfarbe weiß ist, wie auch die der Künstlerin. Ihre aufgebahrten Teenager zeigen Totenmasken mit frischen Gesichtern und haben bereits ein langes Leben auf der Bühne hinter sich.
Im Obergeschoss setzt sich das Puppenspiel in einer Installation der Transportkisten der Puppen fort, die hier wie ihre Särge wirken. Sie erscheinen als sinistres Pendent zu mehreren Portraitserien mit Nahaufnahmen der Puppengesichter im Stil von Fellinis «Faces». Das Innenleben der Jugendfiguren tritt in ihren glatten Gesichtern mit keiner Regung zutage. Sie erscheinen vertraut, doch geben in keiner Weise Auskunft oder Antwort. Das Unheimliche dieser Teenager-Gesichter ist das verdreht und verstörend erscheinende Vertraute, das von ihnen ausgeht. Sigmund Freud hat es mit dem Wort «Heim» verbunden, das in «unheimlich» anklingt. Auch außerhalb ihrer Schneewittchensärge wirken diese Figuren wie aufgespießte Schmetterlinge, lebensschön und unzugänglich zugleich.
Gisèle Viennes Fotoserien erinnern an die Wiederkehr puppenhafter Fashion-Models, an die a part-Blicke der gespaltenen Portraits von Lutz Bacher oder die weit weniger illusionistische «Schauspieler»-Serie von Isa Gentzken, die noch verstörendere Familienaufstellungen um ganz ähnliche Kinderfiguren in ihrer Mitte inszeniert hat. Gisèle Viennes Puppen sind Menschenähnliche, dicht am Original und aufgrund geringer Abweichungen auch dicht an jenem uncanny valley, das uns bei anderen technischen Wiedergängern unheimlich erscheint. Sie sind Puppen und zugleich Kadaver von Menschen, die in einer Übergangsphase erfasst wurden, im Moment, da sich in ihnen etwas entpuppt und zu Neuem wandelt.
Wirklich nahe kommt man Viennes Figuren im Georg Kolbe Museum, in dessen hohem Hauptraum plötzlich ein Pulk von acht schon etwas älteren Teenagern steht, die weiße Turnschuhe und warme Jacken tragen und von draußen zu kommen scheinen, wohin ein paar der Jungs durch die Fenster zurückzuschauen. Durch diese Gruppe wartender Jugendlicher können sich die Besucher hindurchbewegen und ihre Gesellschaft teilen. Eine schulmädchenhafte Puppe sitzt in einer Ecke des Museumsraums auf einem Campinghocker und hält auf ihrem Schoß wiederum eine Teenagerpuppe en miniature.
Im Museum, so macht diese Szene deutlich, bewegt sich der Besucher, nicht das Objekt. Hier ist alles stillgestellt, was ausgestellt wird. Statt des lebendigen Menschen, wie ihn das Theater zeigt, beobachten die Menschen im Museum etwas, das in materieller Hinsicht tot ist. Und doch wirkt das Betrachtete hier wie dort so attraktiv und wird mit Empathie aufgeladen, da es an diesem Ort so ungeschützt sichtbar und zugleich unberührbar ist. Wie diese Gisèle Viennes Teenager.
Der Dramatiker Botho Strauß beschrieb die Präsenz der Schauspielenden auf der Bühne einmal als einmalige Mischung aus Prostitution und Keuschheit. Prostitution aufgrund der sich auf der Bühne offen darbietenden Körper und ihrer Verfügbarkeit für die Betrachtenden gegen Geld. Und keusch wegen ihrer Unberührbarkeit. Das Begehren, das sie erwecken, ist um so aufreizender, weil die Vierte Wand sie vor dem Kontakt mit uns schützt. Diese Vierte Wand bauen Viennes Teenager selbst. Die Puppe jedoch, anders als die Skulptur, ist gemacht für die Berührung. Sie reagiert nicht auf uns, aber wir reagieren auf sie oder durch sie. In ihr finden wir uns selbst und verlieren zugleich ein Stück von uns in ihr.
