«Der Schlüssel zum Fahrstuhl»
von Thomas Oberender
Wenn ich an Joachim Fiebach zurückdenke, dann an einen Professor fortgeschrittenen Alters, der einen Fahrstuhlschlüssel hatte, hingegen wir als Studenten das enge Treppenhaus hinauf bis unters Dach mehrmals täglich liefen. In diesem Umstand lebte, mitten im Sozialismus und dazu in keinem Widerspruch stehend, noch ein Rest des neunzehnten Jahrhunderts fort. Und mitten drin dieser grau verpackte Institutsleiter von unscheinbarem Äußerem, immer ohne Schlips, mit einem verborgenen Auftrag zur intellektuellen Renitenz, zum Anders- und Selberdenken dort oben unterm Dach. Denken war damals eine ernste Sache, die ins Gefängnis führen konnte, oder eben auf einen Lehrstuhl mit sehr hohen Beinen. Von da herab ließ sich mit etwas Geschick und Glück ein Gespräch über die Mauer hinweg mit Ost- und Westintellektuellen führen, mit Europäern und Nichteuropäern – ein Zustand real empfundener Freiheit, gerade weil sie in diesem Sozialismus des 19. Jahrhundertstils etwas so seltenes war.
Ich sah während all der Studienjahre meinen Professor und späteren Doktorvater nie einen Tisch verrücken oder Stuhl umher tragen, wie das später die jungen Dozenten aus den westlichen Bundesländern machten, die uns sogar duzten. Er durfte Zeitungen und Bücher in der Bibliothek bestellen und lesen, die wir als Studenten zu Ostzeiten nicht erhielten oder nur unter sehr erschwerten Bedingungen. Er hatte Westgeld, er publizierte in der Bundesrepublik und erzählte von seinen Reisen nie etwas, aber sorgte dafür, dass «Theater heute» in unserer Fachbibliothek lag. Wenn ich darüber nachdenke, so war Professor Fiebach damals, als er das Theaterwissenschaftliche Institut der Humboldt Universität leitete, unwesentlich älter als ich jetzt, da ich diese Zeilen aus der Erinnerung und zur Erinnerung an ihn schreibe.
War er nicht schon immer grauhaarig? Seltsam verwunden saß er im Seminarraum am Tisch. Seitlich von der Sitzmitte nach außen um die Stuhlbeine verklammerte er seine Beine. Er sah uns Studenten nie gerade in die Augen, sondern betrachtete uns aus leicht zusammengekniffenen Winkeln, hellwach, verschmitzt und skeptisch. Etwas seltsam Berlinerisches, Schlagfertiges verband sich in seiner Rede oft mit dem direkten Gegenteil – einer skrupulösen Bedenklichkeit, die Aussagen gerne als Fragen formulierte. Er stand mit höheren Mächten im Bunde: Heiner Müller, Dieter Sturm, Jean-Francois Lyotard. Er, Joachim Fiebach, war das Loch in der Mauer, durch das wir einatmen konnten, was in der Welt sonst so gedacht wurde, jenseits des Miefs. Er hat den Mief nicht gemocht. Er war vorsichtig. Er hat versucht, seine Karriere und seinen Fachbereich durchs System zu schaukeln und später, als es dieses Geisterschiff bis in den Hochschulhafen des wiedervereinten Deutschlands navigiert hatte, war er noch immer ein viel zu unschuldsverliebter Boheme, als dass er die älteste Theaterwissenschaftssektion Deutschlands, die Fakultät, an der diese Wissenschaft erfunden wurde, an dieser ostberliner Universität hätte retten können. Er war kein Realpolitiker, ambitions- und chancenlos im Demokratieüben. Er war auch hier Dissident im Wortsinn: Einer, dem das Gegebene widerstrebt.
Zu Ostzeiten war er «the man on the wire». Die alten Größen des Faches, staatssozialistisches Theoriegestein wie Ernst Schumacher, hatte er zu Ende regieren sehen und erlebt, wie die Karrieren geschätzter Kollegen abrupte Wendungen nahmen, zum Beispiel nach Leipzig. Irgendwie hat er es gelernt, zwar in dieser sozialistischen Einheitspartei zu sein und die Kotaus vorm Marxismus-Leninismus zu verrichten, die man zu seiner und für einige Zeit durchaus auch auf der anderen Seite der Mauer übte, aber mit einem Dreh in Richtung innerer Glaubwürdigkeit – also pflichtschuldig und doch nicht gelogen, erwartungsgemäß und doch nicht dumm. Er hat es geschafft, sich der politischen und intellektuellen Obrigkeit als klug und führungsbegabt zu empfehlen, weltanschaulich mit der richtigen Sache befasst zu erscheinen, und doch im Denken ein ganz eigenes Ding zu drehen. Wenn ein späterer Wissenschaftsgeschichtler sich einmal mit Joachim Fiebachs Arbeitsgeschichte befassen wird, kann dies schwer etwas anderes offenbaren, als einen Mann hochkultivierter Widersprüche – er war stets im Widerstand, wenn auch ohne je eine für uns sichtbare Schlacht zu schlagen. Eher war es ein ständiger Partisanenkampf gegen die Verkleinerung und Indienststellung des Intellektuellen durch die Machtinteressen des Staates, den er führte. Es war ein denkgeschichtlicher Widerstand, der alle Quellen, ob frühsowjetische oder jüngstfranzösische, Westberliner Avantgardekonzepte oder die von Heiner Müller auf einen Punkt zuführte: Denken muss den Denkenden emanzipieren.
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