Der sekundäre Diskurs im Werk von Botho Strauß
Sprache, Theater, Schauspielkunst und Regie – Aussagen zur darstellenden Kunst in den Reflexionen von Botho Strauß
Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades doktor philosophiae (Dr.phil.) eingereicht an der Philosophischen Fakultät III der Humboldt-Universität zu Berlin von Diplom-Theaterwissenschaftler Thomas Oberender
Präsident der Humboldt-Universität zu Berlin
Prof. Dr. Hans Meyer
Dekan der Philosophischen Fakultät III
Prof. Dr. Hartmut Häußermann
Vorwort
1 Der sekundäre Diskurs - ein Sprachdiskurs
1.1 Nur die Werke sprechen - Das verschwiegene Leben des Dichters Strauß
1.2 »Der Aufstand gegen die sekundäre Welt” - der poetologische Theoretiker und die reine Kunst
1.3 Die Sprache des ”Primären” - Wege eines sich wandelnden Sprachbewußtseins im Werk von Botho Strauß: Von Michel Foucault zu Georg Steiner
1.3.1 Was Literatur ist - Loslösung vom Sekundären
1.3.2 Das Zeitalter der Kommentare und das Ende der Dialektik
1.3.3 Zum Begriff der Überschreitung - Korrespondenzen zur Chaostheorie und dem ästhetisch Erhabenen
1.3.4 Das Positive
1.3.5 Ein »Mehr an Wirklichkeit” - der ganz Andere und das ganz Andere
1.3.6 »Paare, Passanten” - die Überschreitung der Überschreitung
1.3.7 Romantischer Erbgang, Technosophie und Anámnesis - die Gegenstrategie zur radikalen Selbstreferenzialisierung der künstlerischen Produktion
1.4 Die Sprache für das Theater: eine »kontrollierte Künstlichkeit” - Autorenbekenntnisse über die Arbeit des Dramatikers
1.4.1 Biografisches ist sekundär - Das Fading des Kunstwerks und Ausfällung von Typen
1.4.2 Immanente Unwirklichkeit und transindividuelle Strukturen
1.4.3 Der Fortschritt in der Erfahrung dramatischer Ursachen - eine »Ästhetik der Anpassung” statt der Dramaturgien von szenischen Modellbauern und Mechanikern
2 Die Modelle des Theaters
2.1 Das Imaginarium - Die Bühne als hermetischer Raum der Verwandlung und Institution der Formen
2.2 »Die runde Zeit” des Theaters - Rückbezug und Stillstand in der Wiederholung
2.3 Das Theater der Überschreitung und sein Fluchtpunkt
2.4 Vom Stamme her ein rituelles Unternehmen - die Kommunion des Theaters
3 Schauspielkunst
3.1 Realismus mit idealistischem Antlitz
3.2 Drei Bildbeschreibungen und zwei Straßenszenen - Schauspielkunst zwischen Ahmung und Versehen 204
4 Regie
4.1 Rigorismus und Immanenz
4.2 Mediale Vermischung und Formfragen
4.3 Inszenierung des Dramas und seiner Zeit als «Rettungsversuch» des bürgerlichen Theaters durch die Entdeckung seines Mythos
5 Anhang
5.1 Siglen der in dieser Arbeit verwendeten Texte von Botho Strauß
5.2 Werkgeschichte von Botho Strauß
5.3 Primärliteratur
5.3.1 Selbständige Publikationen
5.3.2 Nicht selbständige Publikationen: Gedichte, Essays, Briefe
5.3.3 Gespräche mit Botho Strauß
5.3.4 Beiträge von Botho Strauß in Programmheften
5.4 Sekundärliteratur
5.5 Sonstige Literatur
