«Orestes Rückkehr»
Thomas Oberender im Gespräch mit Romeo Castellucci über seine Produktion «Ma» in Elefsina, seiner Vision des Bildes, der Blasphemie und Eleusinischen Mysterien.
Die Eleusinischen Mysterien waren bis zu ihrem Untergang im 4. Jahrhundert n. Chr. ein 1100 Jahre währender Staatskult Athens. Dieser Kult für die Fruchtbarkeitsgöttin Demeter und ihre Tochter Persephone gilt als der berühmteste und zugleich geheimste religiöse Ritus des antiken Griechenlands. Seine Heiligtümer in Eleusis, dem heutigen Elefsina, waren ein Ort der Wallfahrt und Verwandlung. Im Zentrum des Großen Mysteriums stand die Rückkehr Persephones aus der Unterwelt. Der Eingang zum Hades, benannt nach dem Herrscher des Totenreiches und des Entführers von Persephone, war Teil der Tempelanlagen. Nach mehreren Tagen der reinigenden Vorbereitung und einer Nachtwache nahmen die Initianten in der großen Halle ein spezielles Getränk, Kykeon, zu sich. Es wurde von Priestern u.a. aus Gerste und Mentha Pulegium gefertigt, was zu Vermutung führt, dass es auch LSD-haltiges Mutterkorn enthielt. Im Laufe von zwei Jahrtausenden verfeinerten Generationen von Priestern diese drogenbasierte Technologie der Bewusstseinserweiterung und Überschreitung der Schwelle zwischen Leben und Tod. In gewisser Weise war dieser Trank das Ayahuasca der europäischen Indigenen, jener Griechen, deren Denken, Frömmigkeit und Kultpraxis den Ursprung unserer westlichen Kultur bildeten. Aischylos, der in Eleusis geboren wurde, trank Kykeon, ebenso Sokrates, Platon, viele römische Kaiser, Sklaven, Menschen aller Geschlechter, Bürger und Ausländer. Nur Muttermörder und Barbaren, also Menschen, die kein Griechisch sprachen, waren von der Zeremonie ausgeschlossen. Die Übertretung dieses einstigen Gebots ist der Ausgangspunkt für Romeo Castelluccis Inszenierung von «Ma» in den Ruinen der heiligen Stätten von Elefsina. «Nur durch Sakrileg kann das Heilige reaktiviert werden», schreibt die Dramaturgin Lucia Amara über dieses Projekt auf der Website von Castelluccis Companie Societas. An elf Tage wandert das Publikum zusammen mit Tänzern und Musikern durch die verlassenen Kultstätten und entdeckt Castelluccis Vision von der Lebendigkeit und Bedeutung dieses Ortes. Elefsina ist 2023 Kulturhauptstadt Europas, zusammen mit Timișoara in Rumänien und Veszprém in Ungarn.
Thomas Oberender: Es gibt ein Foto von Ihnen auf der Website des «Genesis»-Projekts der Universität von Thessaloniki, das Ihre Aufführung dokumentieren wird. Es ist das einzige Foto von Ihnen im Heiligtum von Eleusis, das ich finden konnte.
Romeo Castellucci: Das Foto kenne ich nicht.
Es wurde vor dem vermauerten Eingang zum Totenreich aufgenommen. Noch immer legen dort Menschen Blumen für ihre Verstorbenen nieder. Vor dem Zugang zum Hades.
Ah, ja, am Plutonion.
Warum entstand das Foto gerade dort?
Wegen der Höhle. In einer Höhle passieren andere Dinge. Die Höhle ist eine Gruft. Die Höhle ist ein Mutterleib. Ich mag diese Art von Ort. Sie steht für etwas, das fehlt. Sie ist eine Öffnung. Kein Objekt. Mir gefällt das. Eine Höhle weist auf einen Mangel hin, etwas Abwesendes. Ich mag diese Leere. Es ist auch eine Art via negativa. Und ich glaube, wie Hans Blumenberg sagte, dass der erste Künstler eine Frau war, also eine Künstlerin. Paläontologen zufolge blieben Frauen in der Frühgeschichte an Ort und Stelle, während die Männer auf die Jagd gingen. Sie fütterten die Kinder und entwickelten eine andere Art von Macht, sagte Blumenberg - sie erfanden die Fantasie. Sie haben die Geschichte ihres Stammes erzählt. Und Frauen erfanden nicht nur die Kunst, sondern auch die Religion. Nur Frauen kennen das Geheimnis des Lebens. Das Gebären ist etwas Geheimnisvolles. Und es war sicherlich auch eine Frau, die das Begräbnis erfand.
