«Floating Exhibition»
Über die TWIN ZONE von Markus Selg
Von Thomas Oberender
Galerieräume sind in der Regel neutral in ihrer Erscheinung und schaffen um ihre Exponate eine Zone der Ruhe. Auch die Galerie Guido W. Baudach in Berlin ist ein solcher White Cube, doch in Markus Selgs Ausstellung TWIN ZONE löst sich die Bannmeile um die Werke ebenso auf wie die geschlossene Box des Ausstellungsraumes selbst. Gezeigt werden eine Reihe von Werkpaaren, bei denen der physischen Manifestation der Arbeiten zugleich ihre virtuelle Erscheinung zur Seite gestellt ist. Auch die Galerie selbst verdoppelt sich und erscheint zusätzlich zu den realen Räumlichkeiten in einer von Selg gestalteten virtuellen 3D-Variante. Über eine Augmented Reality Experience App verbinden sich die Ausstellungsräume an der Potsdamer Straße in Berlin so mit einer artifiziellen Topografie und die BesucherInnen betreten einen Ort, der unversehens selbst zum Exponat wird.
TWIN ZONE ist der seltene Fall einer Ausstellung einer Ausstellung. Tatsächlich geschieht dies nur in Ausnahmefällen, etwa bei der Rekonstruktion historischer Ausstellungen, denn in der Regel versteht sich die Galerie oder das Museum als eine Art Display, das alles Mögliche zeigt, sich selbst aber aus dem Spiel hält. Ausstellungen werden immer wieder neu bestückt und bespielt, aber die Aura des Grundraums ist in der Regel diskret. Er nimmt sich zurück, hält das «draußen» fern und lenkt den Fokus auf die ausgestellten Werke und ihr Publikum. Es ist ein bisschen wie am Theater, nur dass dort die Box schwarz ist und die Menschen sie von außen betrachten, statt in ihr umherzulaufen.
Auf den ersten Blick wirkt TWIN ZONE wie eine traditionelle Ausstellung großformatiger Computerdrucke und Skulpturen. Doch dank der Augmented Reality App, die Markus Selg für dieses Projekt entwickelt hat, sind in der Galerie auch die virtuellen Zwillingsobjekte dieser Plastiken und Gemälde sowie früherer, materiell nicht anwesender Werke, wie z.B. Teerhof aus dem Jahr 1999 zu erleben. Unversehens tauchen sie auf den Smartphone-Displays des Publikums auf, schweben sanft durch den Raum oder erscheinen als zusätzliche Exponate an den Wänden.
Die Präsenz von digitalen Kunstwerken in Galerien oder im urbanen Raum ist heute nichts Ungewöhnliches, doch das Konzept der Ausstellung TWIN ZONE setzt einen anderen Akzent. Es bringt dinghafte Kunstwerke in eine direkte Beziehung zu ihren virtuellen Derivaten und schafft dafür einen porösen, die beiden Realitätsebenen verbindenden Raum. Als Besucher oder Besucherin der Galerie kann man wählen, welchen Pfad der Manifestation eines Werkes man folgen möchte.
Auf der Werkliste der Ausstellung steht die AR-App TWIN ZONE als eigenständige Arbeit, und tatsächlich ist sie nicht nur das titelgebende Werk, sondern auch die bündigste Formulierung des Konzepts. Es geht in diesen Räumen um die geschwisterliche Beziehung von virtuellen und realen Objekten. Sie entstammen keiner gegensätzlichen Sphäre, sondern die Ausstellung schafft und zeigt einen Raum ihrer beziehungsreichen Koexistenz. Zugleich geht der Ansatz des Künstlers einen Schritt weiter, indem auch die physischen Objekte der Ausstellung letztlich als Emanationen generischer Strukturen, als Produkte von Codes und deren Mutation und Assemblage erscheinen. Selgs Bodenskulpturen und Wandbilder zeigen pflanzliche und biomorphe Texturen, spielen mit den Mustern von Kristallen und geologischen Formationen, menschengemachten Ornamenten und Zeichen, Graffitos und den Rastern von Schaltplänen. Diese biomorphen und technoiden Texturen überziehen die dinghaften Werke der Ausstellung genauso wie die virtuellen Objekte.
Egal ob Ding oder Bild, die Objekte führen zu Abbildungen und digitale Bilder führen zu Daten, die wiederum zu digitalen und plastischen Objekten führen, die wieder abgebildet, gesampelt und geteilt werden, usw. ad infinitum. Die Übergänge zwischen dinghaftem Objekt und imaginärem Objekt sind fließend und diesem Flow folgt und dient Selgs zentrales Werk und der gesamte Raum der Ausstellung.
