«Niemand weint»

Peter Laudenbach: Herr Oberender, vielleicht ist der Satz, dass man keine Krise ungenutzt verstreichen lassen soll, nicht nur zynisch. Liegt in der Pandemie-Zwangspause neben allen Härten vielleicht sogar die Chance einer Neuorientierung?


Thomas Oberender: Dreißig Jahre nach der Maueröffnung leben wir wieder in einer Wende-Zeit. Agrarwende, Verkehrswende, Energiewende – überall ist plötzlich von «Wende» die Rede. Die Corona-Situation hat viele Routinen unterbrochen. Wir sind unserer üblichen Alltagslogik entrissen worden, zum Teil sehr brutal. Wir müssen improvisieren und erfinderisch sein. Wir empfinden die Not und Fragilität einer Ausnahmesituation, wir merken, wie zerbrechlich die Verhältnisse sind, in denen wir leben. In dieser Lage werden Erfahrungen von Solidarität wichtig. Die Gesichtsmasken sind eine medizinische Notwendigkeit, aber sie sind auch ein starkes Bild des gesellschaftlichen und menschlichen Zusammenhalts. Und das Virus hat uns daran erinnert, dass das Gewebe, in dem wir leben, nicht nur andere Menschen umfasst, sondern auch andere Spezies. Auch hier ist unsere Solidarität gefordert: Die Erde ist kein Supermarkt, bei dem wir endlos Waren aus dem Regal nehmen können. All das erblüht jetzt in unserem Geist, es ist wie ein Bewusstseinssturz: Wir erleben einen Augenblick des Interims, einen Zustand zwischen Nicht-Mehr und Noch-Nicht. Die Zukunft ist wirklich offen jetzt.    

- Wenn Sie für das kommende Jahr einen Wunsch frei hätten, was würden Sie sich außer dem Ende der Pandemie wünschen?

Ich möchte, dass Expertinnen des Wandels wie Maja Göpel oder der Philosoph Andreas Weber gehört werden. Sie sind Pioniere des Neulands, auf das wir alle zugehen. Leute wie Drosten waren unsere Pfadpfinder und haben einem ganzen Land Sprache und Verständnis für das Neue vermittelt. Und das ohne zu spalten und zu hetzen. Ein funktionierender Staat hat eine Schutzfunktion für das Gemeinwesen, und unserer funktioniert gut. Vielleicht ist diese Krise aber auch eine Chance für das Gemeinwesen selbst, für die Zivilgesellschaft, das Krisenmanagement nicht allein an den Staat zu delegieren. Schon vor der Pandemie gab es eine Renaissance von Genossenschaften. Der Begriff der Commons, der Allmende, der Gemeingüter, auf die alle Zugriff haben und die von der ganzen Gesellschaft getragen werden, wird wichtiger. Man muss nicht alles zur Ware machen und der Verwertungslogik des Marktes unterwerfen, weder die Parks in den Städten noch die Wasserversorgung, die Wälder, die Bildung, den Zugang zu Kultur, eine gute Krankenversorgung. Es ist ja kein Zufall, dass Länder mit einem halbwegs funktionierenden Sozialstaat besser durch die Krise kommen. Man kann zumindest darüber nachdenken, ob ein bedingungsloses Grundeinkommen der nächste logische Schritt dieser Entwicklung ist – eine Leistung, die das Gemeinwesen jedem einzelnen als Recht zur Verfügung stellt. Viele Modelle zeigen, dass das in einem reichen Land wie Deutschland durchaus finanzierbar ist.

- Was versprechen Sie sich von einem bedingungslosen Grundeinkommen – außer dem Ende der Existenzangst für Millionen Menschen?

Das wäre ja schon sehr viel. Das Grundeinkommen verändert den Arbeitsbegriff und befreit ihn von der Kopplung an Lohnarbeit. Arbeit für das Gemeinwesen sollte genauso wertvoll sein wie bezahlte Arbeit. Wer nicht für ausschließlich für Lohn arbeiten muss, kann seine Arbeitskraft auch dem Gemeinwesen zur Verfügung stellen, oder zum Beispiel die eigenen Eltern pflegen, statt das einem Pflegedienst zu überlassen. In der Krise sind plötzlich sehr viele Menschen auf die Unterstützung des Staates, also der Gemeinschaft der Steuerzahler angewiesen.