Botho Strauß ist einer der bedeutendsten westdeutschen Autor seiner Generation und einer der wenigen, die das Theater selbst hervorgebracht hat, in seiner Laufbahn vergleichbar vielleicht einzig mit Heiner Müller - auch er nahm seinen Weg vom Theater zum Theater. Botho Strauß war während seiner Studienzeit Statist an den Münchner Kammerspielen, später dort Regieassistent bei August Everding, bevor er Theaterkritiker wurde und schließlich als Dramaturg im Ensemble der «Schaubühne» für das Theater zu schreiben begann. Seine einzigartige Wirkungsgeschichte innerhalb der letzten fünfundzwanzig Jahre verdankt er nicht zuletzt diesem Entwicklungsweg. Strauß‘ Modell der ästhetischen Wirklichkeitsvermittlung, so Ursula Kapitza, rekurriert »wesentlich auf Erfahrungen, die der Autor während seiner praktischen Tätigkeit beim Theater gewonnen hat, wie überhaupt das Schreiben für die Bühne, das Denken in Theaterbildern ein hervorstechendes Merkmal seiner Arbeit darstellen. Insofern ist Strauß in der gegenwärtigen Theaterlandschaft sicher eine singuläre Erscheinung.” [1]
Und doch ist die Faszination, die sich mit dem dramatischen Werk von Botho Strauß verbindet, nicht allein durch ihre am Theater geschulte Schreibweise zu erklären. Die Herausforderungen, die Strauß‘ Stücke an das Theater stellen, verdanken sich auch jener Seite seines Schaffens, die ihn selbst als einen »wissensfrohen Dichter” (De, 102) zeigt. Diesem Wesenszug des Werkes von Botho Strauß ist die nachfolgende Untersuchung gewidmet. Sie nimmt Botho Strauß beim Wort, wo er über das Wissbare spricht, an dem vorbei nach seiner Meinung kein Weg zu einer wirklich zeitgemäßen Kunst führt [2], und untersucht seine Reflexionen über die verschiedensten Aspekte der darstellenden Kunst, die er in der Form des Gesprächs, der Rede, des Essays, aber auch der reflexiven Passagen innerhalb seiner Bücher geäußert hat.
Der Titel dieser Arbeit - «Der sekundäre Diskurs im Werk von Botho Strauß» - bezieht sich auf Botho Strauß’ Essay «Der Aufstand gegen die sekundäre Welt» aus dem Jahre 1990. In diesem Essay, der als Nachwort zu Georg Steiners Buch «Von realer Gegenwart» erschien, wird mit «sekundärem Diskurs» jedes Reden über Kunst bezeichnet, das in der Form journalistischer oder akademischer Diskurse für Botho Strauß die unmittelbare Erfahrung von Kunst nahezu ersetzt hat bzw. sie erschwert. Nun war Botho Strauß aber selbst einige Jahre als Rezensent tätig und die eigentliche Herausforderung seiner Arbeit bezeichnete er 1971 als den Versuch, sich «zu theoriebildenden Gedanken über das Theater und seine Ästhetik anregen» [3] zu lassen. In einem sechsundzwanzig Jahre später gegebenen Interview nennt sich Botho Strauß einen «poetologischen Theoretiker», der einfach «kein reiner Künstler» [4] sein kann. Zwar mag in dieser Äußerung ein gewisser Hader mit sich selbst zum Ausdruck kommen, grundsätzlich mißt Botho Strauß als ein bedeutender Künstler der reflexiven und wissensverarbeitenden Seite der Kunst aber eine entscheidende Rolle zu: «Die deutsche Literatur ist ideell. Sie lebt von Gedankenschönheit.» (Bl, 83) Ohne der Arbeit an dieser Stelle vorausgreifen zu wollen, ist das Werk von Botho Strauß neben der intimen Kenntnis des Theaters ebenso von dieser Gedankenschönheit und ihrem ideellen Reichtum geprägt, der sich am unmittelbarsten in den Essays und in der Reflexionspoesie des Autors ausdrückt. Diese Eigenart des Straußschen Werkes bildet die Voraussetzung der nachfolgenden Untersuchung: Ihr Interesse gilt nicht in erster Linie den Dramen, Romanen, Erzählungen oder Gedichten dieses Autors, sondern den Reflexionen dieses Autors über die darstellende Kunst in diesen Werken, wobei insbesondere die Essays, Reden, Gelegenheitspublikationen und Briefe von Botho Strauß zu maßgebenden Quellen werden.