Mit Demeter und Kore (Persephone) standen in Eleusis zwei Frauen im Mittelpunkt der Mysterien.
Das stimmt, aber wissen Sie, es gibt noch eine andere Figur. Einen Mann, Eubuleo. Er war ein Hirte, noch sehr jung. Er hütete die Schweine auf dem Feld, als er der Zeuge der Entführung von Persephone durch Hades wurde. Später, so berichtet der Mythos, gründet dieser Eubuleo die Eleusischen Mysterien.
Was waren Ihre Beweggründe, dieser Einladung zu einer Produktion in Elefsina zu folgen?
Es ist unmöglich, zu einem solchen Vorschlag «nein» zu sagen. Als Student war Eleusis für mich der Ausgangspunkt, der entscheidende Punkt von allem. Es ist der Anfang - in meiner persönlichen Arbeit, aber auch für die westliche Kultur. Eleusis ist der Ursprung. Wahrscheinlich wichtiger als das Theater des Dionysos. Der Ursprung ist hier. Mich erreichte diese Einladung daher wie ein Ruf. Nicht der Ruf von jemandem, sondern als Ruf dieses Ortes. Eleusis ist nicht aus irgendwelchen archäologischen Gründen wichtig, nein, es ist der Ursprung, die Quelle, auch heute noch. Dorthin zu gehen ist ein perfektes Rendezvous mit dem Theater.
TO: In Ihrer Arbeit setzen Sie sich oft mit den Konventionen des Theaters und seiner Bildhaftigkeit im Portal auseinander. Sie hinterfragen und reflektieren dieses Ritual in eigentlich jedem Ihrer Werke. Diesmal arbeiten Sie auf einem antiken Tempelgelände. Was verändert das für Sie?
RC: Die Herausforderung ist größer, weil man den Rahmen neu erfinden muss. Man muss auch die Haltung, die Gewohnheiten der Zuschauenden neu erfinden. Man muss über deren Körper nachdenken. Die gesamte Struktur des Theaters muss dort neu erfunden werden. Weil es nicht dunkel ist, kann man den Hintergrund der Landschaft sehen. Auf einer Bühne hat man die volle Kontrolle und kann wählen, was man im Vorder- und im Hintergrund sieht. In unserem Fall haben wir eine Landschaft, nämlich die Steine von Eleusis, die genau genommen eine Figur sind: Eleusis selbst. Mit open air-Theater fühle ich mich in der Regel unwohl. Für mich funktioniert das normalerweise nicht.
Warum nicht?
Weil ich die Dunkelheit brauche. Die Dunkelheit gibt uns ein Gefühl der Einsamkeit, eine Begegnung mit uns selbst. Das ist der Sinn der Dunkelheit. Im Fall dieser Inszenierung in Elefsina bedrängt die Landschaft ständig die Form, den Körper, die Bedeutung. Die Inszenierung kann deshalb keine normale Aufführung sein. Dass das Publikum einen Spaziergang machen muss, dass es sich konzentrieren muss, viel mehr als normale Theaterbesucher, mag ich sehr. Denn die Situation betrifft ihren ganzen Körper.
Mich erinnert das an Ihre Arbeit «The Metopes of the Parthenon» in Basel 2015. Die Besucher betraten eine leere, unbestuhlte Industriehalle, in der ein Reigen von Sterbenden erschien, offensichtlich Opfer eines Verbrechens – die Besucher gruppierten sich um das Geschehen und waren direkt mit den verwundeten Körpern konfrontiert, den jeweiligen Rettungsversuchen, dem individuellen Sterben vor ihren Augen, ohne Information über die Zusammenhänge.
Ja. Die Tatsache, dass die Besucher stehen, ist sehr wichtig. Das erzeugt eine besondere Art der Aufmerksamkeit. Es geht um das, was sich direkt vor einem ereignet. Plötzlich ist es nicht mehr nur etwas zum Anschauen, sondern ein unmittelbares Erlebnis.
Die Tatsache, dass Ihre Inszenierung in Elefsina die Gäste mit auf eine Wanderung nimmt, ähnelt der Prozession bei den Mysterien. Allerdings wollen Sie mit dieser Aufführung die historische Praxis nicht rekonstruieren. Sie wollen ein «zeitgenössisches Ritual» schaffen. Wie geht das?