Die Puppe ist offen für unser Verlangen nach Kontakt. Sie ist immer für uns da, nie aktiv und doch immer aktivierbar. Ganz im Sinne dieses Lieblingsworts der aktuellen Kunstszene, die gerne davon spricht, Räume und Objekte zu «aktivieren» und damit meint, dass sie in eine aktive Beziehung mit uns treten und so etwas wie Leben in sie einzieht. Puppen sind dafür ein Beispiel par excellence, denn sie werden geschaffen, um aktiviert zu werden. Noch bevor dies etwas mit Kunst zu tun hat, sind sie für Kinder eine Verbindung zur Mutter und helfen, so etwas wie ein «Ich» zu bilden und in die Welt zu gehen. Der süßsaure Reiz der Figuren von Gisèle Vienne resultiert nun aber genau daraus, dass sie dieses Spiel nutzt und zugleich verweigert, indem ihre Teenager etwas verkörpern, das unverfügbar bleiben möchte und sich noch zart und kraftvoll in einer ganz anderen Welt bewegt.
Viennes Teenager erscheinen wie zeitgenössische Märchenfiguren in dieser Gesellschaft der sie Anglotzenden, ihrer älteren Artgenossen, Lehrer und Eltern, die schockiert sind von dem Leben, das hier eingeschlossen vor ihnen aufbricht, sobald sie nur kurz die Innenperspektive dieser Puppen-Körper einnehmen. Puppen laden ein zum Gebrauch und sind anders als Skulpturen daher textil und beweglich. Teenager jedoch sind Menschen auf einer Schwelle, auf der ihnen bewusst wird, dass sie, wie Bartleby sagen würde, «lieber nicht» benutzt werden wollen. Sie schützen sich davor mit größtmöglicher Neutralität gegen uns, die Älteren und suchen sich nachtwandlerisch ihre eigene Sprache, Mode, Codes, Idole und Orte.
Das Puppenhafte bezeichnet umgangssprachlich den spiegelhaften Zustand von etwas, das keine Regung zeigt in der Begegnung mit uns. Nichts hinterlässt Spuren im Antlitz der Puppe. Dieser tiefe Wunsch, alle Fährnisse des Lebens unberührt zu überstehen, immer bei sich zu bleiben, diese Ungetrübtheit der Existenz der Puppe durch das Spiel des Lebens ist die Urkraft der Puppe. Aus ihrer Sicht ist das Leben selbst nur ein Spiel. Und wie im Spiel mit der Puppe nur der Spielende sich verändert, bleibt die Puppe selbst hermetisch, unzugänglich und fest in ihrer eigenen Welt.
Das macht sie, die stets auch als pädagogisches Idol angelegt ist, zum Gegenstand inniger Zuneigung wie auch der Gewalt gegen sie, in er sich Zorn und sozialer Stress straffrei abreagiert. Nur dass sie eben selbst dieses Spiel nicht mitspielt, egal ob ihr die Haare geschnitten oder die Kleider gewechselt werden. In diesem Sinne bezeichnete John Savage die Teenager als die einzige revolutionäre Klasse der Welt.
Wie Kinder und Tiere stehlen Puppen auf der Bühne den Schauspielern die Präsenz, indem sie alle Aufmerksamkeit auf sich lenken und das Rätsel ihrer eigenen, unberechenbaren Welt zieht immer mehr Aufmerksamkeit auf sich als jene Profis, die das Räderwerk der Inszenierung kennen und akzeptieren. Schauspieler müssen sich immer verhalten und meistens so, wie es erwartet wird. Kinder, Tiere und Puppen nicht. Die Puppe kann bleiben, was sie ist und steht als eine menschengleiche Figur in den Stücken von Gisèle Vienne für ein Leben, das ein Eigenleben führt und im Kontakt steht mit einer anderen Matrix.
Wie die Teenager das Spiel der Erwachsenen nicht mehr unbefangen mitspielen und auf die Gewalt, die Erziehungssysteme und die Eltern auf sie ausüben, mit ihrer Art von Unzugänglichkeit reagieren, verhält es sich auch mit der Puppe. Sie zeigt uns vor allem uns selbst, aber auf wundersame Weise von uns selbst befreit. Teenager, von denen gemeinhin behauptet wird, sie würden den Ernst des Lebens bald lernen, weshalb sie pausenlos pädagogisiert und oft eher ertragen als geliebt werden, wissen jedoch vom Leben noch mehr als die Erwachsenen. Sie sehen die Welt, wie sie ist, schon bei vollem Bewusstsein und trotzdem zugleich noch von außen, wie Aliens, und bis zum Ende ihrer Adoleszenz haben sie die Kraft zu widerstehen, andere Räume zu erschaffen und um sie zu kämpfen.