Der Aufsatz «Aufstand gegen die sekundäre Welt» nimmt in Botho Strauß’ Oeuvre dabei eine Schlüsselstellung ein, denn in ihm wird eine Poetik entworfen, die in selten klarer Weise das ästhetische Programm dieses Dichters formuliert: Zurück zum «Primären» - dem Erlebnis des Kunstwerks selbst, keine Interpretation von Kunst, sondern der Versuch, ihr zu antworten. Der letzte Satz von Susan Sontags Essay «Against Interpretation» gilt für dieses Programm noch immer: «»Statt einer Hermeneutik brauchen wir eine Erotik der Kunst.» [5] Und doch geht Botho Strauß Poetik einen Schritt weiter, denn während Susan Sontag ihren Essay letztlich in der Absicht verfaßte, die Kunstkritik in ihrer Betrachtung der Kunst vom Inhalt auf die Form als entscheidendem Moment zu lenken, lehnt Botho Strauß wie auch Georg Steiner jedes kunstlose Sprechen über Kunst ab, da es deren essentiellen Charakter verfehlt und entstellt. Im Zentrum des Essays «Der Aufstand gegen die sekundäre Welt» steht daher die Entwicklung einer essentialistischen Deutung der Sprache, und das heißt natürlich vor allem: der Sprache der Kunst. Sie ist das Unmittelbare selbst, das sein Wesen in sich trägt und eine transzendente Stiftungsmacht bezeugt. Aus der Unmittelbarkeit der künstlerischen Sprache «spricht» sozusagen immer auch die reale Anwesenheit dieser Stiftungsmacht - Botho Strauß nennt sie die «Gegenwart des Logos-Gottes» (A, 307). In der Erfahrung der Kunst überschreitet sich nach dieser Poetik der ihr Begegnende selbst und darin gleicht diese Erfahrung der Feier der Eucharistie und einem Akt der Kommunion. Für den Dramatiker gewinnt diese «mediale» Fähigkeit der Sprache im Hinblick auf das Medium der Bühne dabei immer größere Bedeutung - aus der Konzeption des Aufstand-Essays erschließt sich somit auch die Kontur von Botho Strauß’ Interesse an der mythischen Gegenwart des Theaters auf eine neue Weise.
Die Spuren dieses ästhetischen Programms von 1990 lassen sich im Werk von Botho Strauß bereits in seinen Kritiken aus den späten sechziger Jahren entdecken: das Interesse an der mythologischen Dimension des Theaters und der Dramatik beschrieb er in den Werken von Witold Gombrowicz und den Aufführungen der Theatertruppe Grenier de Bourgogne, ebenso die Autonomie der ästhetischen Sprache des Theaters und der Literatur in der Betrachtung von Autoren wie Peter Handke und Heiner Müller oder einem Perfomance-Künstler wie Joseph Beuys. Von zentraler Bedeutung für das Denken und Kunstverständnis von Botho Strauß jener Zeit bei «Theater Heute» waren aber vor allem die Schriften Michel Foucaults, dessen pragmatischer Blick auf die Macht der Diskurse und ihrer Strukturen wurde für Botho Strauß zur Schule seiner ästhetischen Wahrnehmung.
Den Ausgangspunkt dieser Arbeit wird daher im ersten Teil der Aufstand-Essay bilden, um dann, ausgehend von der darin formulierten Poetik, die auf dem Mysterium der Sprache beruht, den poetologischen Entwicklungsweg dieser Sprachkonzeption als einen «Weg» von Michel Foucault zu Georg Steiner zu beschreiben. Die spezifische Rezeption der Texte Michel Foucaults im Werk von Botho Strauß läßt darauf schließen, daß der Dichter von ihnen zutiefst inspiriert ist, Foucaults Technologie der «Überschreitung» z.B. jedoch in ganz andere Bahnen lenkt. Am Ende des ersten Hauptteils, der sich im wesentlichen den verschiedenen Aspekten der Straußschen Ästhetik im Zusammenhang ihrer Sprachkonzeption widmet, steht die eingehende Betrachtung der Äußerungen des Dichters über sein eigenes Schreiben für das Theater, insbesondere Betrachtung seiner Reflexionen über seine Dramaturgie und die der Stücke anderer Autoren.
