«Wie im Theater»
Zu Robert Crumbs Comic über die «Die Bekehrung des Philip K. Dick»
Wenige Monate vor seinem Tod erzählte Philip Kindred Dick der Freundin und Journalisitin Gwen Lee in einem ihrer von Tonbandaufzeichnungen festgehaltenen Gesprächen, dass er seit über acht Jahren in Kontakt steht mit einer Art von Intelligenz, die, wie der Schriftsteller sich ausdrückt, «ihm jeden erdenklichen Beweis geliefert hat, dass sie Gott ist.» Die initialen Begegnungen fanden im Februar und März des Jahres 1974 statt und er sprach fortan von Ihnen als den 2-3-74 Ereignissen. Die letzten Lebensjahre des Schriftstellers waren von seinem Versuch geprägt, diese Begegnung mit Gott, oder dem, was er dafür hielt, zu verstehen. Die damit verbundenen Studien der Religions- und Philisophiegeschichte, der Mathematik und alten Sprachen finden ihren Niederschlag in zahlreichen Interviews, Reden, in seiner letzten Romantrilogie Valis und einem Konvolut essayistischer Texte und Fragmente unter dem Titel Exegesis, die als gesprächsweise Ausdeutung seines Gotteserlebnis mit seinem Freund und SF-Autor Kevin W. Jeter entstanden sind und posthum veröffentlicht wurden.
Einerseits weckt Philip K. Dicks Epiphanie-Erlebnis Erinnerungen an die Visionen von Mose, Paulus, Jesus, Buddha, Krishna, Hildegard von Bingen, Luther oder Blaise Pascal. Zugleich fürchtete der Schriftsteller aber, einen paranoiden oder schizophrenen Schub erlebt zu haben. Der öffentliche Umgang mit Dicks Erlebnis bleibt bis heute mit Zweifeln und Fragen verbunden – waren sie vielleicht drogeninduziert oder schlicht Wahnvorstellungen? Aufgrund seiner Entscheidung, seinen Lebensunterhalt und den seiner Familie mit zumeist miserabel bezahlten lliterarischen Texten zu finanzieren, war er gezwungen, seine Werke in kürzester Zeit «am Stück» zu schreiben.
Viele von Dicks später weltberühmten Büchern entstanden jahrelang in Sessions von fünf bis zehn Tagen, innerhalb derer er kaum aß und schlief und sich mit Amphetaminen aufputschte, um bis zu achtundsechzig Seiten am Tag zu schreiben. Im Laufe seines Lebens fiel es ihm diese Prozedur zunehmend schwerer. Als Philip K. Dick 1982 starb, hinterließ er einhundertachtzehn Kurzgeschichten und achtundviertig Romane. Viele von ihnen sind heute durch ihre Verfilmung zu Klassikern des Sci-Fi-Genres geworden und inspirieren noch immer ganze Industrien, allen voran Werke wie Träumen Androiden von elektrischen Schafen (Blade Runner), The men in the high castle, Total Recall, Paycheck, Minority Report, A Scanner Darkly oder Ideen des Schriftstellers wie die über Tachyons genannte Partikel, die sich in der Zeit rückwärts bewegen können und, so eine der Phantasien von Dick, von der Sowjetunion einst benützt würden, um auf die Vergangenheit mit wissenschaftlichen Informationen aus der Zukunft einzuwirken - eine Idee, die an Christopher Nolans Film Tenet erinnert.
Trotz seiner sich in den letzten acht Lebensjahren immer wieder ereignenden Visionen wurde PHILIP K.Dick nicht zum Kirchgänger, sondern integrierte die von ihm «geschauten» Informationen in literarische Texte und mehr als zehntausend Seiten mit Notizen. In ihrem Zentrum steht gegen Dicks Lebensende die Überzeugung, dass eine extraterrestrische Lebensform auf der Erde existiert, die keinerlei Ähnlichkeit mit Menschen hat, sondern Insekten ähnelt, Käfern oder einer Gottesanbeterin. Sie haben keine Sprache und denken in Farben und Mathematik. Seit dreitausend Jahren bereiten sie uns durch religiöse Praktiken auf die Begegnung mit ihnen vor, da sie davon ausgehen, dass ihr Aussehen für uns befremdlich wirkt. Sie halten die Menschen, so Philip K. Dick, aufgrund ihrer Fähigkeit zu musizieren für spirituelle Wesen, genau wie sich selbst, obwohl sie sich auf einer höheren Entwicklungsstufe befinden.