Die App, die diese Doppelnatur der Dinge und Wesen sichtbar macht, ist der eigentliche Clou der Ausstellung. Der Screen des Smartphones wird, sobald man sich am Eingang der Galerie die TWIN ZONE-Applikation heruntergeladen hat, zu einer Sonde, mit der die Gäste den Raum abtasten und dank derer sie plötzlich virtuelle Objekte erfassen und in ihrer Existenz beobachten können, ganz so, wie man unter einem starken Mikroskop plötzlich im klaren Wasser kleine Lebewesen entdeckt, die all die Zeit da sind, ohne dass wir sie bemerken.
Markus Selg hat nicht nur seine Einzelwerke in zwei Existenzformen kreiert, sondern auch die Räume der Galerie gescannt und in ein 3D-Modell verwandelt, das vor Ort einen virtuellen Erweiterungsbau der Galerie erzeugt. Plötzlich schaut man durch virtuelle Öffnungen und Fenster und inmitten der tatsächlichen Räume erscheint eine Stadtkulisse unter glutrotem Himmel.
Die AR-App virtualisiert den Ausstellungsraum und integriert ihn vor Ort in einen Meta-Raum, der auf radikale Weise fühlbar macht, wie es ist, wenn alles nur Oberfläche ist. Diese Überblendung und Vermischung der physischen mit der virtuellen Realität deterritorialisiert die Räume und macht die Galerie zu einem raffinierten Tagtraum der Kunst. In dieser TWIN ZONE bewegen sich die BesucherInnen und sehen auf ihren Screens das übrige Publikum inmitten von virtuellen und realen Werken, als seien auch die in der Ausstellung gerade anwesende Personen weitere Exponate in dieser angereicherten und durchlässigen Welt der Kunst.
Vielleicht wird so oder ähnlich auch das Theater der Zukunft aussehen, in dem, durch eine Datenbrille betrachtet, auf der Bühne eine von realen und virtuellen Dingen und Wesen angefüllte Welt erscheint, in der es nichts gibt, das im hier und jetzt nicht darstellbar wäre. In der Berliner TWIN ZONE sehen die Besucher der Galerie, wie die Begrenzungen des White Cube sich auflösen und der Raum sich auffüllt mit immateriellen Objekten und einer virtuellen Architektur, die das Gebäude in einen anderen Stadtraum und eine andere Atmosphäre versetzt.
Erweiterte Ausstellung
In der physischen Galerie steht in einem der hinteren Räume das ready made einer gelben Wertstofftonne vor dem quadratischen Wandbild BIRTH OF A PORTAL, das einen archaisch wirkenden Ring aus Holz und Metall auf schwarzem Grund zeigt. Doch wenn man seine AR-Sonde im Raum umherschweifen lässt, erscheint im Display des Smartphones plötzlich hoch oben, über der verschwundenen Zimmerdecke, im glutroten Abendhimmel dieselbe gelbe Tonne als digitales Objekt. Sie schwebt satellitengleich über der Szene und unter ihr befindet sich nun mitten im Raum riesengroß das Portal, das auf dem Wandbild zu sehen ist. Der physische Galerieraum öffnet sich durch die App und geht über in einen virtuellen Erweiterungsbau, einen Innenhof, der von breiten Betonstelen umrandet und von einem hohen Steinsims gekrönt wird. Der in diesem Hof schwebende Ring ist Teil der AR-Arbeit THE PORTAL / MAGNOLEYE, die Markus Selg in das System seiner TWIN ZONE integriert hat.
Dieses Mitschwingen des einen Werks im anderen und die Koexistenz von realen und virtualisierten Arbeiten ist die Kernidee von TWIN ZONE. Sie kreiert eine «expanded exhibition», die selbst ein komplexes Kunstwerk ist, das flirrende Übergänge zwischen realer und virtueller Realität schafft und letztlich die Frage umkreist, welches Konzept von «Welt» wir im Kopf haben, wenn wir über die Wirklichkeit sprechen? Was bedeutet es, dass wir im 21. Jahrhundert eine Parallel-Realität erschaffen, in der jedes Ding und Wesen ein zweites, digitales Leben in großen Datenfarmen führt? Selgs Ausstellung ist nicht medienkritisch im eigentlichen Sinne, aber sie nimmt die datenbasierte Meta-Realität zum Ausgangspunkt und verbindet sie mit anderen Meta-Ideen wie kulturellen Mythen, sozialen Reformideen oder alten Kosmologien.
