«Die Ankunft von Welt. Der Dramatiker Peter Handke»
- Auszug -
Peter Handkes Arbeit an den Theaterstücken begleitet die Entstehung seines großen Prosawerkes über nun gut fünf Jahrzehnte und korrespondiert mit ihm in vielfacher Weise. Seine Dramatik schuf einen unerhört erfindungsreichen und wirkungsmächtigen Korpus von Stücken für die Bühne und es ist schwer auszumachen, ob Handke eine größere Anzahl von Menschen durch seine belletristischen Werke oder durch seine Theaterstücke erreicht hat. In beidem erwies er sich als großer, erfindungsreicher Erzähler, der, noch bevor er selber literarisch zu schreiben begann, eine eigene Vision zeitgenössischer Literatur entwickelt hatte.
In einigen seiner Radiobeiträge für das Studio Graz, als der junge Handke Jura studierte und noch kein eigenes Stück geschrieben hatte, analysierte er 1965 die Geschichte der »Ausbruchsversuche« des modernen Theaters und diese Gedanken sind vielleicht die Keimzelle seiner eigenen ungewöhnlichen Poetik. Mit Blick auf die experimentellen Stücke von Piero Pirandello beschrieb Handke hier die Unmöglichkeit des szenischen Dialogs, weil dieser keine Verständigung mehr stifte, und gab einem epischen Theatermodell den Vorzug. Sein wenig später geschriebenes Debüt Publikumsbeschimpfung enthält keinen einzigen Dialog, sondern kreiert eine völlig neue Textsorte für das Theater, die Peter Handke »Sprechstücke« nennt. Die Publikumsbeschimpfung ist kein Stück, in dem die Handlung durch Konflikte vorangetrieben wird, sondern eine Sprachkomposition, die alle Konventionen des traditionellen Theaters angreift und vermeidet. So entsteht eine große Tirade über die ungeschriebenen Gesetze des Theaters und der damit verbundenen Erwartungen des Publikums – Handke schreibt sie auf und setzt sie so spielerisch für einen Abend außer Kraft. Dabei entstand nicht nur ein neuer Typus Stück, sondern auch eine neue Realität der Theatersituation selbst, die auf nichts anderes verweist und nur mehr das repräsentiert, was sie ist. Das Stück hat keine Figuren, die Sprache selber ist die Figur und zeigt ihre wirklichkeitsstiftenden Kraft, die unser Denken und Verhalten prägt.
Diese welterzeugende Wirkung von Sprache reflektiert Peter Handke auch in seinen Sprechstücken Weissagung, Hilferufe und Selbstbezichtigung, die andere Redeformate nutzen, um aufwühlende und aufklärende Situationen zu erzeugen, die auf der Gewalt und Gestik geformter Sprache beruhen. In Kaspar betrat dann zum ersten Mal tatsächlich eine Figur Handkes Bühne; diese Titelfigur setzt das Thema der früheren Dramen fort und zeigt geradezu prototypisch, wie ein rätselhaftes Naturwesen durch Sprache zum Kulturwesen abgerichtet wird, wobei diese Vorgänge nie bloß eine modellhafte und schematische Art haben, sondern immer auch kurios sind, drastisch und unberechenbar. Zur Welt kommen heißt für den Dichter zur Sprache kommen; in seinen frühen Stücken gibt es kein unschuldiges Sprechen. Mit Kaspar und Das Mündel will Vormund sein schrieb er parabelhafte Stücke, denen 1971 mit Der Ritt über den Bodensee ein bizarres Traumstück folgte. Dessen Figuren sind berühmte Filmschauspieler, die in den zeitgenössischen Schauspielern ihre aktuellen Wiedergänger fanden, aber doch eher Mythenzitate blieben, die Spiegelungen von Idolen, die sich in diesem Stück erstmals zu handfesten Charakteren formten. Wieder war es die Macht, wie sie sich in der Rede der Menschen versteckt und offenbart, die Handke in sehr eleganten Dialogen aufdeckte, und er entwarf dafür, wie zuvor auch bei seinen Parabeln, eine eigene Form von Aufführungspraxis und Regeln für die Schauspieler.
Peter Handkes dramatisches Werk, so zeigt schon ein Blick auf die frühe Phase seines Schaffens, war der Theaterpraxis stets einen Schritt voraus, wirkt visionär und hat sich als szenische Phantasie auf der Bühne kraftvoll bewährt. Sein Staunen über oft kleine Beobachtungen im Alltag ließ den Autor, so heißt es in der Jurybegründung des Ibsen Award 2014, Strukturen des Dramas unserer Zeit entdecken, wie sie vor ihm noch niemand sah. Aus diesem Staunen entstanden neue dramatische Formen, Welten und Haltungen auf der Bühne, die gleichermaßen experimentell wie vollendet wirken.
