«Schrift stiftet Stimme: Zur Pisastudie»
Lesen als Stoffwechselvorgang, Bildung als Herzensbildung.
Süddeutsche Zeitung / NRW 1.2.2002
von Thomas Oberender
Der erste Teil der Pisa-Studie untersuchte in 32 Ländern die Lesekompetenz von Fünfzehnjährigen. Mit Papier- und Bleistifttests wurde bei 10 000 Schülern pro Land ermittelt, wie es um ihre Zukunftschancen steht, wie vorentschieden in mancherlei Hinsicht die Laufbahn der früherwachsenen Lebensanfänger bereits ist. Die Studie wird die Wettbewerbsfähigkeit der nationalen Schulsysteme auch in den Bereichen mathematische Grundbildung und naturwissenschaftliche Grundbildung vermessen. Doch wie vermisst sie die Herzensbildung?
Dreiundzwanzig Prozent der 15-Jährigen Schülerinnen und Schüler in Deutschland kommen beim Lesen über das elementare Niveau nicht hinaus. Ist das ein Alarmzeichen? Lesen erhält eine Bewußtseinshaltung am Leben, auf der letztlich auch unsere Theater- und Musikkultur beruht – es ist die Grundlage jeder Art von Interpretenkunst und damit verbundener kultureller Infrastruktur: Theater und Konzert- und Opernhäuser und Orte der Relektüre, der Wiederaneignung einer alten Sprache, um mit ihr etwas Neues zu sagen. Lesen ist in diesem Sinne ein einmaliger Stoffwechselvorgang – die Welt des Autors wird zur Welt des Lesers, in der sie sich vom Schöpfer emanzipiert, umbildet und neue Welten bildet. Eben das führt zu einer anderen Bildung als einer technisch messbaren, denn sie umfasst auch die Gemütsbereiche des Menschen, rührt an sein Temperament, seinen Geist, der mehr ist als nur Intelligenz.
Das traditionelle Stadttheater bietet eine Begegnung mit Literatur an, die für das Publikum mit keiner Lektüre verbunden ist. Das Lesen vereinzelt den Lesenden, ein Theaterbesuch hingegen ist ein Gemeinschaftserlebnis. Das Lesen erfordert Stillhalten, das sich Vertiefen und die innere Entfernung von der äußeren Welt um den Lesenden herum. Lesen ist ein devoter Vorgang, denn man beugt sprichwörtlich den Kopf über den aufgeschlagenen Seiten eines Buches oder Displays. Lesen bedeutet, sich in die Schrift gewordene Vorstellungswelt eines anderen zu vertiefen. Für den Lesenden heißt das, sich in seiner Wahrnehmung auszudehnen und zugleich eine andere Stimme in sich hineinzulassen. Leser im Zug oder auf der Parkbank wirken mitten unter uns gleichzeitig entrückt, wenn ihr Blick die Zeilen abtastet – sie sind da und zugleich wo anders. In genau diesem, was Raum und Zeit betrifft seltsamen Zustand ist auch der Schauspieler auf der Bühne, ist er dort doch eine Figur und zugleich der Schöpfer einer Figur, die zugleich «da» ist, zugleich aber auch in Helsingör.
Lesen betankt den Lesenden mit Worten und es sind Worte, in denen wir die Welt denken und vermitteln können. Jeder Gedanke ist Sprache. Wir sind so reich und beschränkt wie die Worte es uns erlauben: Schrift stiftet Stimme. Wir lernen unsere Muttersprache «wild», bis ins Alter von drei, vier Jahren ist dies durchs Zuhören und Nachfragen, Nachsprechen und dann auch Nachdenken im Grunde wie von selbst passiert. Lesen ist etwas anderes – es muss erlernt werden und erschließt uns all die Stimmen, die wir nicht unmittelbar hören können. Mehr noch: Lesen macht die aufgeschriebenen Stimmen genauso präsent wie die gesprochenen Worte und deshalb hören wir in die Bücher hinein wie in dunkle Räume nach dem Öffnen der Tür. Lesen ist ein Sammelbecken der Sinne, eine Form von Meditation.
Das Lesen und die Lebensruhe, die Lesen erfordert und herstellt, ist eine Nuance unserer Kultur, die prägend wurde wie in analphabeten Zeiten das öffentliche Sprechen der Rhapsoden und Griots. Das individuelle Lesen beruht auf der gesellschaftlichen Zustimmung zur Unkontrollierbarkeit der Gedanken, des freien Ideentransfers, der Freiheit des Wortes und der unzensierten Weitergabe des Wissens. Vielleicht reagieren wir deshalb auf den Verlust an «Lesekompetenz» so empfindlich, weil das Lesen nicht nur eine individuelle Errungenschaft ist, sondern auch eine gesellschaftliche – auf ihr beruht unsere Idee der Chancengleichheit und des offenen Zugangs zur Bildung. Die Pisastudie weist über daher auf politische Versäumnisse hin, die mit einer Bildungsreform allein nicht zu beheben sind. Statt Chancengleichheit offenbart die Studie eine ungleiche Verteilung der Chancen und diagnostiziert soziale Segration statt Integration.