Der Galerieraum wird als TWIN ZONE zum «Empfänger» nicht nur physischer Werke, sondern tatsächlich unlimitierter Erscheinungswelten von Objekten und Wesen, deren Gestalt und Reaktionsfähigkeit immer komplexer und lebensähnlicher werden und den Kontakt zu ihren stofflichen Verwandten halten. Die TWIN ZONE ist aber auch der «Empfänger» von Meta-Ideen wie der des sich zyklisch erneuernden Lebens. Sie zeigt sich in der Figur des Skarabäus, die Selg in sein virtuelles Portal einbaut, oder im 3D-Print der Skulptur FRACTAL FLORISHING II (Metamorphing).
Dass Objekte «aktiviert» werden, ist heute eine beliebte Formulierung für ihren Gebrauch durch Performer oder Performerinnen. In TWIN ZONE wird jedoch der Raum selbst aktiviert. Die Ausstellungsräume sind aktiver Teil des Werks, real und fiktiv zugleich, etwas Wirkliches und zugleich die Manifestation eines elektronischen Traums. Im White Cube der Galerie betreten die Besucherinnen und Besucher eine immersive Umgebung, in der sich alles um sie dreht. Das Publikum steht mittendrin und jedes Objekt in diesem Raum ist das Requisit eines größeren Worldbuildings, das die BesucherInnen «sieht» und einbezieht.
Micro Drama
Vor unseren Augen und dem Objektiv der Handykamera ereignet sich in der Galerie plötzlich der Besuch eines biomorphen Technowesens, das durch die Luft schwebt und den Raum bewohnt wie ich und die anderen BesucherInnen, die es umgeben. MAGNOLEYE heißt diese digitale Kreatur, die Markus Selg aus gescannten Fruchtkörpern einer Magnolie geformt hat. Ein Derivat dieser Figur existiert als NFT und ist als virtuelles Wandbild in der Galerie zu sehen, AWAKENING SEED. Wie ein Flugdrache mit hundert Augen zieht diese digitale Kreatur ihre gewundenen Bahnen durch den Raum und taucht ab und zu durch den magischen Ring der AR-Arbeit PORTAL / MAGNOLEYE. Markus Selg nennt diese Funktion der App Micro Drama. Sie verwandelt den Straßenraum vor der Berliner Galerie in eine Bühne für den Auftritt dieser rot glänzenden Drachenschlange und des majestätischen Schwebeportals für dessen Reise in eine andere Welt.
Markus Selgs TWIN ZONE hat sich in das reale Gebäude eingenistet wie ein Alien. Daher ist diese App das zentrale Werk der Ausstellung. Sie ist ein Meta-Werk, das andere Werke in sich aufnimmt und eine Sonderzone der Betrachtung erschafft. Es ist, als ob man dank ihrer ein Computerspiel betritt und durch es hindurch läuft. Aber nicht ganz. Denn eigentlich steht man ja in einer realen Galerie. Deren Wände sind weiß, der Boden nackt. Man kann in dieser Ausstellung auch alles nur mit bloßem Auge betrachten. Doch ist dieses «alles» dann natürlich etwas weniger als das, was tatsächlich in diesem Raum vorhanden ist. Aber so ist es ja oft, man sieht schließlich nicht immer die gesamte Serie und gute Kunstwerke erzeugen auch als Einzelwerk ein Gespräch aus sich selbst heraus.
Markus Selg entwickelt seine Werke mit Hilfe von digitalen Technologien. Statt Pinsel und Palette benutzt er bei seinen Gemälden Photoshop. Daten sind Selgs Pigmente und prägen die Ästhetik seiner virtuellen und physischen Objekte. In den letzten Jahren setzt er vermehrt 3-D Software und KI ein um seine Welten in Galerien und Museen, auf Theaterbühnen oder gänzlich im virtuellen Raum zu erschaffen.
Datenhäute
Inzwischen sind es immer seltener digitale Fotografien und immer häufiger 3D-Scans, die Selg mit dem Smartphone im Alltag oder in Museen anfertigt und in seinen variablen Fundus an digitalen 3D-Elementen und grafischen Texturen aufnimmt, aus denen seine Werke entstehen. So ging etwa der 3D-Scan einer Grabmalskulptur ein in Selgs großformatige Gemälde MISSING TWIN I und II, der Scan der Uta-Statue aus dem Naumburger Dom wurde Teil des Faltenwurfs des gerafften Mantels bei der Polypropylen-Skulptur FRACTAL FLORISHING, die in leicht verwandelter Form auch als digitale 3D-Skulptur bzw. NFT existiert.
