«Wo wir stehen»
Notizen zum Gegenwartstheater
von Thomas Oberender
Reine Heutigkeit ist so ungenießbar wie destilliertes Wasser. Wir suchen nach den Schichtungen innerhalb des Jetzt, den Keimspuren des Gegenwärtigen in den alten Texten und Erzählformen des Films oder der Musik. Unser mulitkultureller, im Zuge der neuen Technologien auch immer phantastischer werdende Alltag ist längst der Ausbruchsort von Lebensadern aus ganz anderen Regionen, Regionen auch des ganz Anderen. Gegen den Hype des immer schnelleren Heute setzen wir auf Recherche und Fährtensuche: Stücke aus Stücken, Helden als Wiedergänger. Für uns ist Botho Strauß ein Autor, der ein anderes Verständnis von «Gegenwart» entwicklelt, indem er unsere Zeit und unsere Errungenschaften betrachtet wie ein Romantiker, der wissen will, was daran zu seinem Herzen spricht und an welche Grenzen sein Verstand gelangt, wenn er sieht, wie wenig es dabei mit der Vernunft zu geht. Wir werden von so vielen geleitet, zeigt Strauß, das sich nicht zeigt außer im Versehen, Versprechen, im Traum, im Konflikt. Es sind die Mythen und Traditionen, die Sprachen der Gesellschaft und Milieus, die ein geheimes Regime bilden, das schon immer der Stoff des Theaters war.
In den Geisteswissenschaften fördern die cultural studies die Ablagerungen der Erziehung, Geschichte und Tradition zu Tage und zugleich die versuchte Emanzipation von ihnen. Henrik Ibsen, Heiner Müller oder Shakespeare haben die Angriffe des Gestern aufs Heute beschrieben. Ist das noch so? Verschlingt uns nicht gerade die Echtzeit? Selbst wenn die Geschichte eine Täuschung ist, ein stehender Pfeil, so besitzt unser Leben doch zugleich eine Drift, die sich jenseits unseres persönlichen Alterns vollzieht. Wir werden mitgerissen. Politisches Theater ist Theater, das nicht Sprache der Politik spricht, nicht Partei nimmt, sondern zeigt, woran Politik sich abarbeitet, ohne es zu bemeistern - unseren Hang zur Gewalt, zur Lust an Erfindungen, zum Bösen und Eigensinnigen.
Wer sind die Autoren unserer Zeit? Für Friedrich Schiller war der Einbruch des Erhabenen das, was uns Gewalt antut. Ohne den Einbruch des Erhabenen in die Welt des Schönen gibt es kein Drama. Das Drama beschäftigt uns mit dem, was über uns Gewalt gewinnt. Erhaben über unseren Willen kann die Liebe sein oder ein Gesetz, kann Haß sein, oder einfach nur das Schweigen und meint doch die Unmöglichkeit, uns so zu verständigen, daß die Gewalt uns im Leben draußen erspart bleibt. Wenn man auf der Bühne nicht dorthin vorstößt, findet das Drama nicht statt. Aber vielleicht ja etwas anderes? Sarah Kane schrieb ihr bestes Stück als eine Paraphrase auf Senecas «Phädra», gefärbt durch die Erinnerung an Brecht und Büchner und reicht über die Echtzeit der Aufführung weit hinaus. Christoph Marthaler ist für uns auch ein Autor - er und sein Ensemble schaffen ein poetisches Regime einer Zusatzzeit, die nur in seinen Stücken überlebt. In ihnen tauchen die tauchten die Wiedergänger einer alten Zeit auf, die noch gar nicht so lange her ist. Seine unheroischen Helden, die unbeholfen, charmant aber auch widerständig ins Jetzt dringen, schaffen im «hier und jetzt» einen anderen Lebensmodus beanspruchen, der widerständig wirkt, voller Humor, ohne Kompromisse. Anna Viebrock hat dafür Strandgutparadiese, Inseln eines kollektiven Erinnerns an Welten im Windschatten der Geschichte gebaut, die es nurhier gibt: Im Archiv des Theaters. Aus eher entlegenen Bibliotheken holt auch Frank Castorf die Texte vergessener Avantgarden, die er an der Volksbühne mit den Stimmen des Protests von heute verbindet.
Regisseure wie Einar Schleef oder Christoph Marthaler sind die eigentlichen Autoren unserer Zeit, denen auf der tradtionellen Autorenseite nur wenige Positionen gegenüber stehen. Im Bernstein der Stücke überdauern Epochen, Sprachstile, Persönlichkeitstypen. Wo liegen heute die radikalen poetischen Positionen, die auf den Angriff der Gegenwart mit einer anderen Reserve reagieren? Die eptischen Stücke von Peter Handke bilden die Welt nicht nach - sie sind eigene Welten, genauso noch immer die traumklugen Werke Maeterlincks. Denn das Theater hat ja doch seinen ganz eigenen Weg zu ermitteln, wann etwas «wahr» ist auf der Bühne. Etwas, von dem wir erinnern, daß es stimmt. Erinnern wie auf jeder Probe das erinnert wird, was beim letzten Mal schon da war, bis es wiederholbar wird, wenn es stimmt. Dieser sehr seltsame, nirgends sonst zu findende Vorgang macht das Geschehen auf der Bühne im Laufe der Proben «wirklich» - die Gabe, geschehen zu lassen, woran man sich erinnert. So nähern sich die Schauspieler auf verschlungenen Pfaden jenem Punkt, wo es «stimmt», wo die Wirklichkeit der Bühne reicher wird, geprüfter und überraschender, als das Leben, wie wir es leben. Denn das Geschehen auf der Bühne wird, insofern es sich nicht um ein Happening oder eine politische Aktion handelt, immer getragen von Erinnerungen, von der Ahnung einer Form. Wenn wir jetzt also etwas Neues anfangen, wird es von diesen Fragen geprägt sein und also von nicht viel Neuem, sondern von sich ständig verbrauchenden Antworten auf diese Nachdenklichkeit, aber auch Zukunftsfrische, mit der wir an den Start gehen.
red. Fassung Abschlussbuch, Bochum 2005