Sie empfinden ihr Fremdsein und die in ihnen aufkeimenden Kräfte und Gefühle noch wie eine andere Spezies als jene, der sie als Erwachsene angehören werden. Ihr Style, Gefühl und Trotz immunisieren sie gegen den Sog, über die Schwelle zu gehen, auf der sie in diesen Berliner Ausstellungen unter all den Besuchern stehen. Und das Unvermittelbare, das sie in ihrer eigenen Hormonküche erleben, ihrer Denkwelt und unzensierten Phantasie, tritt in Gisèle Viennes Theaterstücken daher in Gestalt von Puppen auf die Bühne, die sie als blinde Passagiere in das Theater der Erwachsenen schmuggelt.
Zur großen Entdeckung in dieser zweiten Vienne-Ausstellung im Georg Kolbe Museum wird daher die von Joanna Kordjak kuratierte kunstgeschichtliche Ausstellung zum Thema Puppen. Sie macht einem dem Bildhauer Georg Kolbe gewidmeten Haus einen besonderen Sinn, da sie Gisèle Viennes Teenager in den Kontext der Geschichte von Figuren auf der Schwelle zwischen Puppe und Skulptur stellt, wie sie von europäischen Avantgarde-Künstlerinnen im 20. Jahrhundert geprägt wurde. Zu den ausgestellten Kostbarkeiten aus deutschen und internationalen Sammlungen zählen die Puppen von Künstlerinnen wie Maria Jarema, Ada Bertram, Eva Regina Hildenbrand, Käthe Rothacker, Nina Simonovich-Efimova, Sophie Taeuber-Arp und Lotte Pritzel, über deren Wachsfiguren der von ihnen faszinierte Rainer Maria Rilke 1921 seinen großen Puppen-Essay schrieb.
Zu Lotte Pritzels Werk sind neben einem frühen Dokumentarfilm von 1927 bisher nie publizierte Fotografien der lebensgroßen und mit weißer Fellhaut bezogenen Puppe von Alma Mahler zu sehen, die der in sie verliebte Maler Oskar Kokoschka bei Lotte Pritzel in Auftrag gab. Kokoschka hat wiederum Jahrzehnte später Dorle Vienne-Pollak unterrichtete, die als Bildhauerin, Malerin und Mutter von Gisèle als Mitwirkende in den Credits der ersten Puppen von Gisèle Vienne erscheint. Zu den großen Entdeckungen dieser Ausstellung zählt auch die Weltpremiere von Viennes Film «Kerstin». Er ist benannt nach der Puppenspielerin Kerstin Daley-Baradel, die auf der Kinoleinwand dabei zu beobachten ist, wie sie eine Handpuppe ihres Bruders zum Leben erweckt und ihr als Bauchrednerin eine Stimme gibt.
Wie sich dieses Eindringen der Seele der Puppenspielerin in dieses Ding aus Holz und Stoff in ihren Händen vollzieht, wie sie es zum Leben erweckt und zugleich den Eigenschaften dieses Objektes, seiner Schwerkraft und Trägheit gehorcht, ist eine der magischsten Erfahrungen, die in diesen Ausstellungen zu machen sind. Puppen, so zeigt diese Künstlerin, besitzen eine eigene Dingmacht und sind eine der wenigen Möglichkeiten des Menschen, sich mit dem Nicht-Menschlichen zu verbinden. Es gelingt uns gelegentlich mit Tieren, fast nie mit Pflanzen, sieht man von deren psychoaktiven und somatischen Wirkungen ab, doch Kirsten Daley-Baradel migriert vor unseren Augen in dieses Ding und was von ihr übrig bleibt, spielt und spricht mit ihm und also sich und etwas ganz Anderes tritt dazu.
Dieser Kirsten, die im realen Leben an der Ernst Busch Schule in Berlin im Fach Puppenspiel ausgebildet wurde, bevor sie ans Puppentheaterensemble in Halle wechselte und dann eine Weltkarriere in der Zusammenarbeit mit Gisèle Vienne begann, ist deren Bühnenstück «Crowd» gewidmet, das in der Laufzeit der Ausstellungen in den Berliner Sophiensälen gezeigt wird. Nach dem frühen Tod von Kirsten Daley-Baradel entwickelte Gisèle Vienne die Choreografie eines Raves, in der nun ausgerechnet keine Puppen mehr auftreten, als sei das 2017 in diesem trauervollen Moment nicht mehr möglich.