Die verschiedenen Scans vagabundieren durch Selgs Praxis und das Beispiel der Verwandlung der «Aufnahmen» der Uta von Naumburg zeigt, dass seine Arbeiten keine digitalen Kopien physischer Werke sind, sondern spezifische Details aus diesen herauslösen, in neue Zusammenhänge stellen, und so ein autonomes Werk bilden. Die diversen Elemente seiner Werke sammelt Selg seit Jahren. Schon ein einfaches Smartphone verwandelt Objekte und Umgebungen in Scans, in Codes, in Daten und digitale Oberflächen, die sofort geteilt und weiterverarbeitet werden können.
Man zieht, bildlich gesprochen, der Welt durch diese Scans die Haut ab. Sie kann fortan auf jede x-beliebige Oberfläche eines CGI-Objekts gelegt oder zur Oberfläche physischer Objekte werden. Technisch erscheint dieser Vorgang wie eine Transplantation. Und natürlich stellt sich die Frage, was unter dieser Oberfläche ist? Welche Art von Leben hat diese tausendäugige Drachenschlange? In der TWIN ZONE ist alles Oberfläche. Das Auge sieht nur das Außen, die zweidimensionale Textur der «Datenflächen». Was bedeutet Aura in dieser Welt? Wenn alles synthetisierbar ist, was ist die originale Quelle der Bilder?
Selgs Objekte und Bilder sind keine Werke «nach der Natur» und doch schlüpfen sie in den «Code» der Natur, lesen das Muster einer Schlangenhaut und lösen es ab vom biologischen Körper, genauso wie die Haut der Baumrinde oder die fein geäderte Struktur der Pflanzenblätter. Diese Texturen verbinden sich in Selgs Werken miteinander, bringen biomorphe Formen mit technomorphen Mustern in Kontakt und erzeugen so faszinierende Mischwesen. Ihre Einmaligkeit hat weniger mit der Individualität dieser Figuren oder des Künstlers zu tun, als mit seinem Gespür dafür, dass sie offenbar Teil einer Matrix des Lebens sind, die alles durchzieht und verschiedenste Zeiten und stoffliche wie nichtstoffliche Realitäten verbindet.
Statt biografische oder historische Geschichten zu erzählen, konzentriert sich Selg auf die Formensprache des Nicht-Menschlichen. Er achtet auf die sich in jedem Lebewesen wiederholenden Muster des Lebens einer Spezies oder der typischen Muster in anorganischen Verbindungen und menschlichen Kulturen. So konstruiert und nutzt er die Verwandtschaftsbeziehungen dieser Muster, verknüpft die Ornamente in den Stoffen afrikanischer Nomaden mit den Mustern von Schaltkreisen und Kristallen. Seine Ästhetik verbindet sich mit einer Sichtweise, die sich für Codes und Muster, Mythen der Wiederkehr und spiritueller Kräfte interessiert. Aus diesem transhistorischen Material von Archtetypen und Symbolen baut Selg seine Figuren, seine Reisbauernmenschen, Empörer oder Tanzenden, seine Tempel und Portale.
Frottage
Die «digitalen Häute», die Selg als 3D-Scans sammelt und seinen Figuren und Objekten überzieht, wirken bei näherer Betrachtung wie eine zeitgenössische Form von Frottage. Sie zeigen den Durchschein plastischer Objekte in einem zweidimensionalen Medium. Oft sind es biologische Strukturen wie fraktale Muster von Blättern oder eben die mittels eines Scans abgenommene Struktur des Putzes einer Hausfassade, die als Material in die Gestaltungsprozesse des Künstlers einfließen. Wie durch das Abreiben physischer Gegenstände auf Papier oder Stoff schaffen auch 3D-Scans grafische Texturen, die eine dreidimensionale Realität in zwei Dimensionen abbilden, d.h. als Oberfläche, die sich vom Gegenstand löst und andere Körper bedecken oder in größere Kompositionen eingehen kann. Schon Max Ernst arbeitete einst nach diesem Prinzip und empfand seine Frottagen von Blättern, Fruchtkörpern oder Holzstücken als partielle Befreiung vom eigenen Schöpfer-Ego und Ausgangspunkt kreativer Prozesse.
