TIP: Was ihr letzter «Wow»-Moment bei einem Kunstwerk?
THOMAS OBERENDER: Ich habe gerade den Roman «Diamond Age» von Neal Stephenson gelesen. Er ist der Lieblingsroman von Philippe Parreno. In diesem Science Fiction wird eine neue Form von Theater beschrieben. Stephenson nennt es: «Das dynamische Theater» oder «Smarttheater». Es schafft eine «Welt ohne Außen», in der zunächst unklar ist, wer Schauspieler und wer Zuschauer ist und wo die Szene anfängt oder aufhört. Im Grunde funktioniert diese Form von Theater, wie sie Stephenson visioniert, als eine Ballung der unterschiedlichsten Stücke, die ineinander übergehen, sich gegenseitig verschmutzen und beeinflussen – ohne Anfang, ohne Ende, ein Vorgang, der inhaltlich nichts wiederholt, sondern entlang bestimmter Rituale und räumlicher Verschaltungen alles miteinander verbindet. Mich erinnert das sehr an Parrenos Ausstellungen, die ja für ihn ebenfalls das primäre Werk sind – also nicht die in ihnen ausgestellten Dinge sind die Sache, um die es geht, sondern das intelligible «Stück», das durch sie aufgeführt wird. Als ich das begriff, dachte ich: Wow!
Und woran arbeiten Sie selber gerade?
Ich möchte anlässlich des anstehenden Jubiläums der deutschen Wiedervereinigung mit meinen Kollegen und Kolleginnen ein Format entwickeln, das eine verschüttete und abgeschnittene Erinnerung an Zukunftsszenarien, die für eine historisch kurze Zeitspanne einmal offen waren und kollektiv geträumt wurden, zum Ausgangspunkt nimmt und ihre Spur ins Heute verlängern. Es geht um eine Archäologie und Gegenwart der Dritten Wege und ein großes Fest, in dem Theater und Musik ohne die übliche Rahmung durch ein Portal eine nicht illustrative, sondern abenteuerliche Rolle spielen.
Ihr Lieblingskunstwerk in einem Berliner Museum?
Oh, da will ich nicht zu originell sein. Da ich ein wirklich großer David Bowie-Fan bin, empfehle ich Grafiken von Karl Schmidt-Rottluff im Brücke-Museum.
Welches sind wichtige Entwicklungen im aktuellen Kunstbetrieb?
Tja, wenn man von Betrieb spricht, wird es ja gleich ganz beklemmend. Im Musik-Betrieb, um mal ein anderes Feld zu beschreiben, erleben wir vor allem im Bereich der Musik-Festivals offensichtlich eine erfrischende Rivalität zwischen Werk und Format. Oft sind es heute Formate, die für das Publikum eine höhere Attraktivität entwickeln als einzelne Werke. Und ich denke, das passiert im Kunstbereich jetzt auch. Nicht, dass sich das Format der Ausstellung nicht schon seit langem selbst reflektiert, aber die spannendsten Ausstellungen sind in den letzten Jahren oft solche, die von Künstlern kuratiert oder mitkuratiert wurden und selber Werk-Charakter angenommen haben. Denken Sie an Thomas Demand, Kai Althoff, Ed Atkins, Tacita Dean oder Luc Tuymans. Frauen reflektieren diese Entwicklung radikaler und schneller: Nina Pohl und Julia Stoschek mischen mit ihren Häusern und Ausstellungsprojekten Berlin inzwischen ziemlich auf.
Gibt es für Sie einen Ort wo Sie garantiert niemanden aus der Kunstszene treffen?
Ja, im Theater.
Worauf freuen Sie sich bei der kommenden Berlin Art Week?
Ich freue mich darüber, dass Stephanie Rosenthal als neue Direktorin unseres Ausstellungshauses Lust hat, sich mit ihrem Gropiusbau-Programm an der Art Week zu beteiligen.