«Die geschlossene Welt der Werke»
Notizen über Heiner Müllers Sprache und Dramaturgie heute
von Thomas Oberender
Es war die Nacht des dreißigsten Dezember, im Stau schlitterte die Kolonne in Schrittgeschwindigkeit Richtung Süden und ein fingerdicker Eispanzer umhüllte den Wagen, als seien wir Gefangene einer endgültigen Reise. Wir starrten auf die Rücklichter vor uns und versuchten, nicht zu bremsen. Während wir im Schritttempo über die Eispiste der Autobahn rollten, hörten wir die Nachrichten im Radio, Heiner Müller sei gestorben. Die erste Empfindung war Unglaube. Wir fuhren lautlos weiter durch die Nacht. Nur im Kino ging mir der Tod eines Menschen so nahe.
Vielleicht war Heiner Müller längst eher eine Kunstfigur denn ein realer Mensch. Die Arbeit an der eigenen Legende, die Selbststilisierung, die gesellschaftliche Verehrung und mediale Präsenz schufen eine öffentliche Figur Heiner Müller, mit deren Tod mehr starb als der Mensch. Im gleichen Maße, in dem Heiner Müller den orthodoxen Funktionären Angst machte, bescherte er vielen anderen ein gutes Gewissen: Er war der gute Geist in jedem Studentenrucksack, die Stimme des hochmütigen oder zumindest hochgemuten historischen Überblicks, ein Dichter ein Volksheld. Mein Heiner Müller war großzügig, trinkfest und humorvoll. Jemand, der bittere Wahrheiten wusste und weltgewandt log. Mein Heiner Müller war ein Boheme mit Reisepass und für die Eingesperrten ein Loch in der Mauer, durch das Gedanken und Gerüche der Freiheit hereinströmten. Er war ein Trinker, Zuhörer und zitierbarer Plauderer. Jemand, der unter erwachsenen Männern lauter kleine Heiner Müllers zeugte. Er war der Vater, den wir niemals hatten. Eine Projektionsfigur. Ein Dichter zum Anfassen – auf der Demo, in der Kantine oder Uni. Und so durchzog die Anteilnahme am Tod des Dichters alle gesellschaftlichen Schichten – viele Tage versammelten sich Trauernde im Berliner Ensemble und hielten eine weltliche Totenmesse für Deutschlands letzten populären Poeten ab. Seine zur Ikone gewordene Erscheinung, das Schwarzgewandete, die eckige Brille und brachiale Stirngewalt seines Schädels wurde zum Inbild von intellektuellem Künstlertum. Er war der letzte linke Großkünstler und nur durch ihn konnte zusammenkommen, was sonst nicht zusammen gehörte: Carl Schmitt und Majakowski, Ernst Jünger und die Soldaten vom Amur. Er war der große Sentimentale. Er wirkt rückblickend auf mich wie die Helden seiner Stücke, von denen Wolf Biermann sagte: »Weiche Eier, die versuchen, sich hart zu kochen.”
Seine Verse verwandelte Sprache zum Sprachraum: Hier, in dieser Zone des öffentlich Gesagten, erzeugte er ein Aktionsfeld. Der Sprechakt ist bei ihm Tat. Er sichert das Leben dort, wo keiner mitreden kann – in der geschlossenen Welt der Werke. Wie in der Architektursimulation kann man sich im virtuellen Gebäude dieser Werke frei bewegen, verschiedene Aspekte des Lebens prüfen und doch markiert die Machart des Kunstwerks, daß wir hier nur zu Gast sind. Der Dramatiker beharrt auf der Unnahbarkeit des Modells und das in einer Welt, die ihn sowohl ins Lager der Ideologen hinüberziehen wollte, als Genossen Müller, wie auch ins Lager des Konsums, der Moden und Privatismen. Statt dessen schuf der Dichter das neuantike Stück.
Die Auguren-Perspektive von Heiner Müllers Werken und ihre aufs finale Entweder-Oder zielende Dramaturgie schufen etwas, das es heute gar nicht mehr gibt: Historienstücke, die in der Geschichte das komplizierte Modell sehen. So entstanden Texte als Blöcke. Dass dabei oft auch der verknappende, brüske Genossenton anklingt, ist wohl nur für die DDR-Geprägten ein Beigeschmack: «Spar deine Galle auf für deinen Auftrag…», so sang die Diktatur. Heute lauscht man diesen Liedern wie dem Gesang verschwundener Völker. Als große Dichtung organisiert Heiner Müllers Sprache in ihrem eigenen Medium ein Höchstmaß an Erfahrungen und Wahrnehmungen. Sie ist eine Körperüberwindungssprache – auch in Fesseln, als Torso oder Stimme aus dem Dunklen wird ein Schauspieler das Drama eines Textes wie Philoktet entfalten, ja – je gebannter und jeder natürlichen Regung beraubter er erscheint, desto freier wird er in diesen Texten sprechen. Die Sprachmächtigkeit von Heiner Müllers Redeathleten ist insofern Zeugnis einer extremer Ohnmacht. Sie bringt auch das Publikum zum Schweigen: Das Kunstwerk ist geschlossen, sein Standort erhöht. Woran Generationen von Feministinnen gearbeitet haben - daß Männer beim Pinkeln sitzen und nachfragen, ob man ihre Gedanken versteht, all das tangierte Heiner Müller nicht. Er schreibt im Stehen.
