«Definiere Opposition»
Thomas Oberender
Das Wort «Opposition» besitzt in Ost- und Westdeutschland einen sehr unterschiedlichen Erfahrungs- und Bedeutungshintergrund. In den alten Bundesländern steht das Wort für Fraktionen im Parlament, die eine Minderheit zur Regierung bilden. Sie können, ohne selbst zu regieren, dennoch Einfluss nehmen. Sie bilden ein Gegengewicht, ihre Stimme wird gehört, sie wirkt als Korrektiv. Im eigentlichen Wortsinn verkörpert die Opposition eine «Entgegensetzung» zu einer herrschenden Meinung, Autorität, Politik oder Programmatik. Auch in der alten Bundesrepublik gibt es Erfahrungen mit Formen einer außerparlamentarischen Opposition wie der Studentenbewegung in den späten 60er Jahren, der RAF oder diversen Friedens- oder Umweltbewegungen. Da in Deutschland nur Parteien an den Wahlen teilnehmen dürfen, gehen diese Protestbewegungen oft einer Parteigründung voraus. Die Grünen oder das Bündnis Sahra Wagenknecht sind dafür Beispiele.
Opposition in der DDR bedeutete nicht, einer Partei in der Oppositionsrolle des Regierungssystems beizutreten. Die sogenannten «Blockparteien» neben der SED, die Christlich-Demokratische Union (CDU), die Liberal-Demokratische Partei Deutschlands (LDPD), die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NDPD) und die Demokratische Bauernpartei Deutschlands (DBD), waren keine politische Kraft, die in der DDR je eine Wahl hätte gewinnen dürfen oder können. Sie standen für das gleiche «System» und bildeten keine Opposition im politischen Sinn einer Gegenkraft oder Wahlkonkurrenz.
Die wirkliche Opposition in der DDR waren die Kirchen, die Friedens- und Umweltbewegung, kritische Intellektuelle und Künstler und die Teenager im Sinne von Jon Savage, die Langhaarigen, die Punks, die so genannten Bummler, Gammler, Asozialen. In dieser disparaten Opposition zu sein, bedeutete in der DDR außerhalb des offiziellen Systems der Politik zu agieren. Die Staatsmedien der DDR konnten in den 80er Jahren sagen, was sie wollen, es war für viele Menschen nur noch der offizielle Singsang einer repressiven Macht, von der sie sich abwandten, ihr Glück im Privaten suchten, auswanderten oder langsam zu ihrer eigenen Sprache fanden, die schließlich zur Revolution von 1989 führte.
Diese Revolution wurde von keiner oppositionellen Partei geführt und hatte kein parteipolitisches Programm, sondern entstand aus Initiativen oft kleiner dissidentischer Gruppen. Die Wende von 1989 war zunächst eine Wende im Diskurs, sie hat, beflügelt durch Gorbatschows Perestroika, die Sprache in diesem eingemauerten Land verändert und formulierte erstmals Forderungen nach freien Wahlen, Presse- und Reisefreiheit. Der Wandel und seine Ziele entstanden ohne Master-Plan und Zentrum, aber war allumfassend. In diesen letzten Monaten der DDR erwies sich diese Opposition außerhalb des Systems als unwahrscheinlich wirkungsvoll. Aus den anfänglichen Protesten wurde am Ende eine Volksbewegung, die das System ergriff und zur Öffnung der Mauer führte.
In der DDR blieb die wirkliche Opposition eine außerparlamentarische Kraft. Sie wurde verboten, von der Stasi bekämpft und hat doch im Herbst 1989 die Wende in Richtung einer wirklichen Demokratie herbeigeführt. In der noch in der DDR aufgewachsenen Generation verbinden sich deshalb heute andere Erfahrungen mit dem Begriff der Opposition. Das direkte politische Engagement bei Demonstrationen auf der Straße fühlt sich wirkungsvoller an als im Ortsverein einer Partei. Bei einer repräsentativen Befragung von über 30000 Einwohnern von Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt ermittelte der MDR (MDRfragt vom 30.1.24), dass 84% der Befragten meinen, es gebe den Trend, eher über Protest politische Entscheidungen zu beeinflussen, aber nur 21% glauben, dass sich dies auch über Engagement in politischen Parteien erreichen ließe.
Paradoxerweise beruht die Wirkung der AfD in den neuen Ländern auf dem Gefühl, dass diese Partei außerhalb «des Systems» steht. Sie wirkt wie eine Fundamentalopposition. Das «System» war in der DDR der SED-Staat und verband sich mit der Sprache seiner Medien. Dieses «System» wurde 1989 von einer außerparlamentarischen Demokratiebewegung aufgebrochen und verändert. Der Euphorie und Ungeduld dieses Sieges folgte nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik wiederum die Konfrontation mit einem «System», das seine neuen Bürger und Bürgerinnen zwar herzlich zur Mitgestaltung einlud, sie zugleich aber von vielem ausschloss. Die tiefgreifende Adaption des Beitritts-Staates wurde durch westdeutsche Regelsetzungen und Führungskräfte gemanagt und das ehemalige Volkseigentum wurde nicht, wie in anderen Ländern des Ostblocks, an das ehemalige Volk gegeben, sondern privatisiert und mit den Transferleistungen verrechnet. Das prägte die zweite «System»-Erfahrung der Menschen in der ehemaligen DDR mit «denen da oben». Laut dem aktuellen «Sachsenspiegel» (23.1.24), einer jährlichen Bürgerbefragung, sind 72 Prozent der Sachsen mit ihrer persönlichen Situation und Entwicklung zufrieden, aber nur 41 Prozent mit der Demokratie in der Praxis.