Die Leseschwäche eine Form von kultureller Schwäche. Lesen ist ein asozialer Vorgang, der Einzelne schafft, Versunkene, Hingewendete, und darüber zugleich starke Gemeinschaften bildet. Das meint nicht die Lesezirkel, sondern die Leserkreise, die Fangruppen, die ähnlich Gestimmten, die über sie verbindende Bücher auch so etwas wie Verbundenheitsgefühle, eine gemeinsame «Sprache» der Empfindung und eines speziellen Verständnisses oder Betrachtungswinkels entwickeln – Lesen ist also auch ein sozialer Vorgang. Wie wirkungsvoll Lesen ist, wie gefährlich, zeigt sich anhand der behördlichen Zensur, die nach wie vor in vielen Ländern gängige Praxis ist. Raubdruck und Samisdatkultur waren die Antworten des Untergrunds auf die Kriminalisierung des Lesens – dieser Umstand ist noch immer eines der stärksten Plädoyers für den Wert des Lesens.
Man liest ja die meisten Bücher nicht wie ein Kochbuch oder eine Formelsammlung. Sie sind sich selbst Zweck genug, wenn sie unseren inneren Horizont erweitern, den Leser erleben lassen, was er oft nicht leben kann, das innere Reich des Daseins mit neuen Landkarten versorgen. Wann einem das Gelesene nützlich wird, weiß man nicht und eben darin besteht der Nutzen. Vielleicht wirkt das Ergebnis der Pisa-Studie auch deshalb so beunruhigend auf uns, weil dieser durchs Lesen geschaffene Reichtum eine eigene Würde besitzt, eine Freude die nichts mit materiellem Besitz von Erstausgaben und Sammlerstücken zu tun hat, sondern mit dem, was Bücher dem Leser schenken, wenn er die Seiten aufschlägt und sich auf eine Begegnung einlässt, die er im Leben sonst so nicht zu finden vermag.
Für die Deutschen schafft, so erklärte es Helmut Plessner, Kultur jene Nation, die andere Länder durch Revolutionen und starke Zentralgewalten geschaffen haben. Wir sind für Plessner «Bürger einer Kultur» viel stärker als «Bürger eines Rechts». Die Kultur, sie ist hierzulande noch immer primär von der Idee der Interpretenschaft, des Abhängens von der Schrift, die das Gültige garantiert, geprägt, dringt in die Leerstellen der Religion, der Geschichte und Politik ein und verspricht Halt. Die inneren Räume, die durch die «Lesekultur» gestiftet werden, haben eine Referenz – das Buch, das Werk. «Lesekompetenz» steht für ein Leben und Erleben jenseits des ökonomischen Wettbewerbs und gesellschaftlichen Ressourcen, die letztlich nicht käuflich sind und deshalb so wertvoll werden.
In diesem Sinne ist der diagnostizierte Verlust an Lesekompetenz auch ein Hinweis auf politische Herausforderungen. Denn wer weiß, ob die neuen und anderen Kompetenzen, die von jenen jungen Menschen heute ausgebildet werden, die im Internet zuhause sind wie ihre Eltern in der analogen Welt, ob diese Kompetenzen nicht rasend schnell auch auf andere Politik- und Wirtschaftsformen, andere Erzählweisen und Erlebnisformen von Kunst und Kultur hinauslaufen. Wer sagt eigentlich, dass die Pisa-Studie, die sich mit dieser Generation beschäftigt, wirklich noch die richtige Auffassung von «Lesen» hat? Ja, man möchte sich nicht daran gewöhnen, dass die großen Romane vorzugsweise als Hörbücher rezipiert werden. Aber auch Programmiersprachen sind Schrift. Auch Computerspiele erzählen.
Der übers Buch gebeugte Leser ist ein Urbild wir Rodins Skulptur des «Denkers» – seine Begegnung mit der Schrift zieht ihn in eine andere Gemeinschaft, macht ihn einsam und verbunden zugleich. Fast über Nacht, so könnte mach angesichts der kulturellen Veränderungen und neuen Medien sagen, ist er zu einer Widerstandsfigur geworden. Vor allem, weil sich der Leser der Ökonomisierung seines Verhaltens entzieht. Doch sind die lebensqualifizierenden Kompetenzen im Raster der Pisa-Studie zu erfassen, die ja selbst einem Wettbewerbsgedanken entspringt und aufzeigen soll, wie «fit» die nationalen Bildungssysteme sind? Herzensbildung ist keine Kategorie solcher Tests, aber genau das, was im Rückblick auf die Schulzeit und die wichtigen Lehrerpersönlichkeiten in Erinnerung bleibt. Genau diese Lehrer hätten sicher auch auf die spezielle Lesekompetenz derer geachtet, die sich neueren Medien des Erzählens und Weitergebens zuwenden.