Das ist das Schwierigste. An einem Ort wie diesem wird man leicht zu einer Art Rekonstruktion oder, noch schlimmer, zu einer Reaktualisierung verführt. Was ich persönlich sogar noch schlimmer fände, denn man befindet sich dort ja dort im Herzen, am Ursprung des Theaters. Dieser Ort, wo das Theater wahrscheinlich geboren wurde, ist für mich sehr bedeutsam, denn ich mag diese vergessene Seite der westlichen Tradition. Das westliche Theater entstand mit dem geschriebenen Text. In Eleusis war das noch nicht der Fall.
In der Ankündigung von «Ma» verweisen Sie auf Antonin Artaud und sein Interesse an den Eleusinischen Mysterien, als eine «Theaterform» vor dem Text lag, die, so vermutet er, auf ein altes Verbrechen reagiert.
Ja. Es gab in Eleusis keinen geschriebenen Text, keine gesprochenen Worte. Vielleicht ein paar Lieder, Musik, offenbar ja, Geräusche, Gegenstände, Bewegungen, der heilige Trank, das gleißende Licht. Aber es ist unglaublich, wie viel Bedeutung sie dem Bild beimaßen. Das Bild ist genug. Das Bild ist eine Tür, es ist ein Durchgang. Es ist nicht mehr ein Objekt, es ist eine Erfahrung. Denn nach dem damaligen Glauben war die Epopteia - der Akt des Sehens – selbst in der Lage, das hervorzubringen, was wir erblicken. Es ist ein Strahlen, der Blick hat etwas erzeugt. Sehen ist hier nicht nur ein Empfangen, es ist mehr wie ein Wind, eine Verbindung entsteht. Und das Gesehene muss man in sich bewahren, ohne Erklärungen oder beruhigende Bedeutungen.
In Ihrer Theaterarbeit spielen Bilder von Anfang an eine besondere Rolle. Sie bilden oft eine Art Membran, weniger im Sinne eines traditionellen Bühnenbilds, sondern eines Bildes an sich, der Präsenz anderer Kräfte auf der Bühne, wie zum Beispiel die leuchtenden Farbflächen in Ihrer Berliner Aufführung von Scarlattis «Il Primo Omicidio ovvero Caino». Die Epiphanie der Persephone in den Mysterien von Eleusis wurde mit einer Lichterscheinung in Verbindung gebracht. Persephone und dieses Licht zu sehen, hat die Menschen ein gutes Jahrtausend lang verändert.
Ja, die Vorstellung, dass das, was man sieht, einen tatsächlich verwandeln kann, gefällt mir sehr. Wenn man diesen Ort betritt, ist man in einem bestimmten Zustand, und wenn man ihn verlässt, ist man ein anderer Mensch. Das ist die Rolle eines jeden Bildes. Ein Bild ist nicht nur eine Illustration. Ein Bild ist eine persönliche, intime Reise. Es ist eine Art Licht, zu dem ein eigener Schatten gehört. Und in diesem Schatten gibt es noch ein weiteres Bild. Mir gefällt in Eleusis diese Beziehung zwischen Helligkeit und Dunkelheit sehr gut. Hier kann das Licht so stark werden, dass es sich in eine Art Dunkelheit verwandelt. Für mich ist das eine Lehre. Dieses Licht wollten sie in unserer Zeit weiterleuchten lassen, denn wir haben keinen Bezug mehr zu den Bildern. Wir bewegen uns im weißen Rauschen von Illustrationen. Es ist wichtig, in Elefsina zurück nach Eleusis zu gehen, um den Akt des Sehens neu zu überdenken. Und diesem Akt des Sehens seine Würde zu geben.
«The metopes of the Parthenon» 2015 in Basel erscheint mir heute wie ein Vorspiel zu Ihrer Aufführung in Elefsina. Es bezog sich auf den Fries am Pantheon. Ein Gebäude, das die perfekte Harmonie der klassischen Architektur symbolisiert, aber von einem Fries aus Bildern zusammengehalten wurde, der die Grausamkeiten archaischer Kämpfe zeigte. Sie haben in Basel das Publikum mit Bildern konfrontiert, die wir nicht sehen wollen. Leid. Schmerz. Sterben.
