Leseprobe
21.Juli 2019
Der Park Akadimia Platonos liegt nordwestlich des Zentrums von Athen. Seine gro- ßen, trockenen Wiesen sind im Sommer von breiten Wegen und Trampelpfaden durchzogen. Zwei ein- spurige Fahrstraßen trennen den Park in kleinere Teile. Kinder spielen hier, Jugendliche machen Musik und die verschiedensten Communitys bilden ihre sozialen Inseln im Grünen.
Im südöstlichen Teil, oberhalb der Vasilikon Straße und unweit der Agios-Trifon-Kirche, befindet sich der archäologische Park der Platon Akademie. 387 v. Chr. hat Platon hier einen Kultbezirk für die Musen und seine philosophische Schule gegründet, in einem Hain außerhalb der Stadtmauern Athens, der nach dem mythischen Helden Akademos Akademeia ge- nannt wurde. Die auf einem tiefer gelegenen Plateau des Parks gelegenen Grundsteine des antiken Schul- gebäudes bilden ein Karree aus kniehohen Mauer- steinen, denen die umstehenden Olivenbäume und Pinien Schatten spenden.
Wie durch ein Wunder konnte diese historische Stätte über viele Jahrhunderte hinweg von den Athe- nerinnen und Athenern als ein freier, öffentlicher Ort erhalten werden.
2015 gründete die Künstlerin Joulia Strauss in Pla- tons Garten die Avtonomi Akadimia – eine autonome Akademie, die ihr Bildungskonzept als eine Form aktivistischer Praxis versteht. Zugleich war Strauss’ Akademie Teil des Widerstands vieler Anwohner und Athener gegen die geplante Überbauung des Parks durch eine Shopping Mall, wie sie von der Firma BlackRock geplant worden war. Dank der viel- fältigen Proteste wurden diese Pläne in letzter Se- kunde abgewendet, die Akademie hingegen lebt seit- her weiter. Nachdem wir bei den Berliner Festspielen anlässlich des 30.Jubiläums der Maueröffnung den abgerissenen Ostberliner »Palast der Republik« als ei- nen »Palast der Gegenerzählungen« im Westen der Stadt wieder errichtet hatten, wurde ich drei Monate später von der Avtonomi Akadimia eingeladen, in Athen von meinen Erfahrungen mit der deutschen Wiedervereinigung zu berichten. Ungefähr 30 Gäste aus Griechenland, England und Deutschland waren gekommen. Als wir begannen, war die Sonne gerade hinter den alten Pinien verschwunden, am Ende un- serer Begegnung war es tiefe Nacht.
Dieser 21.Juli war Tag eines heftigen Erdbebens, dessen Epizentrum nur 60Kilometer von Athen entfernt und ungewöhnlich nahe der Erdoberfläche lag. Ich erlebte die wenigen, aber starken Erdstöße gegen Mittag in einer Apotheke, die plötzlich er- bebte, als würde ein Panzer das Gebäude rammen – die Arzneimittel fielen aus den Regalen und die An- gestellten liefen, ohne sich weiter um ihre Kunden und Kasse zu kümmern, telefonierend ins Freie. Jetzt, am Abend in diesem Garten, saßen die Besu- cherinnen und Besucher der Akademie auf den anti- ken Steinen des Schulgebäudes und verteilten Was- ser und Antimückenspray.
Joulia Strauss: Nehmen wir uns drei Minuten, um uns mit dem Herzschlag der Erde zu synchroni- sieren.
Thomas Oberender: Oh ja, der Herzschlag der Erde war heute intensiv zu spüren, danke. Es freut mich sehr, dass wir uns in diesem besonderen Garten treffen. Ich werde von Erfahrungen sprechen, über die ich selten rede. Ich habe mich über diese Einla- dung sehr gefreut und es macht in Griechenland auch einen besonderen Sinn, über die deutsch-deutsche Geschichte aus einer spezifischen Perspektive zu sprechen, die im Ausland, das Deutschland eher als einen machtvollen, monolithischen Block erlebt, kaum wahrgenommen wird. Das gilt auch für das Selbstbild der Deutschen in Deutschland , das in den
Medien und im politischen Diskurs überwiegend westdeutsch geprägt ist. Die Lage im Osten Deutsch- lands, 30 Jahre nach der Wiedervereinigung, ist mir besonders nah, da ich in Ostdeutschland geboren wurde und zur letzten Generation zähle, die dort noch erwachsen wurde. Zugleich haben die Wahler- folge der rechtspopulistischen AfD heute zu einem sehr viel breiteren Interesse an den gesellschaftli- chen Entwicklungen in den neuen Bundesländern geführt – was mit einer scheinbar kaum erklärbaren Polarisierung zwischen einem sich politisch radikali- sierenden Osten und bürgerlich gemäßigten Westen verbunden ist. Auch ich möchte das nicht erklären. Ich bin kein Soziologe oder Historiker, sondern folge meinen Erinnerungsspuren an die letzten 30 Jahre und versuche, die Entwicklung meiner eigenen Ge- fühle zu verstehen.