Die Scans von biologischen und technologischen Oberflächen kehren in Selgs physischen Skulpturen, Computerdrucken und Installationen genauso wieder wie in den virtuellen Objekten seiner NFTs oder AR- und VR-Experiences. Sein Schaffen oszilliert daher zwischen «leichten» und «schweren» Kunstwerken - «leicht», so der Kunstwissenschaftler Noam Gal, im Sinne von körperlos und immateriell, sieht man von den Trägermedien der Daten ab, und «schwer» im Sinne von bearbeiteten Stoffen in der physischen Welt.
Die Ausstellung TWIN ZONE ist in diesem Sinne ein Hybrid aus «schweren» und «leichten» Objekten. Sie gibt einen Vorgeschmack auf eine zukünftige Welt, in der digitale Objekte und Wesen unsere Wirklichkeit in gleicher Weise anreichern, wie seit jeher der Duft einer Blüte die Abendluft. Die Wirklichkeit ist für Selg sinnlich und immateriell zugleich. Auch seine «schweren», physischen Skulpturen, Environments und Wandbilder zeigen durch ihre generische Ästhetik, dass sie nicht «nach der Natur», sondern nach dem Code der Natur generiert wurden. Sie sind Matrix-Objekte. Über ihre physischen Kunststoff- oder Aluminiumkörper legt Selg die gleichen digitalen Texturen wie über die softwarebasierten 3D-Körper von CGI-Figuren und Objekten.
Archaic Revival
Selgs bildnerisches Schaffen stand von Beginn an der Welt des Theaters nah. Auch sie ist im doppelten Sinne die «Vorstellung» einer Welt, als physische Aufführung generiert auf der Basis von Skripten, hoch formalisiert und weit weniger authentisch, als es auf der Bühne den Anschein hat. Schon Selgs erste Galerieausstellung Nur Mut im Jahr 2002 präsentierte neben der monumentalen Skulptur einer geöffneten Hand eine Serie von lebensgroßen Figuren, für die der Künstler ein eigenes Theaterstück geschrieben hatte. Dessen Text lag in der Galerie aus und wurde dort auch verlesen.
Theaterhaft ist auch der Stil, der die Installation seiner Ausstellungen prägt. Oft verdunkelt Selg die Galerieräume und leuchtet seine Objekte gezielt aus. Die Welt des Theaters ist zudem eine Welt der Wiederkehr. Jeden Abend wiederholt sich, was bei der Premiere das Licht der Welt erblickte. Und jede Premiere wiederholt und bringt ein Stück zurück ins Leben, das zuvor schon an einem anderen Ort gelebt hat. Niemand «ist» Lear. Die Struktur dieser Rolle wandert durch die Jahrhunderte und Körper. Die Theaterwelt beruht selbst auf einer Art von archaischem Revival, um den Titel einer Serie von Figuren von Markus Selg zu zitieren. Lange vor den Tempeln, Schreinen und Portalen, die er in den gemeinsamen Inszenierungen mit der Regisseurin Susanne Kennedy auf der Bühne installiert, hat er in seinen Bildern und szenischen Environments seiner Ausstellungen diese sich überlappenden Welten erschaffen, in denen archaische Motive mit zeitgenössischen Inkarnationen verschmelzen.
Selgs Bilder von Menschen zeigen Mischwesen aus einer Genealogie von Djinn-artigen Gestalten und zeitgenössischen Typen, die aus einem Rave oder der Zukunft zu kommen scheinen. Bei einer Skulptur wie Traumstele aus der Archaic Revival-Serie wäre es schwer zu entscheiden, ob diese violette, mumienartige Skulptur auf einem hellblauen Schaltkreissockel etwas sehr Altes darstellt, oder aus der Welt von morgen stammt. Ähnlich ultramodern und neo-archaisch wirken in TWIN ZONE auch die beiden Frauengestalten der Bildnisse MISSING TWIN I und II, die in gleicher Form auch als Figuren in einer seiner Inszenierungen mit Susanne Kennedy auftauchen könnten.
Die Portal- und Figurenbilder in Selgs Ausstellungen suggerieren, dass die Menschen in diesen Räumen in die Matrix der Codes und Energieströme eintauchen und durch die Zeit reisen können. Woher kommt Markus Selgs Interesse am Thema des Übergangs und der Reise? Sein Oeuvre ist geprägt von Unruhe und Auflehnung. Es ist eine spirituelle Rebellion, die in der Welt des Sichtbaren zu den Kontaktpunkten einer unsichtbaren Welt führt.
