Botho Strauß: Der Gebärdensammler
Texte zum Theater
Herausgegeben von Thomas Oberender
Vorspruch:
«Ich möchte ein Gebärdensammler sein.
Ein Palimpsestleser, der bei jedem Durchschnittsmenschen
die Urschrift eines großen Lebens fand. Dafür nutze ich das
Theater als Medium im Wortsinn: das den Durchschein verkörpernde.»
Botho Strauß
Klappentext: «Die in diesem Buch veröffentlichten Texte von Botho Strauß sind der Gedankenspiegel eines Dramatikers, der nicht nur zu den meistgespielten Autoren unserer Tage zählt, sondern auch zu den meistdiskutierten und -kommentierten. Seine dramatischen Werke fordern die Kunst des Theaters ebenso heraus wie die der Betrachtung, daraus resultiert ihr Reiz. Man spürt: der Ton und Bau dieser Dramen erfordert Ergänzung. Die hier gesammelten Reflexionen geben den Stücken von Strauß und dem Medium, für das er schreibt, ein ästhetisch-politisches Geleit.»
Der Geheime. Über Dieter Sturm, Dramaturg an der Berliner Schaubühne (1986)
Der Tod des Schauspielers. Für Peter Lühr (1988)
Die Erde ein Kopf. Büchnerpreisrede (1989)
Nachruf auf Max Frisch (1989)
Der Fürstreiter. Laudatio auf Bruno Ganz (1996)
Inszenierte Erinnerung. Gespräch mit A. Gerlach über R. Noelte (1996)
Einstweh und Wiedererkennen. Beginnlosigkeit. Notizen zu Ithaka (1997)
Der Buchstabe wird Atemzug. Das Genie der Werkversessenheit. Dem Regisseur Peter Stein zum Geburtstag (1997)
Denken, Schreiben, Werden
Autor und Werk; Eine Theorie der Literatur; Es schreibt über mich; Ein Kopist!; Das Mehr eines Textes; Inniges Versehen; Ankündigung von «Trilogie des Wiedersehens»; Der Schriftsteller - Augenblicke der Schwäche; Digression; Amiel - Werk ohne Ziel; Turgenjew - Das Mehr an Wirklichkeit; Psychoanalyse; Auflösung der Grenzen; Motive und Bezüge - Hypochonder und Trilogie; Das Glück schreibt weiß; Rumor; Eine Art Fading; Was Permanenz hat; Nur die Sprache; Im Auftrag der Literatur; Fading - Das im Entwischen Erwischte; Ohne Dialektik; Dämmern; Der einzige Augenblick; Schaffen Sie mir Zugang zum Theater!; Im Aufschein-Abblitz; Viel unsinniger werden; Eine neue allegorische Lust; Verwandlungen vollziehen sich; Gestalten des Wiedererkennens; Form und Blick der Epoche; Rückkoppelungswerke; Dem ursprünglichen Äon näher; Kostbare Kristalle des Stillstands; Mythenumschrift und demokratische Intuition; In einer Sphäre der erweiterten, vielfältigen Gegenwart; Der Traum; Romantiker der elektronischen Revolution; Mythencollagen; Ein Wächter; Die Passanten gehen nach Haus - Robinson Jeffers; Formen sind das Plasma der Überlieferung - Rudolf Borchardt; Das Wort; Bouvard und Pécuchet; Odeon; Das Ganz Andere; Das real Komplexe zu verstehen; Ordnungen jenseits des soziologischen Denkens; Enttäuscht genug; Stoff der Nacht geworden; Der neue Gnostiker; Reflexionspoesie; Sie sprachen nicht; Achse der Menge; Montaigneismus heißt die Krankheit; Erschöpfung, Entfernung, Hinfälligkeit; Wörter unter sich; Undeutlichkeit; Wer spricht?; Geschichte; Literatur; Ein Gefühl der Ständigkeit; Beherrscht fort und fort; Niemand sein als der, der schrieb; Von realer Gegenwart; Denkformen; Auge und Augenblick; Das Unerwartete; Sätze mit diffusem Hof und Hall; Entrückung; Beginnlosigkeit - vorbei oder immer da; Jakobs Kampf; Verlangen nach sich selbst; Die Formen; Die Methode des Gewärtigens; Nur die Sprache; Ältere Sprache; Gegenwart als Mysterium; Wovon sich