Die von Dick beschriebenen Begegnungen mit einer anderen Lebensform klingen verstörend oder wie eine große Erzählung, die er sich zu schreiben anschickt. Zugleich besaß Philip K. Dick offenbar die kreativen und logischen Fähigkeiten hochbegabter Denker wie Ada Lovelace oder Alain Turing, und schaute offenbar durch einen Vorhang, den wir nicht öffnen können. Was, so der Titel der Sammlung seiner letzten Interviews, «wenn unsere Welt ihr Himmel ist?» Wenn man Dicks letzte, im Wortlaut notierten Gespräche liest, zeigen sie ihn als einen Menschen, der im Hinblick auf die eigene Person mit Distanz und Humor spricht. Er vergleicht Drogen mit den Knusperhäuschen aus Hänsel und Gretel. Sie schmecken, sagt er, köstlich und wenn man sie entdeckt hat, möchte man kräftig zulangen, aber im Handumdrehen ist man drin in diesem Häuschen und wird in den Ofen geschoben. Es ist deshalb nicht anzunehmen, dass seine über Jahre anhaltenden Visionen, die auch ein anderes Zeitkonzept und die Verbindung zu anderen Sprach- und Wissensformen umfassen, unmittelbar auf Drogenkonsum oder Psychosen zurückzuführen sind.
Seit siebenundzwanzig Jahren, so erzählt der Dick seinem Übersetzer Uwe Anton und dem Sci-Fi-Experten Werner Fuchs 1977, stellt er in seinen Büchern die Frage nach der wirklichen Natur der Realität. Er nahm aus diesem Grund auch LSD, hat damit aber aufgehört, nachdem er, nach eigenen Worten, irgendwann merkte, dass es nichts nützt. Zu diesen Wissens-Versuchungen zählt für Dick auch, dass jeder gute Schriftsteller und jede gute Schriftstellerin in ihrer Karriere an den Punkt kommt, an dem er oder sie sich mit dem Faust-Stoff beschäftigt. Die Suche nach ontologischer Erkenntnis war für Philip K. Dick das zentrale Motiv seines Schreibens – genauer noch der Suche nach der Erkenntnis des Charakters unserer Wirklichkeit.
Viele seiner Helden sind Personen mit falschen Erinnerungen, sind nicht, was sie von sich selbst glauben zu sein, genauso wie die Welt, die sie umgibt. Die Grundlage seiner Romane, sagt er Dick in dem erwähnten Gespräch mit Uwe Anton und Werner Fuchs, besteht «aus einer in sozialer Realität verkörperten Idee, in der manche Charktere Opfer und manche die Machthaber des Systems darstellen, und immer sind die Herren manipuliert. Sie glauben an das System, weil es ihnen Privilegien einräumt. Diese Leute glauben nicht an etwas, weil sie es wollen, sondern weil es ihrem wirtschafltichen Vorteil dient. Daher haben sie auch keine Wahrheit verdient.»
Der amerikanische Comic-Künstler und Musiker Robert Crumb hat Dicks Begegnung mit Gott, oder dem, was er dafür gehalten hat, 1986 in einer Bildgeschichte umgesetzt, die veröffentlicht wurde, als «Blade Runner» nach anfänglichem Misserfolg an der Kinokasse langsam zum Kult wurde, genauso wie auch das Werk von Philip K. Dick und Robert Crumb selbst. Für den Cartoonisten, der eine Ikone der Gegenkultur der 60er und 70er Jahre war, muss Philip K. Dicks detailliert beschriebene Erleuchtung weitaus phantastischer gewirkt haben als dessen phantastische Literatur selbst.