Selgs frühe Arbeiten durchziehen Referenzen zu Bruno Taut, Bernhard Hoetger, El Lissitzky, den sowjetischen Konstruktivismus und die aufrüttelnde Sprache der Propagandakunst der 20er Jahre, alles Persönlichkeiten und Bewegungen, für die gut gemachte Kunst nicht alles war, sondern die eine gesellschaftliche Bewegung unterstützen wollten, die über das Individuum hinausführt und auf Reformen und Wandel in der wirklichen Welt zielt.
Schwellenräume
Zu den reizvollen Aspekten des Theaters zählt, dass sich hier bestimmte Ideen oder Vorstellungen von Welt tatsächlich in der greifbar realen Welt realisieren - als Vorstellungen. Aus Vorstellungen werden Vorstellungen. Und ganz ähnlich falten sich Markus Selgs computergenierte Bilder auf der Bühne räumlich auf, werden dreidimensional und kreieren eine Schwellensituation, in der auch auf der Bühne eine merkwürdige «Twin Zone» entsteht– Leiber, die sinnlich konkret sind, und doch zu fiktiven Figuren gehören, die sich in ihnen zeigen. Der Bühnenraum nimmt die Figuren auf wie ein Raumschiff und bringt sie am Ort des Theaters in eine andere Welt und andere Zeit, oder in ein Bardo, ein Zwischenreich zwischen Tod und Leben, physischem Sein und völliger Virtualisierung.
Deshalb ist es folgerichtig, dass Selg und Kennedy in Aufführungen wie Einstein on the Beach, Coming Society oder Oracle das Publikum diesen Zwischen- und Verwandlungsraum betreten lassen und es dort ein passiv aktiver Teil der szenischen Vorgänge wird. Die Theaterbesucher erkunden das szenische Environment, sind umgeben von Selgs Skulpturen und Videofilmen, und dazwischen agieren die professionellen Darsteller wie Wesen aus einer anderen Welt, in einem synthetisch wirkenden und maskierten Körper, mit dessen Fleisch und Endlichkeit fast jede der Figuren in den Stücken von Susanne Kennedy und Markus Selg hadert.
In der Galerie Guido W. Baudach wird die Präsenz dieser physischen und künstlich wirkenden Körper durch die Objekte übernommen, die dank der AR-App sichtbar werden. So zeigt sich in TWIN ZONE, was Selg auch am Theater fasziniert – es geht um den Kontakt, wie eine Ausstellung von ihm 2005 in München hieß, zwischen unterschiedlichen Zeiten, Räume und Wesen und das Aufblitzen einer anderen Realität in der unsrigen. Ausstellungen bauen bei Selg daher fast immer eine szenische Situation und installieren in ihr Übergangsobjekte. Von Selgs Nürnberger Altar in der Kunsthalle Nürnberg (2005) bis zu seinen Tor-Projekten der Weltausstellung (2000) im Kunstverein Braunschweig und der Amnesia / Chronik / Testament-Trilogie (2004-2005) in Galerien in Berlin und Köln kreieren seine Ausstellungen kultbezogene Räume, aus denen das Theater einst hervorhing. Als bildender Künstler geht Selg mit der Kreation jener Meta-Welt seiner TWIN ZONE-AR-App einen Schritt weiter, denn in ihr sind die Räume und Objekte dinghaft und virtuell zugleich, «schwer» und «leicht», hier und nicht hier. Die Werke driften in dieser TWIN ZONE und die Galerieräume in der Berliner Pohlstraße zu betreten, bedeutet in gewisser Weise auch, aus ihnen dank der App «hinaus» zu treten in eine andere Realität. Selgs TWIN ZONE erschafft einen porösen Raum, in dem die BesucherInnen das übrige Publikum auf den Screens ihres Bildschirms so real vor sich sehen wie mit bloßem Auge, obwohl das virtuelle Szenario, in dem die anderen sich bewegen, ein reiner Datenzauber ist.