Im zweiten Teil dieser Arbeit steht dann weniger die Sprache selbst im Vordergrund, vielmehr die Gedanken von Botho Strauß über die darstellende Kunst selbst und das heißt: seine Vorstellungen vom Theater als einer Institution, das als Medium zugleich auch ein Modell ist; und dann natürlich seine Reflexionen über die Schauspielkunst und die Arbeit des Regisseurs. Im Zusammenhang mit den Betrachtungen des ersten Kapitels, das sich der Sprachkonzeption und den Äußerungen dieses Autors zum Text widmet, ermöglicht diese zweite Studie dann den Blick auf ein in sich vielfältig vernetztes und miteinander korrespondierendes Netz reflexiver Äußerungen, die die Grundzüge seiner Poetik in den vergegenwärtigenden Aspekten der darstellenden Kunst widerspiegeln und als ein «Projekt» kenntlich machen.
Die hier vorliegende Arbeit unternimmt erstmals den Versuch, die im gesamte Oeuvre von Botho Strauß enthaltenen Reflexionen zur darstellenden Kunst auf eine systematische Weise in einen Zusammenhang zu bringen und in ihrer Entwicklungsgeschichte von dreißig Jahren zu betrachten. Dabei wird davon ausgegangen, daß sich diese Überlegungen von Botho Strauß nicht zu einer in sich konsistenten Theorie des Theaters fügen, sehr wohl aber in all ihren Teilbereichen übergreifende Momente besitzt, die in diesen Überlegungen einige Grundzüge der Straußschen Auffassung vom Theater, vom Schreiben für das Theater, die Schauspielkunst und Regie offenbaren. Die nach diesen Schwerpunkten gegliederte Studie ist dabei von der Annahme folgender Wechselverhältnisse geleitet, die jeden dieser Problemkreise prägen:
«Denken - Darstellen»:
Das Denken von Botho Strauß ließe sich als eine Überwindungsgeschichte folgender Stationen interpretieren: Vom Denken in Widersprüchen (Dialektik) gelangt es zu einem Denken in Differenzen (Strukturalismus) und von diesem zu einem Denken in Revelationen (sakrale Poetik). Auf eine verkürzende Weise ließe sich diese Entwicklung mit Botho Strauß’ Beziehung zum Werk der Autoren Theodor W. Adorno, Michel Foucault und Georg Steiner verbinden. Für sein Schreiben bedeutet dies einen Übergang von der Kritik zur strukturalistischen Analyse von Bewußtseinsprozessen, wobei dieser Übergang den eigentlichen Beginn von Strauß’ künstlerischer Arbeit markiert und von Anfang an nicht nur mit dem Interesse an der Macht und Form der Diskurse, die den Menschen prägen, verbunden ist, sondern auch an den mythologischen Dimensionen dieser kommunikativen Muster, die dann zur «Mythenumschrift» der Gegenwartsverhältnisse führt. Die «Betrachtungsweise» des Strukturalismus, die Botho Strauß bereits als Kritiker entdeckt hat, wird dabei später zur literarischen «Technologie», die sich mit Foucaults Konzept der «Überschreitung» eng verbindet, jedoch auf die «Leere», die aus der Trennung der Elemente resultiert, mit einem Konzept antwortet, das den Kunstrezipienten durch das Angebot einer spezifische Wahrnehmungsweise zum Teil des Kunstwerks macht, das ihm die Erfahrung einer «Andersheit» und «Anwesenheit» ermöglicht. Zunächst ist dies die Anwesenheit des ergänzenden Wahrnehmungsraums der Kunst selbst, die sich, auf ein «inniges Versehen» hin angelegt, für den Betrachter öffnet - die Dramaturgie des Fadings und der Realismus der Diskurse schaffen hierfür die sich öffnende Oberfläche. Später wird diese augenblickshafte Ergänzung auf eine Erfahrung von Positivität hin angelegt, die göttlicher Natur ist. Somit vollzieht sich auch ein Übergang von der Darstellung von Bewußtseinsprozessen und Verkehrsformen zu der von Revelationen, dessen wesentliches Kennzeichen von Beginn an der Umbau stringenter Hierarchien in ein musikalisch dynamisches Geflecht der Ebene oder Gruppentotale war.