nicht erzählen läßt; Der kolossal gewordene Nebenwille; Aus Versehen; Communio; Schleifen legen; Der Idiot; Bewegungsmuster; Das Einleuchten des Augenblicks; Bis in die Aura der Frühe; Geborgen schwanken; Das Privileg des Kunstwerks; Von der Gestalt der künftigen Tragödie wissen wir nichts; Das Gleichgewicht - Geheimnis an der Oberfläche; Der Nietzsche unserer Zeit; Ohne Hamann kein Deutsch; Vor meinem Spiegelbild; Ernst Jünger; Ithaka - Der Held bleibt der Held; Ausdehnung und Fluchtung; Die Ähnlichen; Montaignade; Der Geist ist Knecht; Pathos; In der Poesie allein; Die Ablösung des Hamlet; Juvenal-Standort; Heiner Müller; I can not make it cohere; Der hohe Ton; Unsere Gedenktage sind Freizeit; Christina Campo; Rosanow; Die Allmacht der Stifter spüren; Doktor Schiwago; Ich bleibe ein protestantischer Mystiker
Das Theater als Modell und die Modelle des Theaters
Mit Schrecken dem wahren Abbild begegnen; Theater, das seinen Traum alleine trägt; Brecht heute; Fremdkörper statt Verfremdung; Peter Steins »Tasso”; Eine mythologische Interpretation des Theaters selbst; Bewußtseinstheater; Eine provisorische, durchlässige Ordnung; Die Zeitstruktur des Theaters; Realistische Immanenz; Die poetischen und emphatischen Formen; Hypochondrischer Idealismus - Kleists «Prinz von Homburg»; Einrichtung einer Gruppentotale - Labiches ”Das Sparschwein”; Wie sich Kommunikation bewegt - Gorkis »Sommergäste”; »Teatrauma”; Unüberwindliche Nähe; Ihr intimes Drama vergessen machen; Wie immer im Theater; Sie machen das Damals; Aufstand der Naiven; Das uralte Paradigma; Realität neben der anerkannten Wirklichkeit; »Lear” – Erlösung von Erlösungsideen; Von Ibsen bis Heute; Wirklichkeit sieht allemal anders aus; Medea hat recht; Nur in gebührendem Abstand; Für immer im Gespensterhaus; Maß für Maß; Das Problem der Atriden, des Ödipus; Absolute Gegenwart - und sei sie noch so synthetisch; Was ich auf der Bühne sehe; Das Gewicht der Nuance; »Troilus und Cressida” und der Esel; Versifft und versotten; Shakespeare inszeniert uns
Menschen sehen, Menschen zeigen
Gesten, hingegeben an die Auflösung; Die sogenannten darstellenden Künste; Intensivstationen der Normalität; Ein Phantom; Ein Synonym für Wünsche; Sie übertreiben; Der Mensch?; Man geht eher von Strukturen aus; Bruchteile des Ähnlichen und Allgemeinen; Formel und Fund; Der Star; Das Drahtgespinst der Psycho-Puppe; Du bist es nicht; Die heikle Forderung des Symbolischen; Nur der Form nach; Die eigentlichen Helden; Nichts ist von Dauer; Das Mit-Geschöpf; Typen sind immerwährend; Die Idee des Schauspielers; Ich krieg die Tür nicht auf; Der Fremde; Ausstrahlung; Die Stimme eines Schauspielers; Der selbstbezügliche Spieler; Das Selbst; Tschechow, Musil, Flaubert und die Auflösung danach; Der Mythos und seine Umlaufbahnen; Keiner war wer; Figuren schreiben; Vertrauen ins Gesehenwerden; Das vielfach überblendete Bild; Der Rigorist; Realisten-Reste; Mir klingt beinahe alles falsch; Zwischenträger; Straßenszene; Zawlazaw; Typocid
Der Seelenführer
Die Straße (Der junge Mann): Erstes Kapitel: Die erste Inszenierung, Abschied von Zuhause, zwei Schauspielerinnen, meine «Zofen». Zweites Kapitel: Abstieg zu den Geistern, Erste Leseprobe, Eine lange Erklärung. Drittes Kapitel: Empfindliche Blamagen, Ratschläge eines erfahrenen Regisseurs. Viertes Kapitel: Die schmerzhafte Weihe; Weißt du es nicht?