Floating Exhibition
Der Gegensatz zwischen Virtualität und Materialität löst sich in Selgs TWIN ZONE in gewisser Weise auf und macht beides zu etwas Koexistierendem, durch das hindurch unsere Erfahrung von Wirklichkeiten fließt wie ein Gedankenstrom oder Strom der Gefühle. Liebe kennt bekanntlich keine strikte Trennung zwischen «mir» und jemand anderem. Nichts ist immersiver als Gefühle wie Liebe oder Horror. Ich bin «in» jemand anderem und er oder sie in mir. Und so durchdringen sich in TWIN ZONE die Datenkörper und Datenräume mit der physisch sinnlichen Situation. Es entsteht eine floating exhibition, das Ineinander-Gleiten von sonst strikt getrennten Realitäten und die BesucherInnen driften zwischen ihnen und erfahren eine sanfte spielerische Dislozierung, denn sie können den Ort ihrer Erfahrungen und Beobachtungen wechseln, ohne ihn zu verlassen.
Anders als in einer VR-Experience wird bei einer AR-Erfahrung die Wirklichkeit, in der sich jemandes Körper befindet, nicht durch die Realitätssimulation einer Datenbrille substituiert. Während VR-Produktionen ihre Betrachter wirklich in eine andere Realität beamen, bleibt man in einer AR-Experience vor Ort und dieser Ort wird angereichert mit digitalen Objekten, die man ohne die Kameraaugen der AR-App nicht zu sehen vermag. TWIN ZONE schafft also eine hybride Realität, in der sich Materielles und Immaterielles sichtbar durchdringen, wobei das disruptive Moment der Arbeit daraus resultiert, dass Selgs Ansatz, jede Form von Erscheinung, ob physisch oder virtuell, als reine Oberfläche zu betrachten, dazu führt, dass er auch den white cube so behandelt wie jede andere Form von Körper – er virtualisiert ihn, zieht ihm die Haut ab und eine neue über und macht so den Ausstellungsraum zu einem Objekt unter vielen.
Es braucht einige Momente, bis sich diese Situation entfaltet. Beim Eintritt von der Straße in die Galerie ist zunächst alles wie immer. Im ersten Raum zeigt die Ausstellung zwei großformatige Computerprints auf Leinwand. Auf einem kleinen, menschenleeren Platz steht der Turm eines Fassadengerüsts wie eine Aussichtsplattform, die den Blick über eine links im Hintergrund verlaufende Mauer ermöglicht. In der Tiefe des Bildes HOME (Twin Zone) überragt ein Kegelberg ein von Graffito überzogenes Portal, das einem realen Gebäude von Bruno Taut in Berlin gleicht. Der Himmel über dem Platz ist von glutroten Wolkenschleiern durchzogen. Der gleiche Feuerhimmel und Platz ist auch auf dem benachbarten Bild PAST LOVE zu sehen. In seinem Zentrum steht die Aktskulptur einer sitzenden Frau, die an Plastiken von Bernhard Hoetger erinnert. Auch hier sind die Frauenskulptur, ihr Sockel und die Hintergrundgebäude von Graffiti Tags und Murals überzogen. Sie tauchen in Selgs Bildern und Räumen auffallend oft auf. Wie seine digitalen Texturen bilden sie im öffentlichen Raum eine zweite «Haut» voll verborgener Codes und Botschaften.
Der hochformatige Druck PAST LOVE hat in der Bildmitte trübe Zonen und Pixelschlieren, die auf das digitale Medium und den Collage-Charakter des Bildes verweisen. Immer wieder machen Selgs Werke auf das Medium, in dem sie erscheinen, aufmerksam. Sie sind keine Überwältigungskunst. Das Pathos und die Energie dieser Werke entsteht vielmehr durch den offenen Rückverweis auf seine generische Realität: Diese Werke entstehen aus Daten. Ein Bild wie PAST LOVE zeigt die unterschiedlichen Quellen und Qualitäten der digitalen Bildpartikel, Farbflächen, Pixelfelder, Bildfragmente und Grafikschnipsel, die durch malerische Gesten zusammengefügt werden, ohne die Bruchstellen zu tilgen. Dabei ist in den virtuellen Räumen, die Selg kreiert und in denen er zahlreiche «Ostereier» versteckt, z.B. alte Plakate der Volksbühne oder eine seiner Glasboxen aus dem Projekt THE SUN MACHINE IS COMING DOWN im Berliner ICC 2021, tatsächlich digital generierter Schmutz sehr wichtig, denn die glosende Zigarettenkippe nimmt dem virtuellen Mülleimer seine Glätte und zugleich steht er für Spuren des Lebens in natura.