Genau. Das ist oft so. An jedem heiligen Bild gibt ist etwas, das man nicht sehen soll. Etwas, das zu viel für uns ist. Unser Sehen gerät dadurch ins Flackern. Im historischen Zusammenhang ist das der Punkt der Überlagerung von dem, was wir erwarten und des Unerwarteten. Ein gutes Bild entzieht sich jeder Bedeutung. Man fragt sich: «Was stimmt hier nicht?». Es hat sicher eine Bedeutung und folgt einem Plan, aber man bekommt ihn nicht zu fassen. Es liegt jenseits des Plans. Das ist die Lektion des Bildes. Es geht nicht um die sichtbaren Dinge auf der Bühne. Das wirkliche Bild liegt zwischen dem Betrachter und dem Ding selbst. Es ist ein «drittes Objekt». Für unsere Sinne ist es nicht zu fassen, aber es existiert zwischen dir, deinem Körper, deiner Erinnerung, deinem Herzen, deinen Narben. Sie, die Betrachtenden, geben diesem Bild ihr Blut. Und so wird es zu etwas anderem. Deshalb sind die Bilder auf der Bühne etwas anderes als ich, sie werden von den Leuten, die neben mir sitzen, völlig anders gesehen. Darin liegt unsere Verantwortung. Das ist unsere Lehre aus Eleusis.
Über die Geschehnisse im Zentrum der Mysterien von Eleusis zu sprechen, war bei Todesstrafe verboten und deshalb ist es bis heute einer der geheimnisvollsten Kulte der antiken Welt. Gleichzeitig war diese Zeremonie sehr inklusiv - Männer, Frauen, Sklaven und Fremde konnten daran teilnehmen. Mit zwei Ausnahmen: Menschen, die eine Blutschuld begangen haben, und Barbaren, d. h. Menschen, die kein Griechisch sprachen. Die Hauptfigur in Ihrem Projekt ist ein Mann, der wegen Muttermordes zwanzig Jahre im Gefängnis saß und kein Grieche ist.
Ganz genau.
Wie kam es zu dieser Entscheidung, die für die antiken Griechen ein Sakrileg gewesen wäre?
Am Beginn unserer Geschichte der westlichen Kultur standen, wenn Sie so wollen, zwei Figuren: die Mutter - in Eleusis, und Orestes, der Titelheld der Trilogie von Aischylos. Orestes beging den ersten Muttermord, der in die Literatur einging. Und mit dieser Tat überführte er die damalige Kultur eine andere Ordnung. Für das Schicksal der westlichen Kultur war dieser Matrizid entscheidend und Orestes war dieses Schicksal. Durch den Akt des Muttermordes setzte er an die Stelle des Mutterrechts das Recht des Vaters, was deutlich in der Gerichtsszene, im Aeropago - dem ersten Gericht der westlichen Welt – dargelegt ist. In ihr steht Orestes vor Gericht und durch einen Trick bei der Abstimmung der Richter wird er für unschuldig befunden. Durch diesen Akt des Muttermordes wurde die Ordnung der damaligen westlichen Welt auf den Kopf gestellt. 1861 schrieb J.J. Bachofen über diesen Übergang vom Matriachat zum Patriachat ein wunderbares und grundlegendes Buch: «Das Mutterrecht». Ich habe es als junger Mann intensiv studiert. Es lehrte mich die Radikalität und den harten Kern des schöpferischen Aktes. Nach Eleusis zu gehen – nein, man geht nicht nach Eleusis, man kehrt nach Eleusis immer nur zurück, war und ist für mich sehr wichtig. Ich möchte einen «anderen Orestes» aus der realen Welt und Geschichte an diesen Ort bringen. Sicher ist dieser Vorgang ein Sakrileg. Aber nur so kann man das Heilige reaktivieren. Dieser Mann - der zufällig seine eigene Mutter tötete - kann dem Ort, den heiligen Dingen und der Schönheit ihre Bedeutung zurückgeben. Diesen Ort wieder aufzubauen, ist sehr wichtig. Ein Muttermörder an diesem Ort ist sicher eine Blasphemie. Aber in diesem Fall wird sie zu einem Akt der Versöhnung. Es gibt Vergebung für diesen Mann, der wirklich ein Muttermörder ist. Er tritt nicht auf, um uns zu beeindrucken oder uns seine Lebensgeschichte zu erzählen. Er heißt Filippo Addamo und hat mir erlaubt, seinen Namen zu verwenden. Aber seine schmerzliche Geschichte möchte ich nicht erzählen. Das ist eine private Angelegenheit. Ich kann nur sagen, dass er vor 23 Jahren seine Mutter in Catania, Sizilien, getötet hat. Er tritt in unserer Produktion auf, weil er uns repräsentiert. Er ist ein Symbol, eine Metapher, vielleicht für unsere Beziehung zu unserer eigenen Mutter, oder zu Mutter Erde, zu jedem weiblichen Körper. Blasphemie wird so zu einem Akt der Barmherzigkeit.