Die Situation ist fünfunddreißig Jahre nach der deutschen Einheit zu vielschichtig, um von «der» ostdeutschen Empfindung und Emphase zu sprechen. Die Erfahrungen unterscheiden sich stark zwischen den Generationen oder Stadt und Land. Die jüngsten, kraftvollen Demonstrationen gegen Rechtsextremismus zeigen zudem, dass sehr viele Menschen in den neuen Bundesländern genau reflektieren, dass die von Björn Höckes rechtsextremen Flügel geprägte AfD nicht mehr die von 2013 ist. Trotzdem triggern die aktuellen Überlegungen, die AfD zu verbieten, scheinbar die ostdeutschen Erfahrungen mit der Verbotspolitik der DDR, die oppositionelle Stimmen jahrzehntelang unterdrückt und kriminalisiert hat. Der AfD-Aufstand gegen «das System», gegen die «Meinungsdiktatur», gegen die «gleichgeschalteten Medien» könnte auch in einigen ostdeutschen Kellern auf den alten Pappplakaten von 1989 stehen.
Man kann darauf mit politischer Bildung reagieren, «die» Ostdeutschen weiter pädagogisieren, oder sich ihren Erfahrungen öffnen. Was treibt einen Künstler wie den in Jena geborenen Fotografen Felix Adler in den Kosovo, nach Belarus oder auf die Dresdner Montags-Demonstrationen und lässt ihn Menschen mit Schildern fotografieren, auf denen Slogans zu lesen sind wie: «Wer als Bürger schläft, wacht als Sklave auf! Freiheit! Demokratie!», oder «Rot-Grün-Gelb-Schwarz lackierte Lakaien = ALT-Parteien.» Vielleicht könnte man solche Sprüche auch in Stuttgart auf einer Querdenker-Demo gegen die «Schlafschafe» lesen. Aber die schon ein Jahrzehnt währende Hartnäckigkeit dieser Protestperformance und die besonders hohe Zustimmungrate zur AfD verweisen auf eine spezifische Oppositionskultur in den neuen Ländern, die sowohl von der Erfahrung der untergehenden DDR wie auch denen im Zuge der deutschen Wiedervereinigung geprägt ist.
Die großen Demonstrationen gegen Rechtsextremismus in Deutschland, die von den Enthüllungen des Correctiv-Netzwerks ausgelöst wurden, sind insbesondere in den neuen Ländern enorm wichtig, weil das rechtsradikale Milieu dort seit langem Angst verbreitet und es Mut braucht, sich in Bautzen, Chemnitz oder Borna öffentlich für demokratische Werte zu positionieren. Und doch bräuchte es, glaube ich, auch eines neuen Mutes innerhalb des parlamentarischen Systems. Es braucht ein tieferes und die unterschiedliche Geschichtserfahrung respektierendes Verstehen, um auf diesen außerparlamentarischen Mut und diese außerparlamentarische Wut besser innerhalb des parlamentarischen Systems zu reagieren.
Was wäre das für ein Mut? Er hat viel zu tun mit der parlamentarischen Idee von Opposition. Die AfD und die Bewegung Sahra Wagenknecht, ohne sie gleichsetzen zu wollen, sind Erfinder einer scheinbaren Klartextsprache. Wie die außerparlamentarische Protestkultur setzen sie einen neuen Ton, der am Tabudeckel schraubt. Ihre Energie entfaltet sich als Diskurs, abgekoppelt von den Mühen der Gestaltung. Wenn die parlamentarische Opposition vor allem diese Anti-Energie aufnimmt, an ihrem eigenen Machtzuwachs und Klientel stärker orientiert ist als an dringenden Gestaltungsaufgaben, zerlegt und verhetzt sich die parlamentarische Kultur mit zunehmendem Tempo selbst.
Die AfD selbst muss derzeit gar nichts tun, sie schaut zu und wächst zum Systemsprenger im System heran. Die Antwort darauf könnte der Geist eines neuen Runden Tisches sein, der im Parlament Demokraten unterschiedlicher Lager im Zeichen der Zeitenwende zu konstruktiven Verhandlungen führt. Die jüngste, fraktionsübergreifende Initiative, durch eine Grundgesetzänderung die Souveränität des Verfassungsgerichts zu schützen, ist eine hoffnungsstiftende Geste. Warum sollte das nicht in Fragen der Migrations-, Energie-, oder Sozialpolitik gelingen?
Sich in einem fort der eigenen, moralischen Überlegenheit gegenüber der AfD zu versichern, das allein macht sie nicht schwächer. Aber eine politische Kultur, in der ein ungut gemanagtes Heizungsgesetz nicht gleich zur Totalkatastrophe einer auf Transformation, Nachhaltigkeit und Zukunftstechnologien orientierten Politik erklärt wird, könnte helfen, Sachfragen wieder sachlicher, Erfolge würdigender und Gefahren realistischer zu beschreiben. Schwieriges offen zu behandeln und den Blick statt auf Ängste auf ein Gelingen zu fokussieren, könnte eine politische Kultur befördern, die eine gesellschaftliche Partizipation auch in den neuen Bundesländern wieder attraktiv macht.