Über seine 2-3-74 Vision berichtete Philip K. Dick 1977: «In den letzten dreieinhalb Jahren bin ich aus Gründen, die ich nicht kenne, zu einem Wahrnehmungsdurchbruch gelangt, der – wie ich meine – mir die wirkliche Welt zeigt, in einem Sinne, wie Plato die wirkliche von der nur augenscheinlichen Welt unterschieden hat. Ich weiß nicht, wie mir dieser phantastische Durchbruch gelungen ist, was ihn verursacht hat, doch seither habe ich nichts anderes getan, als zu versuchen, eine kohärente Erklärung für das, was ich gesehen habe, zu entwickeln. Man kann es am besten mit einem Modell erklären: Wir sitzen im Theater bei einer Premiere. Aus irgendeinem Grund – aus welchem, spielt keine Rolle – sind wir alle so naiv zu glauben, die Aufführung sei kein Spiel, sondern Wirklichkeit. Zwei Akte lang sitzen wir da und glauben, die Schauspieler seien die Charaktere, die sie darstellen. Sagen wir, wir wohnen einem Stück über die Ermordung Abraham Lincolns bei, und glauben, ein Schauspieler mit Bart sei Lincoln, und ein anderer John Booth. Wir sitzen da und schauen zu und glauben, alles ist wahr.
Und plötzlich fällt die ganze Kulisse um; wir sehen die Leute hinter der Bühne, den Regisseur, den Requisiteur, Schauspieler, die sich ihre Kostüme erst halbwegs angelegt haben und noch ihren Text lernen. Die Scheinwerfer und die Haltevorrichtung des Vorhangs. Für dreißig Sekunden sehen wir es, und sechzehnhundert Leute springen von den Sitzen hoch. Die Bühnenleute hoffen, dass alle Zuschauer geschlafen haben, doch diese dreißig Sekunden haben die Wirklichkeit enthüllt.
So etwas ist mir in Bezug auf die wahre Welt zugestoßen. Dreieinhalb Tage lang wurde die Szenerie durchschaubar und enthüllte mir die dahinterliegende Wirklichkeit. Doch sie unterschied sich von der augenscheinlichen so sehr, dass die Sprache nicht ausreicht, sie zu beschreiben. Ich kann nicht einfach sagen: »X, Y, Z« und ein paar semantische Assoziationen hinzufügen. Ich habe 300 000 Worte an Notizen verfasst und umfangreiche Nachforschungen betrieben, denn das muss wohl noch jemandem passiert sein. Ich kann nicht der einzige in der gesamten Geschichte der Menschheit sein (lacht), der die Welt so gesehen hat, wie sie wirklich ist.
Ich entdeckte, daß Alotinus, der Neoplatoniker, dieses Erlebnis auch hatte, wie auch einige Sufi und einige der christlichen Mythiker, wie Origen. Und Hans Driesch, der deutsche Philosoph, und Bergson. Ich fand Andeutungen davon in Indien, in der Hindu-Religion, im Brahmaismus. Emerson und Wordsworth scheinen diese Erfahrungen gemacht zu haben. Sie erinnern an nichts, was ich je selbst bei solchen Leuten, wie dem Gründer von Alexandria gelesen habe. Es ist ein wenig so wie bei Plato. Deshalb habe ich das Ereignis auch wie eine Theateraufführung beschrieben. Man kann es mit Platos Beschreibung von den Bildern auf der Höhlenwand vergleichen. Das Erlebnis ähnelt wirklich eher einer kleinen Aufführung als einem Film.
In den dreieinhalb Jahren, in denen ich darüber Nachforschungen angestellt und nachgedacht habe, wurde mir nur klar, dass es etwas mit der Zeit zu tun hat. Wie ich es verstehe – niemand wird es je völlig verstehen –, ist die Zeit eine Illusion. Unsere Wahrnehmung von ihr ist ihr völlig unangemessen. Es gibt andere Möglichkeiten sie wahrzunehmen, als nur jene, mit der wir das gewöhnlich tun, genauso wie es andere Arten der Zeit geben mag.