Die Beziehung zur Mutter spielt in diesem Projekt eine große Rolle. Was bedeutet der Titel des Stücks «Ma»? Leitet er sich von dem Wort «Mutter» ab?
Sicher. «Ma» ist das erste Wort, das Menschen sprechen lernen. Wir sagen nicht «Mutter» oder «Mammi», wir sagen «Ma». Es ist die Minimalversion. Wir gehen die Sprachlinie zurück, á rebours, gegen den Strich, und suchen die Wurzel der Muttersprache, das «Korn» des Wortes. Wir sprechen auf der ursprünglichen, grundlegenden Ebene der Worte, der des Samens, der «ma» ist, etwas, das jeder Mensch auf diesem Planeten verstehen kann: «Ma». Außerdem ist «ma» in der italienischen Grammatik eine adversative Konjunktion, als ein Wort, das eine Einschränkung, einen Widerspruch oder Gegensatz ausdrückt. Im Deutschen (spricht deutsch) «aber». Es markiert eine Frage, ein Zweifel, eine Wiederaufnahme des Denkens. Ich mag diese Zweideutigkeit. Im Altgriechischen gibt es auch diese Wurzel von «my» von Mysteria, die zurückführt zu einer Aussage wie: «Halt den Mund». Sei still, schau und lerne.
In den spirituellen Praktiken, die ich kenne, ist das Sprechen ab einem bestimmten Punkt verboten. Es gibt Phasen völliger Stille, in denen eine Art spiritueller Kontakt hergestellt wird, und diese Verbindung, wenn sie da ist, kann durch Musik moduliert werden, aber nicht durch nüchterne Sprache.
Was wir tun, ist keine Zeremonie, auch wenn «Eleusis» für die Mysterien steht. Aber «Ma» wird ohne jede Sprache funktionieren. Denn die Sprache ist eine andere Domäne. Das Bild aber ist ein Körper. Und der Körper gehört zu einer Frau. Die Dromena, das Ritualverhalten und die Legomena, die den Ritus begleitenden Texte, haben sich historisch aufgespalten. In unserer Arbeit sind wir näher an der «Dromena», dem Akt anstelle des Wortes. Denn der Akt ist näher an der Erfahrung - und an der überraschenden Entdeckung - einen Körper zu haben. Das ist die weibliche Seite. Die Sprache mit ihren Regeln und Gesetzen ist die eher männliche Seite, wobei ich jetzt nicht vom Patriarchat spreche, denn das ist eine andere Sache. Sprache an sich ist ein schönes Werkzeug. Doch Sprache ist auf keiner ihrer Ebenen jemals ausreichend. Selbst in der großartigsten Literatur ist sie nie genug, nie klar. In jeder Sprache steckt eine verborgene Absicht, in jedem Satz ein ganzes Bündel von versteckten Absichten. Das Bild ist stumm. Jedes wahre Bild macht dich allein. Du bist allein mit dir selbst und stehst vor einem Rätsel: Der Sphinx des Lebens. Das Bild ist ein «Loch», das deinen Namen kennt. Und zwischen den Worten, Dingen und Bildern gibt einen wunderbaren Konflikt. Da besteht eine Lücke. Eine fundamentale Lücke. Sie ist wundervoll.
In Ihrem Ansatz wird das Thema der Beziehung zur Mutter auch auf einer anderen Ebene aktualisiert - im Hinblick auf die Gewalt, die wir der Erde antun, die Zerstörung von Demeters Fruchtbarkeit durch unsere Zivilisation. In «Ma» arbeiten Sie nur mit den Materialien, die vor Ort vorhanden sind – der Sonne, den Steine, dem historischen Ort. Keine technischen Installationen, kein Einsatz von nicht erneuerbarer Energie. Führt Sie dieses Projekt in Richtung einer nachhaltigen Theaterpraxis?