«Zeit - Form»:
«Bloße Gegenwart» gibt es für Botho Strauß in der Kunst nicht. Sowohl im Schreiben nicht, das ein Teil des großen Archivs der Schrift ist, aus ihm schöpft und in es mündet, wie auch im Theater nicht, das aufgrund seiner besonderen Beschaffenheit unausweichlich mehrere Zeiten miteinander in Berührung bringt, wenn es einen vorliegenden Text vergegenwärtigt - in dieser temporalen Besonderheit liegt aber auch die mythologische Verwandtschaft von Bühne uns Text begründet, die Botho Strauß bewegt und der sein Werk entspricht. «Bloße Gegenwart» gibt es aber auch nicht für den Schauspieler, der sich als Medium dieser unterschiedlichen Zeiten seiner Kunst bewegt und auch nicht für den Regisseur, der letztlich nicht das Stück inszeniert, sondern von der Gegenwart des Stückes ausgeht, das ihn ergänzt und vice versa. Die Zeitvorstellung des Dichters ist dabei vom Zeitmaß der Wiederholung geprägt, dem Zurückholen des Vergangenen und der damit verbundenen Berührung einer Ganzheit, die sich an die Erfahrung ursprünglicher Formen bindet, die zwar in der Gegenwart blitzhaft aufscheinen, aber die Gegenwart selbst nicht mehr zur Ganzheit fügen. Im Werk von Botho Strauß äußert sich diese Vorstellung als eine Inszenierung der Flüchtigkeit, die in ihrem Verlauf die Anwesenheit beständiger und machtvoller Formen bezeugt, welche von der des Diskurses nahtlos zu der des Mythos wechseln. Die Erzeugung der Flüchtigkeit und der Unschärfe wird so zur Voraussetzung für eine Erfahrung von «Augenblicken ungeahnter Ergänzung», welche die Formen der Kunst stiften. In diesen Augenblicken begegnet also das Verschwinden dem Ständigen, das sich nach dieser Konzeption nicht mehr als geschlossener Verlauf oder Geschichte offenbart, sondern im augenblickshaften Einbruch des Gemeinsamen. Aus dem ereignishaften Theater wird so ein Theater der Kommunion. Und eine den Flüchtigkeiten und Expressionismen des medialen Zeitalters entsprechende Ästhetik der Anpassung erfüllt so zugleich die Aufgabe der Anamnesis und Apokatastasis - der Wiedererinnerung eines ideal gedachten Vergangenen und seine Bestätigung im Jetzt. Auch dieses Wechselverhältnis von einer spezifisch entworfenen Zeitauffassung und einer ihre entsprechenden Auffassung von der künstlerischen Form spiegelt sich sowohl in Strauß’ Äußerungen über das Schreiben wie auch in seiner Auffassung vom Theater, der Schauspielkunst oder Regie.
«Kunst - Gesellschaft»:
Die nachfolgende Untersuchung behauptet einen für das Werk von Botho Strauß prägenden Zusammenhang zwischen den Phänomenen «Fremdheit» - «Pathos» - «Kommunion». Ausgangspunkt der Straußschen Arbeit für das Theater war die Behauptung, daß die Kunst die Wirklichkeit nicht abbildet, sondern durch die Entdeckung der Mittel ihres eigenen Mediums «verwirklicht». Das Theater-Kunstwerk verfremdet nicht die Wirklichkeit, sondern ist in ihr selbst das Fremde, bestimmt von den Regeln der Eigengesetzlichkeit seiner Kunst. Die Hermetik und Selbstbezüglichkeit des Kunstwerkes wird für Botho Strauß zu seiner vitalsten Eigenschaft. Seine Bedeutung für die Gesellschaft gewinnt es nicht durch die Nähe zu ihr, sondern durch die Nähe zu sich selbst, d.h. zum Reichtum seiner in sich bewahrten Erinnerung, wodurch das Kunstwerk erst das «Fremde» wird. Ähnlich wie der Mensch für Botho Strauß ein «augenblicksgewaltiges Wesen» ist, das nur im Durchschein transindividueller Formen Gestalt gewinnt, besteht auch für das Kunstwerk die Aufgabe darin, Durchgangsstation für die Strömung und Dispersion von Formen zu sein, die es augenblickshaft bannen und aufzeigen kann. In diesen Augenblicken entfaltet das Absoluten seine Macht und erscheint im Kunstwerk als das Andere, als die Anwesenheit des Mythos und der Form, die das Maß des Vernünftigen und Schönen überschreitet. Im Pathos dieser Erfahrung vollzieht sich die Kommunion von Text, Schauspieler und Publikum im Übernehmen dieser Andersheit. Der «moderne Realismus», den Botho Strauß entwickelt hat, geht dabei zwar von der grundsätzlichen Fremdheit jedes Menschen aus, versteht sich aber insofern als die einzig menschliche Arbeitsweise, als er daran glaubt, daß das Ideale und Transzendente sich nur im Menschen zeigen kann, wenn das «Größere» für Augenblicke in ihm «aufgeht» und somit er im Auge des Betrachters.