Da Heiner Müllers Sprache der Leichtigkeit und dem Flüchtigen des freien Spiels so wenig Raum gibt, ist die ihr innewohnende Dramatik immer wieder bedroht durch den Kitsch der großen Behauptung. Heiner Müllers einsichtsvolles Ausweichen auf die Sprachform des klassischen Dramas entspricht seinem Beharren auf den Härten endgültiger Entscheidungen, wie sie am deutlichsten in der Feindbestimmung der Politik zum Ausdruck kommen. Diese Perspektive aus der Zeit des kalten Krieges und der sich gegenseitig bedrohenden Imperien wirkt heute noch immer attraktiv, sobald man sich als Betrachter der westlichen Welt in irgend einer Weise gegenüberstellen kann. Dann entsteht sofort ein tiefergehendes Interesse an Heiner Müllers Neugier auf die Machtbeweise undemokratischer Kräfte, die den Westen nach wie vor heimholen: Sei es im Amok, im Attentat oder Rausch – es gibt Dimensionen des Lebens, die das Leben selbst zum Einsatz machen und letztlich, gewollt oder unabsichtlich, Sinn produzieren. Die DDR war dafür das extremste Beispiel und Heiner Müller daher ihr Wahlbürger.
Andererseits, wie unspielerisch und uninteressiert am Problem der Repräsentation wirkt dieses Drama der politischen Interventionen im Vergleich mit dem frühen Peter Handke und seinen Sprechstücken. Gegen den frechen Ernst, mit dem Peter Handke mit der Macht jener Sprache spielt, die über und in uns spricht, sie vorzeigt, die Figur verweigert und ein ganz neues Verhältnis zwischen Bühne und Publikum schafft, verglichen damit wirken die kontrollierten Ekstasen der Sprache bei Heiner Müller bitter lebensmüd und fern. So entstand die vielleicht mächtigste Dichtung der deutschen Nachkriegsdramatik in der DDR; und zugleich auch ein Zweifel: Singt diese Sprache nicht das Lied der Verhältnisse, vor denen sie warnt? Und wie kann man den kalten Krieg in den Herzen und Hirnen der Figuren von Heiner Müller, wie kann man ihr Frontsoldatenleben heute beglaubigen?
Heiner Müller entschied sich da sehr eindeutig, ganz in der Tradition des antikerezipierenden Schiller und Goethe: Durch die Form. Die Form setzt die Verhältnisse. Nicht wir. In diesem Sinne müßte man diese Stücke heute wohl eher «entglaubigen» und ihrer Form neues «Spiel» geben. Das Theater könnte die kontrastreichen Schwarz-Weiß-Aufnahmen ein zweites Mal belichten. Vielleicht in Farbe aufnehmen. Nicht um sie angenehmer zu machen, kommensurabler, aber um sie in ein anderes Licht zu rücken, das in Heiner Müllers raffiniertes Bescheidwissen Momente einer bewußten und wiederum zum Spiel werdenen Reflexion der eigenen Künstlichkeit einführt, die Müllers geschundenen Leibern und Leben jenseits ihrer Funktion betrachtet, ihnen wieder eine Unschuld gibt, ein Staunen, Eigensinn.
Die virtuose Sprachfickerei, die Pornografie der rhetorischen Spitzensportler können eigentlich nur lachende Frauen erlösen, Männer rivalisieren blos. Heiner Müllers Credo hieß: Der Wirklichkeit widerstehen im Namen der Wirklichkeit. Er setzte eine Form, die durch die Zeiten gehen und «anwendbar» bleiben sollte. Philoktet zum Beispiel zeigt auf vielleicht zeitlose Weise den Spielraum des Einzelnen inmitten unumgänglicher Zwänge und Paradoxien. Die Sprache sichert dabei alles - jede Lebensregung wird zum Wort und Zeichen, wird vom kreatürlichen Affekt zu rhetorischen Effekt. Kann diese Sprache befreien? Was wäre das für ein Theater, in dem Heiner Müllers Figuren jenseits der Sprache zu leben. Denn sonst wiederholt die Kunst fast wider Willen jene Sprache der Verhältnisse, gegen die sie anschreibt – Genossenton und Opfersprache.
Gibt es sie noch, die Heiner-Müller-Klassik, ein Theaterklischee, in dem junge Menschen weiß geschminkt und reglos durch die weiße Gaze frontal ins Publikum schauen und dann in geometrischen Gängen exekutieren, worin die Sprache sie bannt? Gibt es noch diese jungen Schauspieler, die Schweißerbrille mehr auf ihrem weißen Gesicht tragen und deren rote Handflächen ihr «blutiges Geschäft» bedeuten? All dieses Bedeutende - mit ihm bin ich aufgewachsen, und dass dieses Klischee verging, ist vielleicht ein Anfang. Wie die späten Gedichte von Heiner Müller immer junge Anfänge sind.
Erschienen in «Kalkfell II, Arbeitsbuch zu Heiner Müller», Theater der Zeit 2004,
Herausgegeben von Frank Hörnigk, Martin Linzer, Frank Raddatz, Wolfgang Storch und Holger Teschke
ref. für Abdruck im «Tagesspiegel»