«Totale Gegenwart»
Zu den Verwirbelnden der Kunst nach der Moderne
Alexander Garcia Düttmann, Thomas Oberender, Frank M. Raddatz
Raddatz: «Gegenwartskunst» heißt die Kunst unserer Zeit nicht nur, weil sie in unserer Zeitgenossenschaft stattfindet, sondern weil sie Gegenwart produzieren will. Nun könnte man meinen: Gegenwart gibt es schon. Warum sie also explizit produzieren?
Oberender: Gegenwartskunst kann man im Botho Strauss’schen oder im George Steiner’schen Sinne auch so verstehen, daß es nie darum geht, die Aktualität zu erwischen oder das Jetzt abzubilden, sondern einen Vorgang in Gang zu setzen, der etwas vergegenwärtigt, das prinzipiell herbeigeholt und aus dem Vergangenen zu uns befördert wird. Insofern ist die intensivste Form von Gegenwartskunst die klassische Form von Interpreten-Kunst: der Interpret, der das Werk eines anderen Autors gegenwärtig macht und somit unserer Zeit die Erfahrung einer anderen Zeit hinzufügt – in dieser Begegnung ereignet sich der heiße Knall der Kunsterfahrung im klassischen Modell. Dieses Konzept von Vergegenwärtigung ist das Gegenteil dessen, was wir heute als Präsenzkunst kennen: Das meint jene Kunst, die das Konzept der Vergegenwärtigung abstreift und ganz die reale Gegenwart der Situation setzt, die wir gemeinsam teilen, die also eine Echtzeiterfahrung mobilisiert. Das ist der entscheidende Unterschied. Dazu gehören Strategien, welche die aktuale Erfahrung des Spiels in den Vordergrund rücken, wie z. B. auch ein Computerspieler tut, der nichts vergegenwärtigt, sondern sich der reale Präsenz des Spiels in Echtzeit hingibt, ohne etwas «aufzuführen», das es vorher schon gegeben hätte. Die Echtzeitmusik als ein Genre der Improvisation der neuen Musik ist das Gegenteil eines Musikkonzepts, das auf dem Wieder-Anwesend-Machen der Partitur eines klassischen Komponisten basiert. Besonders der Free Jazz betont die dynamischen Beziehungen einer Gruppe von Menschen zueinander oder zu etwas, daß sie im Augenblick neu betrachten und löst sich weitestgehend vom Spiel mit den Standards des Genres, obwohl natürlich jede Art von Jazz dieses elegante, erfindungsreiche Echtzeitgespräch führt.
Düttmann: Ich würde den Wortlaut der Frage als solchen übernehmen wollen: Gegenwart gibt es schon. Sie ist da und gegenwärtig, aber gleichzeitig scheint die Gegenwartskunst diese Gegenwart erst zu erzeugen und ist in diesem starken Sinne Gegenwartskunst. Wenn wir uns fragen, warum muß also etwas noch einmal erzeugt, produziert und hervorgebracht werden, was eigentlich schon da ist, stoßen wir auf eine Schwierigkeit oder vielleicht sogar ein Paradox. Denn das, was es schon gibt, muß noch einmal erzeugt werden, weil alles, was es gibt und schon da ist, in gewisser Weise nicht da ist. Deswegen muß das, was es gibt, erst erzeugt werden. Die Gegenwartskunst antwortet auf dieses Paradox und deswegen handelt es sich immer um mehr als eine Vergegenwärtigung. Denn eine Vergegenwärtigung beinhaltet, daß etwas schon gegenwärtig ist und man es dann noch in die Präsenz zurückholt. Aber wenn man das Paradox so schärft, wie ich es gerade versucht habe, dann gibt es eigentlich nichts zu vergegenwärtigen. Deswegen wird Gegenwart erst erzeugt. Damit stellt sich die Frage, wenn Gegenwartskunst auf dieses Paradoxon des Gegenwärtigen antwortet – und das muß sie nicht explizit tun, sondern das tut sie als Gegenwartskunst auf sehr verschiedene Arten und Weisen –, wie produziert oder erzeugt sie dann Gegenwart, und was heißt das? Das ist eine Frage, die sich sofort stellt, weil man denken könnte, daß in der Erzeugung von Gegenwart die Gegenwart erneut von sich fern rückt. Das Problem, der sich die Gegenwartskunst stellt, lautet also: Wie kann ich eine Gegenwart erzeugen, die mit sich zusammenfällt und die dadurch gerade Gegenwart ist und die nicht in und durch die Erzeugung schon wieder von sich fernrückt oder ferngerückt wird. Das scheint mir die Schwierigkeit der Erzeugung von Gegenwart zu sein. Das ist erst einmal eine sehr formale und begriffliche Antwort auf Ihre Frage.
Raddatz: Welche Rolle spielt ein Begriff wie Intensität bei der Erzeugung von Gegenwart bzw. in der Präsenzästhetik?
Oberender: Die Frage betrifft die Art der Präsenz. Es gibt eine essentialistische Auffassung von Kunst, in der es um die Präsenz des Numinosen geht - das Kunstschöne ist eine Erscheinung des Absoluten und Kunst legitimiert sich sozusagen nicht durch die Gesellschaft, den Kunstmarkt oder Kritik, sondern eine Sprache des Anderen. Dieser Ansatz hilft die seltsame Zeitenthobenheit von Kunst zu erklären. Warum veralten wissenschaftliche Texte und nehmen wir das, was vor 300 Jahren Lehrbücher waren, heute nur noch historisch zur Kenntnis, während ein mehrere Jahrhunderte alter literarischer Text eine Form von Gegenwart oder Gegenwärtigkeit besitzt und Formen von Aktualität erzeugen kann, wie das nichtkünstlerischen Texten äußerst selten, wenn überhaupt gelingt? Und dem steht natürlich eine Form von Präsenz entgegen, die eher etwas mit Einmaligkeit und Originalität zu tun hat, also einer Wertschätzung, die dem Werk erst im sozialen Funktionszusammenhang wird. Also Tolstoi gegen Gorki. Präsenz ist in jedem Fall das Einleuchtende. Und die Rolle der Präsenz kann man daran ersehen, daß die Antike nur Uraufführungen im Theater kannte. Bis zu einem bestimmten Punkt der Theatergeschichte ging es nie darum, Neuinterpretationen eines geschriebenen Textes herzustellen, sondern die Tragödie war, zumindest in den wenigen Jahrzehnten der Athener Klassik, der «praktische Gottesdienst» der Griechen wie W. H. Auden es genannt hat.
Raddatz: Jede Inszenierung war Interpretation eines bekannten Mythenstoffes.
Oberender: Die Dichter haben, was an gesellschaftlichen Konflikten, Fragen oder Herausforderungen bestand, angeschlossen an den bekannten Mythenkreis. Aber es war kein Berufstheater im heutigen Sinne, sondern eine kollektive Durcharbeitung durch das Ritual der Tragödie mit ihren 3 Stücken und den 2 Sartyrspielen dazwischen. Dieses mehrtägige Ereignis der Dionysien war eines, das im Fest, im Rausch und Spiel eine sehr intensive Erfahrung des aktuellen Zustands von Gemeinschaft ermöglichte. Hier fallen Präsenz und Präsens zusammen. Das Drama ist ja immer in der Jetztzeit geschrieben. Diese von den Griechen auf die aktuale Begegnung hin orientierte Literaturform war anfänglich nicht dafür gedacht, daß man sie später wieder hervorholt und neu betrachtet.
(…)
Lettre International 115, Winter 2016, S.58-63