Obgleich das Werk von Botho Strauß sicher zu den beststudierten Texten der Gegenwartsliteratur zählt, liegt eine eigenständige und systematische Betrachtung seiner Gedanken zur darstellenden Kunst noch nicht vor, insbesondere was deren, vom Autor eingehend reflektierten, berufspraktischen Aspekte betrifft. Wegweisend für diese Arbeit waren die Untersuchungen zum Theaterkonzept von Strauß’ Texten durch Bernhard Greiner, Ursula Kapiza, Sigrid Berka und Helga Kaußen. Hervorragende Einzelstudien zur Dichterpoetik und kritische Analysen einzelner Werke finden sich bei Robert Leroy und Eckart Pastor, Alexander von Bormann, Stefan Bolmann, Lutz Hagestedt, oder Hans Jürgen Scheuer. Botho Strauß’ Rezeption naturwissenschaftlicher Erkenntnisse untersuchten am eingehendsten Jürgen Daiber und Johannes Bellmann.
Die Zitate aus Texten von Botho Strauß oder seiner wörtlichen Rede sind in dieser Arbeit kursiv geschrieben. Für den Nachweis der am häufig zitiertesten Werke werden Siglen verwendet, die am Ende der Arbeit nachgewiesen sind.
Diese Arbeit wurde von der Hans-Böckler-Stiftung mit einem Promotionsstipedium gefördert. Ohne diese finanzielle Hilfe wäre es mir nicht möglich gewesen, diese Arbeit anzufertigen. Für die geleistete materielle und ideelle Unterstützung möchte ich der Stiftung und insbesondere Werner Fiedler danken.
[1] Kapitza, Ursula: »Bewußtseinsspiele. Drama und Dramaturgie bei Botho Strauß.”, Frankfurt a.M., 1987, S.297
[2] «Das Wissen,» so Botho Strauß, «hat uns ethisch, philosophisch, poetisch in der Hand. Außer dem finstersten Rückfall, der erbitterten Ignoranz, dem kriegerischen Kulturschock (Schock vor uns selber) gibt es keinen denkbaren Einhalt - bis aller Eifer gestillt ist. Bis wir eines Tages vor uns haben ein Erkenntnis-Rund und hoffentlich so wie die theoretischen Griechen uns verhalten werde, die am Bernstein wohl die Elektrizität entdeckten, sich aber nicht weiter dafür interessierten.” (Na, S.153)
[3] Strauß, Botho: «Über Rührung und Emphase» (1971), in: ders.: «Versuch, ästhetische und politische Ereignisse zusammenzudenken». Frankfurt a.M., (Verlag der Autoren), 1987, S. 239, (nachfolgend abgekürzt mit: «Versuch»)
[4] Tilman Krause: «Ein guter Hasser, der lieben will» (Gespräch mit Botho Strauß), in: «Der Tagesspiegel», 20. 7. 1997, S.W1
[5] Sontag, Susan: «Gegen Interpretation», in: «Geist als Leidenschaft. Ausgewählte Essays», Leipzig und Weimar (Gustav Kiepenhheuer Bücherei 91), 1989, S.16