Die Macht des Vielfältigen. Medien und Film
Die Wahre Magie; Sie / Ich; Fernsehentsorgung; Mangel an Wesen; Nur der Schmerz, nie die Freude; Oshimas Film ‘Im Reich der Sinne’; Im Psycho-Labor der TV-Serie; Melville: Ambivalenzen-Herrschaft; Totale Gegenwart; Trizein; Weltzerstückelnd; Der hohe Ritus des Kinos; Ich filme; Zum Symbol unfähig; Freunde untereinander; Verfluchte, falsche Einheit; Radiovögel; Journalismus; Weltschaugewerbe; Das Regime der telekratischen Öffentlichkeit; Die Diktatur des Vorübergehenden; Elektronisches Höhlengleichnis; Medienwirtschaft; Das Virus des Ungeheimen; Pulp fiction; Breaking the waves; Leaving Las Vegas; Woman and Husbands; Unaktualisierbar geworden
Werkgeschichte
Bibliografie
Index
Die in diesem Buch versammelten Texte sind der Gedankenspiegel eines Dramatikers, der nicht nur zu den meistgespielten Autoren unser Tage zählt, sondern auch zu den meiststudierten und -kommentierten. Seine dramatischen Werke fordern die Kunst des Theaters ebenso heraus wie die der Betrachtung - aus diesem doppelten Anspruch resultiert ihr Reiz, man spürt, der Ton und Bau dieser Dramen fordert Ergänzung. So vielfach gebrochen die Partituren des Autors Strauß auch sind, sie werden zugleich durchzogen und gebunden vom Grundton eines Entwurfs. Über einen Zeitraum von mehr als dreißig Jahren hat Botho Strauß seine Arbeit für das Theater und deren Bedingungen immer wieder auf prospektive Weise reflektiert. Die hier vorgestellten Texte leiten den Blick auf den gedanklichen und poetischen Nährboden dieser Arbeit und vermitteln zudem Botho Strauß’ Ansichten von der idealen Gestalt jener Medien, die sich in seinem Schaffen vereinen: der Literatur, des Schauspielers und Theaters.
Bereits als Kritiker für Theater heute sprach Botho Strauß von dem Versuch, sich in seiner Arbeit zu «theoriebildenden Gedanken über das Theater und seine Ästhetik» anregen zu lassen. Eine geschlossenen Theorie der Theaterkunst oder Literatur ist daraus nie entstanden, vielmehr wurden die Gedanken selbst ein Teil seiner Dichtung - Bücher wie «Paare, Passanten», «Niemand anderes» oder «Beginnlosigkeit», aber auch die Dramen, Gedichte, Erzählungen und Romane des Autors sind geprägt von der «Sucht der Ideen», sind «Reflexionspoesie» selbst dort, wo sich der Dichter in der argumentativen Form der Rede oder des Essays äußert. Innerhalb seiner Reflexionen verbinden sich die unterschiedlichsten Bereiche seiner Überlegungen immer wieder übersprungsartig und bilden zwischen Anekdote und Studie, Gespräch und Beschreibung ein dichtes Feld. Im Grunde ist dieses Gewebe nicht ordnend auflösen - die Sprachkonzeption des Dichters korrespondiert beispielsweise unmittelbar mit seiner Idee vom Theater, die Auffassung vom Schauspieler als Medium mit einer bestimmten Konzeption von Geschichtlichkeit. Aus den inneren Korrespondenzen und äußeren Bezügen dieses verzweigten und beweglich gebliebenen Denkens entsteht kein Theoriegebäude, wohl aber eine dynamische Kontur, die den Autor und seiner Poetik kenntlich werden läßt.