Nein. Ja. So, wie Sie es beschreiben, scheint es so. Aber das ist nicht der Hauptgrund. Der entscheidende Grund ist ein ästhetischer. Sicherlich ist der Versuch sinnvoll, Mutter Erde Aufmerksamkeit zu schenken. Aber um ehrlich zu sein, die Entscheidung hatte in diesem Fall keinen politischen Grund, sondern einen ästhetischen, und der ist viel tiefgründiger. Jede echte Politik muss aus einem ästhetischen Problem geboren werden. Der entgegengesetzte Weg wäre zwangsläufig falsch und korrupt.
Für mich war es wichtig, diese Inszenierung als eine Passage, als eine Tour zu Fuß zu gestalten. «Ma» ist eine Strategie, als Aufführung ein langwieriges Manöver, um die Ankunft von Fillipo vorzubereiten. Filippo Addamo wird die Szene erst ganz am Ende betreten. Er wird nur ein paar Schritte ins Innere des Heiligtums gehen, er wird die Steine des heiligen Ortes streicheln, sich hinknien. Das ist alles. Kein Wort.
Wie haben Sie Filippo Addamo gefunden?
Ich bin vor etwa zwei Jahren auf ihn gestoßen, als ich einen Artikel las. Als ich über das Stück nachdachte, das ich in Eleusis machen wollte, haben sich die beiden Dinge offensichtlich verbunden. Es ist sicher so, dass es nicht meine Entscheidung war. Dinge passieren und ziehen an uns vorbei. Aufmerksam zu sein, auf die Formen zu achten, die jeden Moment des Tages an uns vorbeiziehen, ist wichtig. Sammeln, nicht erfinden. Plötzlich passten beide Seiten zusammen wie ein Negativ, das sein Positiv voraussetzt und hervorbringt. Für mich war es, wie gesagt, keine Wahl, die ich getroffen habe. Die Dinge haben mich gewählt. Ich muss sie nur akzeptieren. Und so war es auch mit Filippo, «Ma» und Eleusis. Für mich ist Orestes eine der schönsten Figuren der abendländischen Kultur. Die Ermordung seiner Mutter ist die eine Sache, aber - es gibt ein entscheidendes «Aber» - es gibt auch Orestes Zweifel, der den geraden Fortgang des Verbrechens unterbricht. Als er die Klytaimestras Raum betrat, zögerte er. Aber sein Freund, Pylades - das Alter Ego von Apollons - drängte ihn daraufhin, seine Mutter zu töten. In diesem offenen, zitternden Moment, in Orestes’ Zögern, verlassen wir die antike Mythologie und gelangen in die moderne Zeit. In gewisser Weise kollabiert in diesem kleinen Moment des Zweifels die gesamte Struktur des Opfers. Wir sehen einerseits die Mythologie, die an der Schwelle ihrer epochalen Transformation steht, und zugleich die Geschichte eines Mannes, der – selbst ein Verlorener - seine Mutter verliert. Das Ende ist eine Liebesgeschichte, so zugespitzt wie möglich… Auch für Filippo.
Das klingt, als wäre Ihre Produktion in Elefsina ein Theaterstück über Orestes’ Rückkehr. Er wird nur von Frauen empfangen. Warum sollten die Schauspielerinnen, Tänzerinnen und Musikerinnen, die im Vorfeld gecastet wurden, sollten alle in Griechenland leben?
Das war eine Verabredung mit dem Festival und kam von deren Seite. Nur Filippo Addamo ist nicht aus Griechenland. Für mich ist es immer wichtig, in der Gemeinschaft verwurzelt zu sein; dieser Ort gehört ihnen, ich bitte sie um Erlaubnis.
Eine der elf Aufführungen ist den «Menschen aus Elefsina» gewidmet, d. h. den heutigen Bewohnern der Stadt. Warum das?
Das ist nicht meine Idee. Aber sie gefällt mir sehr. Der Vorschlag kam vom Festival: Von Griechen, für Griechen. Es ist auch eine Hommage an die heutigen Mitbürger von Aischylos, dem größten Schriftsteller aller Zeiten.
Ich mag diese griechische Geste auch sehr, einem Ort etwas zurückzugeben, der einem viel gegeben hat, und die Aufführung dort für Menschen zugänglich zu machen, die sich die Eintrittskarten vielleicht nicht leisten können.
Ihnen müssen wir eine Bedeutung geben. Elefsina als Ort gehört ihnen als Community. Diese Idee ist wunderbar.