Und doch treten die Figuren in «Crowd» wie Puppen auf, wie Marionetten, die von einem göttlichen Puppenspieler in Slow Motion durch eine kleine Tür in einen Technoclub geführt werden, eine nach der anderen, bis die elektronische Musik einsetzt und aus den vereinzelten Gästen eine Gruppe wird und die Reise beginnt. «Crowd» ist ein Stück über das Vergehen der Zeit in einem völlig anderen Modus, als sie im Alltag erlebt wird. Im Stück wird sie durch die Bewegungen der Tanzenden gedehnt, gerafft, zerstückelt, werden die Bewegungen geloopt und als ein Körper-Muster geformt, das von dieser Maschinenmusik geformt wird. Es ist ein Stück ohne Text, so wie auch der Techno von KTL, Underground Resistance und Jeff Mills Musik ohne Text ist, sondern sich auflöst in den Flow einer komponierten Trance.
Natürlich gibt es in diesem Stück Ansätze von Geschichten, die sich zwischen den stark typisierten Figuren auf der von Partymüll überzogenen Tanzfläche einstellen und wieder auflösen, aber die eigentliche Begegnung der Tanzenden findet mit der Matrix der Musik statt, die jeden Einzelnen von ihnen für bestimmte Phasen des Raves aus ihrem Ego herauslöst, es anbindet an diese nichtmenschlichen Kraft und Spiritualität des Sounds, aus dem sie wieder zurückgleiten in sich, ein anderes Ich, das vielleicht wirklich sie selbst sind, im Guten wie im Schwierigen, und alle zusammen zu einem Klimax führt, in dem die Tanzenden ihre Körper zu Boden sinken lassen wie ein Puppenspieler seine Puppe und ihr Geist woanders ist.
Plötzlich sinken die 80 Dezibel des Raves auf null, es entsteht eine Stille, wie sie sich in und um die Puppen der Ausstellung ausbreitet, und dann erhebt sich langsam eine der Raverinnen und tanzt wie eine Techno-Kali die Geister von dort drüben oder oben wieder zurück in die Körper. Es wäre unangemessen und auch grundfalsch, die Choreografie dieses 100-minütigen Rituals mit den Mustern des literarischen Theaters zu betrachten. «Crowd» ist eine spirituelle Erfahrung, deren Struktur eine andere Matrix des Lebens erfahrbar macht, die sich vor allem in einem anderen Zeitregime zeigt, das die Slow Motion und Fast Forward Bewegungen der Tänzer bestimmt.
Obgleich die Figuren im Laufe ihres Raves Beziehungen zueinander eingehen, ist die entscheidende Beziehung in diesem Stück nicht die zu anderen Menschen, sondern zu einer Matrix, die ihnen durch die Musik zugänglich wird, und die ihren ganz eigenen Fahrplan der Reinigung, der Revelation und Rückkehr in die Welt besitzt. Einzelne Figuren können in Viennes Inszenierung, wie Neo in der Matrix-Welt der Wachowski-Schwestern, diese Matrix verlassen und sich wie Agenten unbemerkt in einer unterschiedlichen Zeitdimension innerhalb der Situation der anderen Figuren bewegen, aber im Grunde spielt auch dieses Stück, wie Viennes Puppenspiele in den Ausstellungen, mit diesem Moment, da der Geist die Körper verlässt oder in ihnen heimisch wird.
Das Unheimliche, heraufbeschworen in Viennes Teenagerpuppen, in der Präsenz von Wiedergängern innerhalb der ausgestellten Figuren und gestischen Wiederholungen in ihrer Inszenierung, transzendiert die übliche Trennung der künstlerischen Welten. Viennes Ausstellungen sind genauso ein Puppenspiel wie ihre Aufführungen Körper als tanzende Skulpturen zeigt, die in ihren stroboskopisch gesplitteten und geloopten Bewegungen plötzlich ein anderes «Heim» zeigen. Das Unheimliche von Viennes stillen Teenagerfiguren oder die zeitlupenhaft vergrößerten Momente der Trance eines Raves lenken den Blick auf parallele, gemeinhin verborgene Realitäten. Der white cube der Ausstellungswelt und die black box der Bühne durchdringen sich in Viennes Shows, die eine Ausstellung wie ein Bühnenstück und ein Bühnenstück immer wieder wie ein zum Tableau erstarrendes Miteinander lebendiger Körper inszeniert. Es ist ein Unboxing beider künstlerischer Welten, das einen andersartigen Blick aufs Leben freisetzt.
«Ich weiß, dass ich mich verdoppeln kann.» Gisèle Vienne und die Puppen der Avantgarde. im Georg Kolbe Museum und »This Causes Consciousness to Fracture – A Puppet Play.” im Haus am Waldsee. Bis zum 9.3. bzw. 12.1.2025 in Berlin.