Da die Beiträge dieses Buches werkgeschichtlich geordnet sind, kann man den Lektüre- und Gedankenweg von Botho Strauß über weite Strecken nachvollziehen: von seiner Schulung am Strukturalismus und den Schriften Foucaults über seine Rezeption naturwissenschaftlicher Erkenntnisse seit dem Beginn der achtziger Jahre bis hin zu dem sie begleitenden Interesse an dem, was «Permanenz hat» - an den Mythen und Entwürfen des Beständigen. Doch sind diese Reflexionen nicht nur theoriebildend, sondern auch in hohem Maße anschaulich, inspiriert von Beobachtungen und Begegnungen. So sind die im ersten Teil dieses Buches versammelten Arbeiten stets verbunden mit dem Wirken einzelner Personen. Es sind Porträts von Menschen, deren Besonderheit für den Dichter etwas Allgemeines offenbart. Was Botho Strauß in der Person und Arbeit dieser Einzelnen beschreibt, ist Teil eines größeren Projekts, das die Einzelnen aus ihrer Vereinzelung löst und auf Kontinuitäten hinweist, in denen sich der Dramatiker Strauß selbst entdeckt.
Den Reden, Essays und Gesprächen des ersten Teils folgt eine Sammlung von Texten und Äußerungen, die Botho Strauß’ Reflexionen zur darstellenden Kunst innerhalb seines gesamten Ouevres verfolgt und zusammenträgt. Das auf diese Weise entstandene Brevier unter dem Titel «Formel und Fund» gliedert sich in fünf Abschnitte, deren Schwerpunkt die Themenbereiche Schreiben, Theater, Schauspielkunst, Regie und Medien bilden. Obgleich eine Zuordnung der hier ausgewählten Passagen zu bestimmten Schwerpunkten durchaus möglich ist, kann keine dieser Rubriken ihr Thema erschöpfend und abschließend vertreten - so, wie die Texte des ersten Teils unmittelbar mit bestimmten Kapiteln des zweiten Teils korrespondieren, stehen auch die Kapitel des zweiten Teils untereinander in einem engen Verhältnis. Wen zum Beispiel Botho Strauß’ Gedanken zur Schauspielkunst oder zum Theater als Ort und Medium interessieren, der wird im Regiekapitel dieses Interesse vielleicht ebenso ergänzend befriedigen können wie in der Lektüre des Nachrufs auf Peter Lühr. Umgekehrt enthalten die Beiträge im Kapitel über die Modelle des Theaters die vielleicht unmittelbarsten Äußerungen des Dramatikers über seine literarischen Techniken, ihre Vorbilder und Absichten. Die Struktur der Grenzüberschreitung und Auflösung, welche die Werke von Botho Strauß von Beginn an prägt, erweist sich auch in der Form dieses Buches als unhintergehbar: Aus den isolierten, ihr Thema überaus genau formulierenden Passagen, die sich durch die Nachbarschaft zu anderen Überlegungen scheinbar lose zu Themenkreisen fügen, ergeben sich plötzlich übergreifende Zusammenhänge, die in einer treffenden Wendung oder überraschenden Assoziation sehr wohl die Ganzheit eines Entwurfs aufscheinen lassen, sich aber nie zu einer Einheit fügen. Versehentliche Entdeckungen sind hier die Absicht.
«Der Gebärdensammler» wendet sich an die Liebhaber und Leser des Dramatikers Botho Strauß, insbesondere an Schauspieler, Regisseure, an Dramaturgen und Schreibende. Erstmals liegt nun eine Textsammlung vor, die das »Nebenwerk” dieses Autors im Hinblick auf das Theater dokumentiert und in seiner Entwicklung vorstellt. Dieses »Nebenwerk” ist vom dramatischen Werk des Autors Strauß nicht zu trennen, zum Teil sogar ihm eingeschrieben und entnommen. Doch zugleich läßt es sich auch als eine lange, nie ablassende oder sich gänzlich richtende Gedankengeschichte lesen, die ihren Leser nicht zuletzt durch ihre eigene Schönheit gewinnt und hinüberzieht in die Welt der Vorstellungen.
Thomas Oberender