Die Rede, die ich morgen halten werde, beschäftigt sich mit einer speziellen Form der Zeit. Was nicht meine Erfindung ist; es geht darum, dass wir uns im rechten Winkel durch die lineare Zeit bewegen. Doch meine Erfahrungen bestätigen, dass es einen Zeitfluss gibt – innerhalb der linearen Zeit –, der sich entgegengesetzt oder in einem Winkel zum normalen Zeitstrom bewegt. Dieser Strom erzeugt um uns herum Umwandlungen. Doch das im metaphysischen Sinne Interessante daran ist, dass diese Umwandlungen für uns nicht wahrnehmbar sind, denn sobald sie auftreten, glauben wir, es hätte sich schon immer gegeben. Nehmen wir z. B. diesen Fernseher dort: Im linearen Zeitstrom wissen wir, dass der irgendwann einmal dorthin gebracht worden ist, doch in dem anderen Zeitfluss glauben wir, er sei schon immer dort gewesen, weil er nun hier steht. Wir erinnern uns nicht mehr daran, wie er entstanden ist, denn das Existentwerden ist in der linearen Zeit der Fluss von der Vergangenheit über die Gegenwart zur Zukunft. In jenem anderen Zeitstrom findet jedoch die gesamte lineare Zeit gleichzeitig statt, haben also Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft keine Beziehung, keine Auswirklungen aufeinander. In diesem Falle sind wir zu dieser Dreiteilung nicht mehr fähig. Von der Vergangenheit besitzen wir nur innere Hinweise wie Erinnerungen und äußere Hinweise wie geologische Formationen. Doch das sind nur sekundäre Hinweise, und sie beweisen nichts.»
Philip K. Dick fühlte sich von der Polizei verfolgt, weil er langes Haar trug, Dope rauchte und Rockmusik hörte und mit jungen Leuten in einem Haus wohnte, die das Gleiche machten. Vielleicht ist die 2-3-74 Episode und alles, was ihr an Eingebungen folgte, nicht das, wofür es Philip K. Dick selbst hielt, aber diese Epiphanien zählen zu den am besten dokumentierten und öffentlich reflektierten Erfahrungen dieser Art des Abendslandes und sind Teil der Arbeitsgeschichte eines der bedeutendsten Schriftstellers des 20. Jahrhunderts. Robert Crumb hat interessanter Weise keinen literarischen Text von Dick illustriert, sondern eine Episode aus dessen wirklichen Leben. Crumbs zwischen Traum und Halluzination changierenden Zeichnungen erzählen Dicks Erlebnis mit der Präzission eines Detektivs, der die Details in stringente Zusammenhänge bringt und die Wucht der Visionen in leuchtende Zeichnungen übersetzt, in Bilder des Staunens und dramatischer Kontraste. Es ist, als sei auch für den Zeichner eine Welt nicht genug. Für alle, die mit den Philip K. Dicks Texten etwas vertraut sich, vermittelt Crumbs Comic eine sehr persönliche Seite im Schaffen dieses Autors, die es erlaubt und nahelegt, die Idee der Realität all seiner Werke von diesem Punkt aus zu betrachten.
Das längere Zitat von Philip K. Dick stammt aus einem Interview, das Uwe Anton und Werner Fuchs mit ihm geführt und in dem Buch «Kosmische Puppen und andere Lebensformen» (1986, Heyne Verlag) veröffentlicht haben. Die erwähnten «Letzte Gespräche» wurden von Gwen Lee und Doris Elaine Sauter herausgegeben und erschienen 2006 in der Edition Phantasia. Die dt. Erstausgabe der «Valis Trilogie» erschien 1992 im Pabel-Moewig Verlag. Auszüge aus PHILIP K. Dicks «Exegesis» erschienen erstmals 1995 in dem von Lawrence Sutin herausgegebenen Sammelband «The shifting realities of Philip K. Dick. Selected Literary and philosophical writings» (Vintage Book / Random House). Der Comic «Die Erleuchtung des Philip K. Dick» erschien 1986 in dem von Robert Crump gegründeten Magazin «Weirdo» in der Ausgabe Nr. 17.
Edition 30 der Berliner Festspiele