Zu den Eigenarten, die einige seiner Stücke seit Jahren prägen, zählt zum Beispiel das Kommen und Gehen – Quodlibet von 1969 ist der Form nach eine lange Regieanweisung, ein über weite Teile wortloses Stück, das eine leere Bühne zeigt, auf der Handke seine »Figuren des Welttheaters« erscheinen lässt: Wir schauen ihren flüchtigen Auftritten zu und hören sie wie in den früheren Sprechstücken nach den unterschiedlichsten Regeln reden. Hier erzeugen sie nun einen seltsamen Rumor aus Andeutungen und knappen Wendungen, aber das Stück ist über eine große Strecke auch stummes Spiel, ein ständig bewegtes Tableau der Figuren und ihren »erzählerischen« Bewegungen, ihrem Schlendern, ihren wortlosen Taten. Hieraus entwickelt sich eine eigene Linie von Texten oder typischen szenischen Situationen, wie sie jedermann kennt, der auf Plätzen, in Cafés oder auf Reisen ins Schauen und Lauschen kommt. Peter Handke hat die große Gabe, die Zeit und solche Geschehnisse zu sich kommen zu lassen und in seiner szenischen Poesie später wieder heraufzubeschwören. Sein Theater gestaltet die Ankunft von Welt auf der Bühne dabei stets als poetische Vision, die auch spirituelle oder mythologische Wirklichkeiten zeigt, die mit nüchternem Auge so nicht zu sehen sind. Über mehrere Jahrzehnte hinweg schafft Handke solche Arenen der Beobachtung und sie werden sein »Welttheater«. Im Fragment Schulfrei. Oder: Der Staat und der Tod von 1975 gab es erstmals überhaupt keine Worte mehr, sondern nur noch das Schauen auf das Erscheinen und Verschwinden von drei Erwachsenen und zwei Kindern. Solch wortlose Partien gibt es von nun an in verschiedenen seiner Stücke, die immer öfter, wie Handke sagt, wirkliche Schauspiele sein wollen, Spiele, die uns zu Schauen geben. Überbordend und exemplarisch hat er das 1992 in Die Stunde, da wir nichts voneinander wussten gestaltet, einem Stück, das nur noch aus dem Auftauchen und Verschwinden von über 300 Figuren und ihren wortlosen Minidramen besteht – einem der großen Theatererfolge des Autors, der wieder eine szenische Form entwickelt hat, die es so auf dem Theater zuvor nie gab. Von hier führt die Spur zu platzgreifenden Stücken wie Das Spiel vom Fragen oder Spuren der Verirrten bis hin zu dem großen Shakespeares Lear zitierenden Meisterwerk Immer noch Sturm. Es ist die einzige Tragödie, die Handke je schrieb, und sie ereignet sich als ein Ahnentumult unter dem Apfelbaum einer slowenisch-kärntnerischer Wiese.
Peter Handkes poetisches Staunen führt zur vielleicht wichtigsten epischen Literatur des Theaters nach Brecht: Über seine Sprechstücke im Beat und Geist der Popkultur entwickelte er neue parabelhaften Formen oder tableau vivants. Ein klassisch gut gebautes Stück über Kapitalisten von heute wie Die Unvernünftigen sterben aus steht als Solitär im insgesamt eher unkonventionellen Oeuvre des Dramatikers Peter Handke, der einen unfehlbaren Instinkt für die theatralische Dimension von Sprache und Problemen hat und seine szenische Form, diesem Instinkt folgend, ein ums andere Mal neu erfindet und sehr gebildet reflektiert. Neben der konditionierenden Macht der Sprache und den sprechenden Tableaus seines oft wortlosen Welttheaters beschäftigt ihn über mehrere Jahrzehnte auch das Schicksal einer Handvoll Figuren, die eine slowenisch-kärntnerischen Familie angehören, die stark von der eigenen Familiengeschichte geprägt ist. Von einem szenischen Gedicht wie Über die Dörfer über Zurüstungen für die Unsterblichkeit bis hin zu Immer noch Sturm betrachtet und verhandelt er immer wieder und stellvertretend das Schicksal »seiner Leute«, als könne es nur der Literatur gelingen, diesen Figuren jenen Frieden zurückzuerstatten, den ihnen die Geschichte raubte.
Für sein Frühwerk wurde Handke als jüngster Autor überhaupt 1973 mit dem Büchner Preis, der höchsten Auszeichnung für Autoren des deutschsprachigen Raumes, geehrt und 2014 für sein reiches Gesamtwerk mit dem höchstdotierten Theaterpreis der Welt, dem International Ibsen Award. Als Dramatiker erweise sich Peter Handke, so heißt es in der Begründung der Osloer Jury, als Kosmopolit, der im eigenen Werk die Weltliteratur fortschreibe und der Vielfalt von menschlicher Geschichte und Geschichten Raum und Schutz gebe. In Handkes Oeuvre steht, Ibsen sicher am nächsten, Die Unvernünftigen sterben aus neben modernen Spielformen eines anarchistisch weltklugen Volkstheaters, das in Stücken wie Die Fahrt im Einbaum oder Zurüstungen für die Unsterblichkeit die Tradition von Nestroy und Raimund aufgreift. Zum immensen Bühnenwerk Handkes zählen Übersetzungen von Jean Genet und Shakespeare, Euripides und Sophokles, eigene Hörspiele, Filmdrehbücher und Regiearbeiten fürs Kino, aber auch seine Essays über andere Theaterautoren und Theaterkonzepte. Als Künstler weigerte sich Peter Handke, die Selbstverständlichkeiten des Theatermilieus, aber auch unserer intellektuellen Standards und sozialen Verhaltensformen als selbstverständlich zu betrachten. In fünf Jahrzehnten schuf er so ein an formaler Schönheit und brillanter Reflexion beispielloses Bühnenwerk, das eine der ungewöhnlichsten Formen von Klassik nach dem Ende des zweiten Weltkrieges schuf und weiterhin schafft.