Rückblickend fällt mir auf, dass ich nie Ostdeut- scher sein wollte, weder in der DDR noch danach. Ich habe mich auch lange nicht als solcher empfunden. Als ich in der ehemaligen DDR aufwuchs, fühlte ich mich, als ob ich bereits »draußen« wäre. Die DDR, dieses offizielle Land mit seinen Behörden und Ri- ten, das waren die anderen. Ich war 23, als die Mauer geöffnet wurde. Aber ich hatte auch zuvor nie das Gefühl, auf Dauer hinter der Mauer eingesperrt zu bleiben. Ich war überzeugt, ich würde rauskommen, ohne fliehen zu müssen – durch meine Arbeit, meine Neugier, Intelligenz, etwas, das sich nicht einsper- ren lässt. Vielleicht war das nur jugendliche Zuver- sicht, aber ich war mir dessen gewiss. Ich wurde in der DDR durch Westliteratur geprägt, die Romane Pynchons, die Denker der jungen Postmoderne, Grenzgänger wie Heiner Müller und vor allem na- türlich Popmusik, Fernsehen und Kino aus dem Westen. Dieses zu uns gelangte Aroma des Westens erzeugte auf magische Weise eine Erfahrung von Freiheit. Das war der »Westen« – viel mehr als seine politische und wirtschaftliche Realität. Die Distanz zum DDR-Staat, seinem Militarismus mit Schul- appellen und Handgranatenweitwurf im Schulsport, diese Angst, ständig für irgendwas bestraft werden zu können, all das führte im Laufe der Zeit zu einer inneren, alternativen Realität, in der ich mehr zu leben glaubte als in dem offiziellen Land, das mich umgab. Sieht man von wenigen Lehrern oder Freun- den ab, waren es nur die Kunst und Popkultur, die eine andere Sprach- und Empfindungswelt förder- ten, und so bewegte ich mich mitten in der späten DDR irgendwo zwischen James Baldwin, Perestroika und Neuer Deutscher Welle.
(…)
Unzählige konstruktive Ideen für einen gelingenden deutsch-deutschen Neustart seien vertan worden: In «Empowerment Ost» benennt Thomas Oberender Defizite der letzten 30 Jahre deutsch-deutscher Geschichte. Dank seiner vielen präzisen Gedanken, Analysen und Schlussfolgerungen ist das Buch eine Anerkennung der Erfahrungen der Ostdeutschen vor, während und nach der friedlichen Revolution von 1989. Es ist eine mögliche Antwort auf die Frage, wie wir zusammen wachsen können, auch über den deutsch-deutschen Diskurs hinaus.
Der 1966 in Jena geborene Theaterwissenschaftler erinnert daran, wie schnell 1989/90 die Bestrebungen des Zentralen Runden Tisches, dessen primäres Ziel noch die Reform der DDR war, von der Kohl-Regierung unterminiert wurden. Mit dem 10-Punkte-Plan kam die deutsche Einheit mit aller Macht auf die politische Agenda.
Die wollten auch viele Ostdeutsche. Allerdings ahnten sie nicht, was das vorgelegte Tempo und das westdeutsche Gebot des Beitritts für sie bedeuten würde. Unzählige konstruktive Ideen für einen gelingenden deutsch-deutschen Neustart wurden vertan.
«Natürlich wäre die Erarbeitung einer gesamtdeutschen Verfassung das Zeichen für einen gemeinsamen Neubeginn in unserem ganzen Land gewesen. Dieses Prinzip wurde im Artikel 146 formuliert. Und für diesen sich nun abzeichnenden Fall wollte die letzte DDR-Regierung einen ostdeutschen Verfassungsentwurf vorbereiten, wofür am Zentralen Runden Tisch die Bildung einer dafür verantwortlichen Arbeitsgruppe beschlossen wurde», schreibt Thomas Oberender.
Das Ergebnis ist bekannt. Der Entwurf wurde abgetan mit den berühmt gewordenen Worten des CDU-Poitikers Rupert Scholz, er sei «Lyrik, Utopie und Prosa».
Nachzulesen sind in Oberenders Buch auch noch einmal Zahlen und Fakten zur Treuhand, die die ehemals volkeigenen Betriebe privatisierte und zu 95% an westdeutsche und ausländische Investoren verkaufte. Darin arbeiteten dann – und das hat sich bis heute nicht geändert – kaum noch Ostdeutsche.
Thomas Oberender benennt viele Defizite der letzten 30 Jahre deutsch-deutscher Geschichte. Zusammenwachsen, so sein Fazit, können Ost- und Westdeutsche so nicht. Es bedürfe der weiteren Aufarbeitung und Benennung vieler Versäumnisse.
So zum Beispiel sollte man nicht verkennen, welch progressives Potential auch und gerade für die Gegenwart in dem verworfenen Verfassungsentwurf von 1989 steckt, für den Christa Wolf übrigens die Präambel schrieb. «So sollte z.B. das Grundrecht auf Wohnen und Arbeiten, also der rechtliche Anspruch auf Arbeit und eine Wohnung, Teil der neuen Verfassung sein. Auch der Umweltschutz, Geschlechtergleichheit und andere Dinge sollten Staatsziele des wiedervereinten Deutschlands werden.»
Die Forderungen sind auch heute in aller Munde, denn wieder leben wir nach Ansicht des Autors in einer Wendezeit –Thomas Oberender spricht vom Klimawandel, der dazu zwänge, die Pausentaste zu drücken.
«Empowerment Ost» ist mit seinen vielen präzisen Gedanken, Analysen und Schlussfolgerungen eine Anerkennung der Erfahrungen der Ostdeutschen vor, während und nach der friedlichen Revolution von 1989. Das schmale Bändchen kann durchaus als eine mögliche Antwort verstanden werden auf die Frage, wie wir zusammen wachsen können, nicht nur im deutsch-deutschen Diskurs.