Temporäre Autonome Zone
Obwohl in TWIN ZONE dieser flirrende Erlebnisraum im Zentrum steht, spielt die menschliche Figur in ihm eine wichtige Rolle. Die neongelbe Bodenskulptur FRACTAL FLORISHING erinnert an figürliche Plastiken des Künstlers, die Züge indigener Fetische und zugleich von Zukunftswesen oder Cyborgs besitzen. Meist zeigen sie kein Gesicht, sondern tragen eine Maske wie Krieger oder Ritualfiguren. Auch die 3D-Skulptur FRACTAL FLORISHING ist ein Hybrid aus den Scans einer gotischen Plastik der Uta von Naumburg, einer weiteren Frauenfigur und Teilen des Wesens MAGNOLEYE. Von der originalen Statue der Uta eines gotischen Meisters übernimmt Selg nur den Torso der Frau und ihre Geste, sich den Mantelstoff übers Kinn zu ziehen und ihn vor der Brust zu raffen. An der Stelle des stolz erhobenen Kopfes der Gräfin mit ihrer Krone setzt Selg das zu Boden schauende Gesicht einer modern wirkenden Frau, die nackt auf einem Stein sitzt und die Hände hinter ihrem Nacken verschränkt. Aus der Rückenpartie erwachsen ihr zwei weitere Arme, die sich hinter einem weiteren Kopf verschränken und dieses Muster setzt sich mit leichten Variationen fort und erzeugt einen eleganten Bogen plastischer Partien, die sich bis an die Spitze dieser gut eineinhalb Meter hohen Plastik wiederholen. Die generische Form der Köpfe und Arme erinnert an die Darstellungen buddhistischer und hinduistischer Gottheiten mit ihren vielen Gliedmaßen. Nur dass bei Markus Selg sich diese Vervielfältigung zu einer expressiven, pflanzenhaften Form steigert, die wirkt, als würde aus der gotischen Figur ein moderner Frauensprössling treiben, der immer weitere Sprösslinge hervorbringt. Immer mehr Arme und Köpfe winden sich in die Höhe, bis aus dem nackten Torso ganz oben ein Kreis züngelnder Schlangenköpfe entsteht, die, einer Fackel gleich, um einen Dornenstab und die ihn umklammernden Hände lodern. FRACTAL FLORISHING kann als ein Sinnbild des menschlichen Gedeihens gedeutet werden, als ein Bildnis der menschlichen Lebensspanne. Die Selbstähnlichkeit ihrer Elemente verweist auf Erscheinungsformen der Natur wie auch mathematischer, bzw. technologischer Prozesse, die kalt und – nicht im moralischen Sinne - inhuman sind.
TWIN ZONE ist ein poröses, für unseren Aufenthalt in ihm entworfenes Kunstwerk. Es erzeugt eine temporäre autonome Zone, in der die «echte Welt» unlösbar verbunden und begleitet ist von ihrem digitalen Schatten. Diese Schatten waren in alten Mythen Djinns und andere Geister. Heute vollbringen Software-Programme einen Großteil dieses Zaubers. Wobei das elegante und zugleich radikale Moment von Selgs Werken darin besteht, dass sie erfahrbar machen, dass an sich gleichgültig ist, ob sie sich digital oder realstofflich manifestieren. Der Blick auf die Welt, der sich in ihnen zeigt, fasst «Realität» anders auf und lässt ab von der Idee des Originals, des Ursprungs oder der Stabilität fester Körper.
Das Ausstellungskonzept von TWIN ZONE radikalisiert die Idee des Künstlers, die Welt als Vorstellung zu begreifen, als eine Fülle von Erscheinungen, deren Codes, Mustern und temporären Körpern er eine Bühne schafft. TWIN ZONE dimmt das Licht im Ausstellungsraum nicht mehr, sondern leuchtet in eine andere Welt hinüber. Sie baut eine Sonderzone in der Welt, die stark an jene «temporäre autonome Zone» erinnert, die der Philosoph und Schriftsteller Hakim Ben in Broadsheets of Ontological Anarchism beschrieb.
In ihr verschwinden für eine kurze Zeit die sonst herrschenden Regeln und Machtstrukturen. Hier lösen sich Dichotomien wie virtuell und real, wirklich und fiktiv, stofflich und nichtstofflich, im Besitz von jemandem oder zugänglich für alle auf. Egal, in wessen Besitz Selgs Werke aus dieser Ausstellung in der Galerie Guido W. Baudach womöglich einmal übergehen, in der TWIN ZONE bleiben sie allgemein zugänglich und existieren in einer parallelen Welt der Daten, die täglich wächst und nicht nur eine Kopie der physischen Welt ist, sondern sich anschickt, ein eigenes Leben zu entwickeln.
Galerie Guido W. Baudach, Berlin